Ein Gastbeitrag von Stefan Uttenthaler, Anne Frütel und Sebastian Schnelle
In einem im August 2025 auf futurezone.at veröffentlichten Artikel vertritt Florian Aigner die Meinung, Cancel Culture sei nur ein Mythos. Bei dem, was als Cancel Culture beschrieben wird, handle es sich laut Aigner vielmehr um “Feedback“ an lautstarke, in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeiten, die ihre politisch unkorrekte Meinung hinausposaunen möchten und die die im Feedback enthaltene Kritik zur Opfer-Selbstinszenierung für höhere Klickzahlen nutzen würden. Die einzige wirkliche Gefahr sind für Aigner autoritäre Systeme wie in Russland, Ungarn oder seit neuestem in den USA, die die freie Meinungsäußerung und die Wissenschaftsfreiheit nur in eine Richtung, nämlich von oben nach unten, unterdrücken würden. Wir wagen eine Replik.
In seinem Artikel “Man darf ja nichts mehr sagen!“ in der Futurezone schreibt Aigner, Cancel Culture, insbesondere “woke“ Cancel Culture, sei ein “Mythos“, für den es keine Belege gäbe. Immer mehr Fernsehstars, Professoren und Comedians würden zu dem Trick greifen, zu behaupten, sie dürften nichts mehr sagen und seien Opfer einer „politisch korrekten Meinungsdiktatur“ (Anführungszeichen im Original). “Man attackiert benachteiligte Minderheiten, und wenn man dafür attackiert wird, erklärt man sich selbst zur benachteiligten Minderheit“, so Aigner. Er verweist zwar auf die Liste von Unterdrückungsfällen, die vom Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NWF) geführt wird, findet diese Fälle aber offenbar nicht überzeugend. Stattdessen zieht er Vergleiche mit Pseudowissenschaftern und Verschwörungstheoretikern wie Sucharit Bhakdi, Daniele Ganser und Andrew Tate, die “als Medien-Star oder Uni-Professor Kritik einstecken“ müssten. Das sei keine Cancel Culture, sondern “Feedback“.
Auf Bluesky setzte er kurz darauf noch eins drauf und verteidigte seinen Artikel. Die vom NWF gesammelten Fälle seien “verblüffend harmlos“, da es nicht zu Zensur, Gewalt oder Berufsverbote gekommen sei. “Bloße Kritik an einer Aussage ist kein Canceln.“, schreibt Aigner. Denjenigen, die eine Cancel Culture konstatieren, ginge es nur darum, “ohne Konsequenz politisch inkorrekt herumpoltern zu können“. In einem anderen Bluesky-Thread, den er Steven Pinker widmet, pathologisiert Aigner sogar Menschen, die über Cancel Culture lamentieren, und empfiehlt ihnen mit der Frage “Ist die Cancel-Culture hier bei uns im Raum?“ implizit, sich bei einem Therapeuten auf die Couch zu legen.
Wir sind der Ansicht, dass Florian Aigners Sicht auf die Dinge zu einfach ist, er Cancel Culture verharmlost und man sie nicht einfach leugnen kann. Dieser Artikel soll dies analysieren.
Was versteht man unter Cancel Culture?
