gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Therapiefreiheit ist kein Freibrief für Betrug: Haftstrafen im Ingolstädter Heilpraktiker-Prozess

| 9 Kommentare

Im Heilpraktiker-Prozess von Ingolstadt ist heute das Urteil gefallen:

Die Heilpraktikerin und der Ingolstädter Unternehmer sind beide für schuldig befunden worden. Das Gericht ordnet drei Jahre Haft für die Schrobenhausenerin und insgesamt gut sechs Jahre für den Unternehmer an.

Den deutlichen Unterschied in den Strafmaßen begründete der Vorsitzende damit, dass der Unternehmer als „Initiator des betrügerischen Geschäfts“ die Heilpraktikerin „in seine Vertriebsstruktur eingebunden“ habe.

Zur Erinnerung:

2019 berichtete Stern-TV über eine Krebspatientin, die sich von der besagten Heilpraktikerin in Schrobenhausen (Bayern) ein „Wundermittel“ aus Wasser, Zucker, Aminosäuren und Proteinen namens BG-Mun für 5900 Euro pro Packung aufschwatzen ließ und dafür ihre Chemotherapie abbrach.

Die Patientin starb im Juli 2019 mit 52 Jahren.

Nach der Ausstrahlung des Fernsehbeitrags verhängte das Landratsamt ein Berufsverbot gegen die Heilpraktikerin und die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf. Seit dem 18. Juni 2021 standen die Heilpraktikerin und der Hersteller beziehungsweise Vertreiber von „BG-Mun“ wegen gewerbsmäßigen Betrugs (in 17 bzw. 18 Fällen) und Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz vor Gericht.

Wie der Vorsitzende Richter Konrad Kliegl betonte, haben die Patienten bis zu rund 6000 Euro für das Mittel gezahlt. Es sei den Patienten vorgegaukelt geworden, dass mit dem Präparat binnen kurzer Zeit Krebs geheilt werden könne und es sich um ein richtiges Arzneimittel handele. Tatsächlich war das Mittel nicht als solches zugelassen. Die Versprechungen seien „falsch beziehungsweise frei erfunden“ gewesen, betonte der Richter.

Therapiefreiheit sei kein Freibrief für Betrug.

Nach der Urteilsverkündung im „bisher längsten Prozess in der Geschichte des Landgerichts Ingolstadt“ (Kliegl) ließ die Verteidigung offen, ob die Beklagten in Revision gehen.

Zum Weiterlesen:

  • Haftstrafen in Prozess zu wirkungslosem Krebsmittel, stern.de am 16. Juni 2023
  • Wirkungslose Krebsmittel verkauft: Haft für Heilpraktikerin aus Schrobenhausen, Augsburger Allgemeine am 16. Juni 2023
  • Haftstrafen im Heilpraktiker-Prozess: So urteilte das Landgericht Ingolstadt, donaukurier am 16. Juni 2023
  • Ende einer „Posse“: Der Heilpraktiker-Prozess von Ingolstadt vor dem Urteil, GWUP-Blog am 2. April 2023
  • Video: Stern-TV mit der Chronik eines Heilpraktiker-Skandals, GWUP-Blog am 27. Juni 2021
  • Nach „stern TV“: Landratsamt entzieht BG-Mun-Heilpraktikerin die Zulassung, GWUP-Blog am 9. Oktober 2019
  • Stern-TV-Video: Tödliche Abzocke bei der Heilpraktikerin mit einem Krebs-„Wundermittel“, GWUP-Blog am 29. September 2019

9 Kommentare

  1. Ich bin ja nicht pingelig, aber bei „ob die Beklagten Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen oder in Revision gehen“ ist das „oder“ falsch. Die Beklagten haben nur die Möglichkeit einer Revision.

    Ein sehr interessanter Fall. Die Verteidigung vertrat die Meinung, dass es kein Heilversprechen gab, die Staatsanwaltschaft hielt dagegen, dass auch Heilpraktiker nicht lügen dürfen.

    Eine Aufarbeitung dieser Verhandlung wäre nicht unwichtig.

  2. @Hendrik Endres:

    Danke, ich ändere es.

  3. Ich finde das Urteil falsch.
    Der Hersteller muss länger ins Gefängnis als diejenige, die ihre Vertrauensbasis schamlos ausnutzt um den Leuten den unwirksamen Kram dann auch tatsächlich anzudrehen?
    Die Begründung verstehe halte ich nicht für schlüssig.

    Aber gut, immerhin gab es ein Urteil gegen beide.

  4. Hier wurde ein Auswuchs der Heilpraktikerei als Betrug beurteilt, und das mit recht hohen Haftstrafen. Jetzt wäre interessant, wo denn die rechtliche Grenze liegt für die allgegenwärtigen Heilsversprechen der Branche und ihre abstrusen „Therapien“.

    Frage für einen befreundeten Homöopathiekritiker.

  5. Aus einem Beitrag des „Ingolstadt Reporters“:

    „Um die Täuschung gegenüber den Patienten zu vertiefen, habe die angeklagte Heilpraktikerin einen Professorentitel geführt, wozu sie nicht berechtigt gewesen sei. Der Titel sei ihr von einer kirchlichen Institution in den USA verliehen worden, die der angeklagte Unternehmer gegründet habe, und bei der es möglich gewesen sei, gegen Bezahlung Titel und sogar eine Heiligsprechung zu erwerben.“

    https://www.ingolstadt-reporter.de/regionales/ingolstadt/heilpraktikerin-zu-3-jahren-gefaengnis-verurteilt

    Eine Heiligsprechung ist ein kirchenrechtlich geregelter Vorgang. Ob die katholische Kirche darauf so etwas wie ein Copyright hat?

