Als am 20. Juli in Berlin die „Löwenjagd“ losging, haben wir uns von Anfang an auf eine klassische Sommerloch-Phantomsichtung festgelegt – was uns zunächst durchaus Kritik einbrachte.
Heute veröffentlicht Welt am Sonntag die Einsatzprotokolle der Polizei Berlin und der Gemeinde Kleinmachnow:
Sie beinhalten auch die Mitschriften der Einsatzleitzentrale, die die Notrufe entgegennahm, sowie Bürgerhinweise, die über ein Online-Formular eingingen.
Benjamin Stibi erzählt in der WamS exklusiv „eine Geschichte mit falschen Fährten und wildem Aktionismus“ – und „wie Panik den Verstand besiegte“.
Und so fing es an:
02:12 Uhr Auf Twitter postet der User @lqzze1 ein Handyvideo. Zu sehen: ein Baum am Straßenrand im Scheinwerferlicht eines Autos, vor dem Baum die Konturen eines löwenartigen Tieres, das etwas zu verschlingen scheint. Das Video habe ein Freund um Mitternacht aufgenommen und anschließend die Polizei verständigt, so @lqzze1.
In den Morgenstunden wird das Tier dann auch von einer Polizeistreife gesichtet, „auf 20 m Entfernung ohne Zweifel“, heißt es im Einsatztagebuch. Die Jagd beginnt. Als Kleinmachnow erwacht und die Geschichte von dem Löwen die Runde macht, häufen sich die Notrufe.
Nach Informationen des Tagesspiegel ereignete sich diese „Sichtung“ von zwei Polizeibeamten um drei Uhr nachts – also in völliger Dunkelheit und zudem aus einer erheblichen Distanz.
Wie man daraus sofort und „ohne Zweifel“ die reale Existenz eines Löwen in freier Berliner Wildbahn stricken kann, bleibt das Geheimnis der örtlichen Polizei. Wahrnehmungspsychologie gehört dort anscheinend nicht zur Ausbildung.
Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: Sobald die „Sichtung“ amtlich zum Faktum erklärt wird, sieht praktisch jeder Spaziergänger überall Löwen.
Den Protokollen zufolge geht der erste Anruf bereits um 7.30 Uhr ein. Gesehen hat die Anruferin im Grunde nichts, die Rede ist lediglich von „Geräuschen“ und einem „wackelnden Gebüsch“ und dass „etwas“ von der Frau „weggesprungen“ sei.
Eine reine Luftnummer also – aber selbstgewiss rekurriert die Anruferin darauf, dass sie sich auskenne und es sich auf keinen Fall um ein Reh oder Wildschwein gehandelt haben kann.
Wieso nicht? Das bleibt völlig offen. Anscheinend fragt auch keiner nach.
Ähnlich gehaltvoll die nächsten Anrufe ab 7.52 Uhr.
Ein Augenzeugenbericht dreht sich vage um ein „großes gelbliches Tier“, ein anderer um ein „sandfarbenes helles Tier“, beim nächsten Telefonat geht es nur darum, dass der Haushund beim Gassi gehen irgendwie „panisch“ reagiert, andere berichten von einem „verdächtigen Wildtiergeruch“ oder dass „etwas Gelbes durch den Garten“ flitzt.
Die Highlights:
21:04 Uhr Der Drohnenführer meldet ein Tier, das in Richtung Autobahn läuft.
21:29 Uhr Es war nur ein Reh.
23:17 Uhr „Frau mit Kindern hat ein großes Tier gesehen und traut sich nicht vom Auto ins Haus.“
01:37 Uhr Aus Berlin-Zehlendorf melden „2 unabhängige Anrufer Löwengebrüll“.
01:40 Uhr Über den Polizeifunk kommt die Meldung, dass ein Auto auf einer Shell-Tankstelle in Berlin-Zehlendorf „Löwengebrüll abspielt.“
Ermittlungen bei Zirkussen, wie Rogall und Berolina, bleiben ohne Ergebnis. Aufkommende Gerüchte, der Löwe sei dem Remmo-Clan entlaufen, verweist das LKA ins Reich der „Provokation und Wichtigtuerei“.
Obwohl es also praktisch keinen ernstzunehmenden Hinweis auf ein reales Raubtier gibt, ist die Berliner Polizei mit 300 Beamten im Einsatz, die Polizei von Brandenburg mit 250, Drohnen und ein Hubschrauber steigen auf, um nach der Großkatze Ausschau zu halten.
Erst am Freitagmorgen (21. Juli) setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es sich bei der „Löwin“ auf dem Video um nichts weiter als „ein Schwarzwild in Sommerdecke“ handelt:
Am frühen Nachmittag wird der Polizeieinsatz beendet.
Allerdings reißen die Löwenmeldungen natürlich nicht ab, sodass
… der Fokus sich nun darauf richtet, die Bevölkerung zu überzeugen, dass es nie einen Löwen gegeben hat.
Genauso gut kann man versuchen, verstreute Federn wieder einzusammeln.
Am Ende fragt Benjamin Stibi auch nach den Kosten für das 40-stündige Spektakel. Die seien nicht zu beziffern:
Keine Ahnung, so die Antwort der Polizei.
Schätzungen gehen von „mehreren 100.000 Euro“ bis in die Millionen aus. Was soll man dazu noch sagen, außer:
Einfach unbezahlbar, dieses Sommermärchen.
Der neue Skeptiker (3/2023) kostet nur sieben Euro. In dem Artikel „Ungeheuer in unseren Köpfen – Warum Kryptiden nur in unserer Vorstellung leben“ von Georgy Kuakin heißt es:
Schlechte Wetterbedingungen, Nebel, große Entfernungen und Wahrnehmungstäuschungen können fast jedes Objekt als Monster erscheinen lassen.
Zum Weiterlesen:
- Sommerloch-Alarm: Der Löwe ist los – endlich wieder mal, GWUP-Blog am 20. Juli 2023
- Löwenjagd-Protokolle: Wie in Berlin die Panik den Verstand besiegte, welt+ am 24. September 2023