Ein guter Startpunkt für unsere Analyse ist die Wikipedia. Sie wartet mit einem gar nicht so kurzen Artikel über Cancel Culture auf. Laut Wikipedia ist Cancel Culture, “ein politisches Schlagwort, das systematische Bestrebungen zum partiellen sozialen Ausschluss von Personen oder Organisationen bezeichnet, denen unliebsame Aussagen beziehungsweise Handlungen vorgeworfen werden.” Etwas plastischer beschrieben wird die Natur der Cancel Culture weiter unten: “Cancel Culture [geht] es nicht darum, offene Debatten zu führen und provokante Behauptungen sachlich zu widerlegen, sondern darum, ihre Urheber zu diskreditieren.“ Anders als von Aigner dargestellt, kann Cancel Culture sehr wohl auch nicht privilegierte Persönlichkeiten treffen: “Des Weiteren wird kritisiert, dass die Praktiken, die sich unter dem Begriff Cancel Culture subsumieren lassen, nicht nur Reiche und Mächtige treffen können, sondern auch weniger bekannte Persönlichkeiten sozialer Medien, die möglicherweise selbst marginalisierten Gruppen angehören, und für die anhaltend negative bis belästigende Kommentare in sozialen Medien ernsthafte psychische und ökonomische Folgen haben können.” Solche Beispiele aus unserem Umfeld geben wir weiter unten. Die Wikipedia versammelt etliche Beispiele von Vorfällen, die im öffentlichen Diskurs als Cancel Culture bezeichnet wurden; sie sind jedoch nicht notwendigerweise idealtypische Beispiele dafür. Bei einzelnen Fällen mag man streiten, ob sie als Cancel Culture gelten mögen oder nicht, und ebenso kann man über die Frage debattieren, ob das ein zunehmender Trend ist. An keiner Stelle jedoch zieht die Wikipedia in Zweifel, ob die damit gemeinten Gepflogenheiten ein reales Phänomen in heutigen Gesellschaften sind.
Den Unterschied zwischen Kritik und Cancel Culture hat André Sebastiani im Artikel “Kritisierst Du noch, oder cancelst Du schon? Warum wissenschaftlicher Skeptizismus freien Diskurs braucht” erläutert. “Von Cancel Culture spricht man, wenn es in einem sozialen Umfeld üblich geworden ist, zu canceln, das heißt, Menschen mit abweichenden Auffassungen aus dem Diskurs auszuschließen”. Das Prinzip lautet: “Wer cancelt, verweigert sich der rationalen Diskussion und versucht stattdessen, Meinungsäußerungen Anderer entweder zu verhindern oder mit so hohen Kosten zu belegen, dass diese freiwillig schweigen.” In einer Tabelle werden die wichtigen Unterschiede zwischen Kritik und Cancel Culture übersichtlich zusammengefasst. Um es mit Sebastiani zu sagen: “Der fundamentalste Unterschied liegt wohl in der Einstellung: Wer rational kritisiert, dem geht es nicht darum, eine Person zum Schweigen zu bringen. Wer kritisiert, ist tolerant, stellt Fragen, hört wohlwollend zu und sucht genuin nach Antworten. … Rationale Kritik ist damit das Grundprinzip der Wissenschaft und mithin des wissenschaftlichen Skeptizismus. Cancelling ist das Gegenteil davon. Es zielt darauf ab, denjenigen, der abweichende Meinungen vertritt, zu isolieren und zu bestrafen.” Durch die Atmosphäre der Einschüchterung geht der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ verloren, wie es der deutsche Philosoph Jürgen Habermas einmal treffend formulierte.
Cancel Culture ist auf keine bestimmte politische Richtung beschränkt. Die Republikaner unter Donald Trump waren (und sind) sehr “erfolgreich“ darin, solche Methoden anzuwenden, um abweichende Ansichten zu isolieren und auszuschließen. Aber auch die Linke kennt autoritäre Tendenzen, die sie unter ihresgleichen anwendet. Der österreichische Journalist und Autor Robert Misik, der als politisch links eingeordnet werden kann, hat die Existenz einer Cancel Culture in linken Kreisen längst eingeräumt und sie treffend beschrieben. “Ein Vorwurf der Gegner, der sich leider nicht einfach weg-bestreiten lässt“, gesteht er.
Aus diesen Überlegungen wird bereits ersichtlich, dass, anders als von Aigner dargestellt, die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung nicht nur von oben nach unten, vom Staat auf den Bürger, sondern auch zwischen den Bürgern, also horizontal, ausgeübt werden kann. John Stuart Mill schrieb bereits 1859 in seinem klassischem Werk On Liberty, dass nicht nur die politisch Beauftragten, also der Staat, eine “Tyrannei” ausüben könne, sondern dass auch die Gesellschaft ihre eigenen, ungeschriebenen und unvernünftigen Befehle erlassen kann, die noch viel tiefer und unentrinnbar in das Private eingreifen, also eine “soziale Tyrannei” ausüben. Freilich hat ein Staat ganz andere Mittel und Möglichkeiten als seine Bürger zur Verfügung, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken. Das bedeutet jedoch nicht, dass die von den Bürgern untereinander angewandten Mittel weniger effektiv und folgenreich wären.