  6. Wie ich früher schon zu diesem Thema ausführte:

    Eine „Fehlbehandlung“ wurde hier weder verhandelt (wenn auch angesprochen) noch ausgeurteilt, wenn sie auch stets als unsichtbarer Elefant im Raum stand. Die ausgeurteilte Betrugshandlung liegt im finanziellen Aspekt.

    Damit sitzt ein weiteres Mal auch hier der Gesetzgeber mit auf der Anklagebank, der es zulässt, dass eine Laienheiler-Parallelmedizin existiert, als „Ausübung der Heilkunde ohne Approbation“ gesetzlich legitimiert ist und damit falsches Vertrauen bei den PatientInnen und die Hybris einer tatsächlichen Qualifikation bei den HeilerInnen verursacht.

    Im Kern gilt daher in diesem Fall das Gleiche, was ich zum Fall Klaus R. aus Brüggen-Bracht auf meinem Blog ausgeführt hatte:

    https://scienceandsenseblog.wordpress.com/2019/07/17/der-gesetzgeber-und-die-anklagebank-in-krefeld/

    Wir können nur hoffen, dass in Berlin Fälle wie dieser auch einmal zur Kenntnis genommen werden. Was dort in Sachen Heilpraktiker-Neuregelungen möglicherweise in Bewegung ist (das Wort „Reform“ vermeide ich lieber gleich), das ist eine Black Box, trotz all meiner Bemühungen, mehr zu erfahren. Gutes erwarte ich allerdings nicht unbedingt.

    Was wichtig ist: die Schwelle für die „Abzocke“ ist in diesem Falle einmal relativ niedrig (ja, durchaus) angesetzt worden. Als die ersten Urteile gegen Scharlatane (zunächst waren es Geistheiler) ergingen, die den Betrugstatbestand fokussierten (Geistheiler- und Wahrsagerinnenurteil LG Hamburg), wurde die Betrugsschwelle weit höher angesetzt.

    Das lässt darauf schließen, dass die Richter in Ingolstand liebend gern auch den eigentlichen Vorgang der Fehlbehandlung abgeurteilt hätten. Da kann man aber lamentieren, so viel man will: es ist systemimmanent, dass der Betroffene nur zu versichern braucht, er sei von der Segenskraft des Mittels tief überzeugt gewesen. Das lässt auch jedes obiter dictum des Gerichts, dass ein HP auch nicht lügen dürfte, verpuffen.

    So sollte mal ein approbierter Mediziner nach einer Behandlung mit einem nicht zugelassenen Fantasiemittel vor Gericht aussagen … es gäbe Tumult. Und das ist eben der Unterschied zwischen Arzt und HP.

    Btw: ein Webfehler im System ist zweifellos auch die Schwierigkeit, einem/einer HP die Zulassung zu nehmen. Das liegt vor allem daran, dass ja schon das Zulassungskriterium, mit dem das Elend anfängt, viel zu unbestimmt ist.

    Und dass der Entzug dann eh nur für den räumlichen Bereich der jeweiligen Gesundheitsbehörde gilt, macht die Sache zu einem schlechten Witz.

  7. @ Christian Becker

    „Aber gut, immerhin gab es ein Urteil gegen beide!“

    Genau, dass muss man ja heutzutage – bei oft viel zu häufig seltsamen Gerichtsurteilen zugunsten von zurecht Angeklagten – schon als Erfolg verbuchen.

    Wobei ich empfinde, dass (ganz allgemein betrachtet), in Süddeutschland Richter (innen) ihre Arbeit besser machen als (i.d.R.) in Berlin oder NRW.

  8. @Lisa-Marie:

    In NRW haben die Gerichte z.B. im Falle des HP Klaus R. oder auch im Falle des betrügerischen Apothekers, der Krebsmedikamente gepanscht hatte, sich sehr viel Mühe gegeben und getan, was sie tun konnten.

    Ich habe beide Verfahren selbst beobachtet. Man hat in beiden Fällen den Gerichten angemerkt, dass sie liebend gern über die Urteilssprüche, die das Maximum der Rechtslage waren, hinausgegangen wären. Ging aber nicht …

    Ausgelöst wurde der Gedanke, solche Leute wenigstens wegen materieller Betrugstatbestände am Kragen zu nehmen, übrigens vom LG Hamburg (siehe oben).

  9. Aus NRW habe ich noch LG Do Az. 37 Ks 3/11.

    Das war der Fall einer Hebamme die Hausgeburten auch in schwierigen Fällen durchführte. Ein Fall konnte ihr nachgewiesen werden und sie wurde 2014 wegen Todschlag zu sechs Jahren und neun Monaten verurteilt.

    Hier mal die Geschichte aus der Urteilsbegründung:

    http://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/dortmund/lg_dortmund/j2014/37_Ks_3_11_Urteil_20141001.html

    Eher eine Sache von übermäßigen Ergeiz. Aber die doch arg verschwurbelte Hausgeburtmafia wurde seinerzeit durch die Verhandlung und das Urteil ordentlich aufgewühlt.

    Die Verhandlung gegen einen seltsamen Arzt sollte heute am LG Augsburg starten. Aber der Angeklagte blieb fern.

    Es geht um einen Arzt der Impfungen gegen Corona vorgetäuscht hat. Möglicherweise hat er auch bei Schutzimpfungen gegen Massern gefudelt.

    https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-scheinimpfung-haftbefehl-gegen-hausarzt-aus-wemding,Th3r7jk

    Die Wahrnehmung, dass im Süden die Richter ihre Arbeit „besser“ machen, kann daran liegen, dass zur Zeit im Süden mehr auffällige Prozesse laufen.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.