Wo Aigner recht hat
Florian Aigner hat definitiv recht mit seiner Analyse der Meinungsunterdrückung in autoritären Systemen wie in Russland, Ungarn oder den USA spätestens seit der zweiten Amtsübernahme von Donald Trump. Diese Entwicklungen gehören ohne Zweifel zu den großen Bedrohungen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, die wir in unseren Tagen erleben, und es ist höchst angebracht, darüber zu schreiben und zu reden. Als durchschnittlicher Mitteleuropäer kann man gegen diese Form der Meinungsunterdrückung nur leider sehr schwer selbstwirksam werden.
Es stimmt auch, dass “Fernsehstars, Professoren oder Comedians“ – man könnte auch allgemein von durchaus privilegierten Menschen sprechen – von öffentlicher Kritik oder (vermeintlicher) Cancel Culture in Form von höheren Klick- oder Verkaufszahlen ihrer Produkte profitieren können, wobei keineswegs gesichert ist, dass sie das auch tatsächlich tun werden. Und selbst wenn es so sein sollte, ist keineswegs klar, ob das damit zu tun hat, dass sie sich als Opfer inszenieren, oder schlicht daher rührt, dass es sich um bekannte Persönlichkeiten handelt und solche Fälle öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Für uns soll diese Frage aber sekundär sein.
Wo Aigner Unrecht hat
Sehr wohl kann man hierzulande aber etwas gegen Cancel Culture tun. Das würde damit beginnen, dass man sie nicht verharmlost. Aigner nennt in seinem Artikel die vom NWF1 zusammengetragene Liste von dokumentierten Fällen aus dem deutschsprachigen Raum. Aigner verklinkt die Liste in seinem Artikel nicht, was den Lesern die Prüfung seiner Aussagen erleichtern würde. Ein recht zufälliger Blick auf die Liste fördert folgende Fälle zutage: Ein Professor, der sich wegen einer als rassistisch missinterpretierten Vorlesungsfolie einem Shitstorm von Studenten ausgesetzt sieht, der in Morddrohungen gipfelt; ein aufgrund von Studentenprotesten für Monate gestopptes Habilitationsverfahren, weil der Habilitand Jahre früher eine Erklärung gegen illegale (!) Masseneinwanderung unterschrieben hat; eine abgesagte Präsentation eines Tagungsbandes aufgrund von Drohungen, die sehr wahrscheinlich von der aserbaidschanischen Botschaft gestreut wurden; etc. Alles harmlos? Insbesondere seit Oktober 2023 häufen sich dokumentierte Fälle, in denen Personen mit israelischem bzw. jüdischem Hintergrund betreffen, sodass man antisemitische Beweggründe der Aktivisten vermuten kann – alles harmlos? Das NWF verlinkt auf seiner Seite entsprechende Listen von dokumentierten Fällen aus den USA und Kanada sowie aus Großbritannien, die keineswegs minder bedenklich sind und auch Fälle umfassen, bei denen Wissenschafter ihre Posten verloren haben.
Aigners Kritik am NWF ist an der Stelle unredlich, wo er suggeriert, dass das NWF sich darüber beschweren würde, dass eine Fachzeitschrift (gemeint ist Nature) von ihren Autoren fordern würde, die Würde und Rechte von Menschengruppen zu achten. Vielmehr kritisiert das NWF jedoch, dass Nature vorgibt, wie Autoren Begriffe wie „Gender“ zu verwenden haben. Und das, obwohl Nature in den Richtlinien schreibt, wie sehr alles im Fluss ist und die Begriffe selbst Gegenstand der Forschung sind. Die von Aigner zitierte Stelle über die Menschenwürde hingegen findet sich in den ethischen Richtlinien 20 Absätze weiter oben und hat mit der spezifischen Kritik des NWF nichts zu tun.
Das NWF dokumentiert nur Fälle von Cancel Culture im Wissenschaftsbetrieb. Methoden zur Unterdrückung unliebsamer Meinungen gibt es jedoch auch in anderen Bereichen, z.B. im Kulturbetrieb. Jüngst etwa wurde ein Beitrag der Autorin Gertraud Klemm vom Leykam-Verlag aus einer Anthologie gestrichen, nachdem andere Autorinnen gegen sie protestiert hatten, weil Klemm Jahre zuvor (für einige als umstritten angesehene) Aussagen zum Begriff “Frau“ und über Feminismus getätigt hatte. Der Fall schlug in Österreich auch öffentliche Wellen.
Neben unstrukturierten Listen dokumentierter Fälle gibt es mittlerweile wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Phänomen Cancel Culture beschäftigen und es detailliert analysieren. Vor allem im angloamerikanischen Raum wird mittlerweile so viel daran geforscht, dass sogar Forschung über Forschung an Cancel Culture betrieben wird. So analysierte Gergely Ferenc Lendvai in seinem Artikel “More Than Just a Buzzword—Mapping the Evolution of Research on Cancel Culture in Social Sciences“ die Entwicklung, Themen und Sichtbarkeit der Forschung zu Cancel Culture. Allein im Jahr 2023 wurden über 100 sozialwissenschaftliche Artikel zu dem Thema veröffentlicht, und selbst in Entwicklungsländern wird wissenschaftlich daran geforscht.
Im Jänner 2025 wurde die Konferenz Censorship in the Sciences: Interdisciplinary Perspectives an der University of Southern California in Los Angeles abgehalten. Sie beschäftigte sich nicht mit staatlicher Zensur, sondern mit der Unterdrückung von wissenschaftlicher Forschung und ihrer Ergebnisse auf der Grundlage, dass das generierte Wissen irgendwie gefährlich oder unerwünscht sein oder gegen moralische, politische oder religiöse Ansichten oder andere Werte und Einstellungen irgendeines Teils der Bevölkerung verstoßen könnte – also genau das, was man landläufig unter Cancel Culture versteht. Die YouTube-Videos der Vorträge sind auf der Konferenzwebsite verlinkt und die Beiträge wurden in einem Tagungsband im Journal of Controversial Ideas publiziert. Wenn Cancel Culture nur ein Mythos ist, sind dann all diese Wissenschafter Pseudowissenschafter?
An diesem Punkt dürfte bereits hinreichend klar sein, dass es Cancelling gibt, sowohl im anglo-amerikanischen als auch im deutschsprachigen Raum. Es geht nur noch um die Frage, ob es eine Cancel “Culture” gibt, dass also von einer “Kultur”, einer gesellschaftlichen Gepflogenheit, einem Usus gesprochen werden kann.
Cancel Culture in unserem Umfeld
Fälle von Cancel Culture können wir auch aus unserem Umfeld im Engagement der Skeptiker berichten. Wir zitieren z.B. aus dem weiter oben verlinkten Artikel von André Sebastiani: “Im Jahr 2022 wurde der Kölner Forensiker Cornelius Courts für einen Vortrag zu den Skeptics in the Pub Köln eingeladen – und dann wieder ausgeladen. In der E-Mail-Absage an Courts wurde die Ausladung mit dessen Mitgliedschaft im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit begründet, die, so der Text der E-Mail, „ein Problem für uns“ darstelle. Pure Ironie, denn das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit existiert überhaupt nur, weil Cancelling dieser Art leider vorkommt. Courts ist dort Mitglied, um ein Zeichen gegen Cancel Culture zu setzen – und wird dafür selbst gecancelt.“ Courts berichtet in einem Gespräch auf YouTube von den Vorfällen.
Unser Skeptiker-Kollege und Transmann Till Randolf Amelung berichtet im Blog von Queer Nations über den Fall Sigi Lieb. Lieb gibt Workshops über gendersensible Sprache und man kann von ihr wohl sagen, dass sie besonders rücksichtsvoll für die Bedürfnisse von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten ist. Unter anderem ist sie der Meinung, dass eine offene Debatte über Interessenskonflikte zwischen Frauenrechten, Homosexuellenrechten und Transrechten geführt werden soll und diese Debatte nicht den rechten Medien überlassen werden soll. Allein diese vorsichtige Aussage reicht Teilen der Transaktivistas, Lieb als “transphob“ zu bezeichnen und sie bei ihren Auftraggebern anzuschwärzen und zu diffamieren. Mit “Erfolg”: Manche Auftraggeber lassen sich davon beeindrucken und haben Lieb die Aufträge entzogen. Die Unterdrückung von Liebs unliebsamer Meinung hat also handfeste ökonomische Konsequenzen, sodass sie um ihre wirtschaftliche Existenz bangen muss – von der psychischen Belastung ganz zu schweigen. Dieser Fall zeigt eindrücklich, dass entgegen Aigners Darstellungen eben nicht immer die eh gut abgesicherten, privilegierten Persönlichkeiten im Rampenlicht mit vielen Followern betroffen sind, sondern auch wenig bekannte Menschen, die nicht davon profitieren können, öffentlich in die Opferrolle zu schlüpfen. Zu Fällen wie diesen würde uns die konkrete Haltung von Aigner interessieren. Inwiefern ist das keine Cancel Culture?
Amelung selbst ist ebenfalls von Cancel Culture betroffen. Er berichtet, dass sein Arbeitgeber E-Mails bekommt, in denen Amelung wegen seines Aktivismus attackiert wird. Ebenso bekommen Event-Veranstalter, die mit ihm etwas organisieren möchten, solche E-Mails. Das wenigste davon passiert öffentlich. Als konkretes Beispiel aus 2020 sei erwähnt, dass Amelungs Arbeitgeber angeschrieben wurde, dass er angeblich die AfD verharmlosen würde, weil er sich in einem Artikel von 2016 (!) auf einen Blogeintrag im rechten Jugendmagazin “Blaue Narzisse“ bezog. Wohlgemerkt distanzierte sich Amelung im selben Absatz deutlich erkennbar von der AfD und dem rechten Magazin. Zum Glück erkannte sein Arbeitgeber die Vorwürfe als haltlos. Mehr als unangenehm sind solche Vorkommnisse allemal.
Cancel Culture in Aigners Umfeld
Obwohl Aigner Cancel Culture zu einem Mythos erklärt, war er bzw. das von ihm mit organisierte Goldene Brett vorm Kopf 2023 den Auswirkungen einer Cancel Culture ausgesetzt. Damit ist nicht (nur) gemeint, dass die Veranstaltung im Wiener Stadtsaal einer massiven Störaktion von vorwiegend aus dem linken Milieu stammenden Impfgegnern ausgesetzt war und Aigner sogar tätlich attackiert wurde, als er ein Handyfoto machen wollte. Damit ist vor allem gemeint, dass im Vorfeld der Verleihung der Stadtsaal in einer E-Mail ebenfalls von einem impfgegnerischen Aktivisten aufgefordert wurde, von der Abhaltung der Veranstaltung “Abstand zu nehmen“, und nach der Veranstaltung eine der Laudatorinnen bei ihrem Arbeitgeber angeschwärzt und von ihm eine öffentliche Distanzierung gefordert wurde. Auch wenn die Versuche in diesem Fall glücklicherweise folgenlos blieben, die einschüchternde Wirkung solcher Aktionen ist wohl schwerlich von der Hand zu weisen.
Fazit
Die zahlreichen hier und anderswo zusammengetragenen “Einzelfälle” von Cancelling, ob erfolgreich oder nicht, belegen unseres Erachtens nach hinreichend, dass es mittlerweile eine gesellschaftliche Gepflogenheit, oder besser eine Unart, geworden ist, für falsch gehaltene Meinungen nicht einfach zu kritisieren, sondern diejenigen, die diese Meinung äußern, systematisch aus dem Diskurs auszuschließen, zu isolieren und ihnen zu schaden. Cancel Culture existiert, und sie trifft nicht nur privilegierte Persönlichkeiten, sondern es sind auch die “kleinen Leute“ davon betroffen, die sich nicht zur Wehr setzen können und ökonomisch und psychisch Schaden nehmen.
Aus all den Beobachtungen lässt sich ein Muster zeichnen, wie Cancel Culture vorgeht. Zuerst werden Positionen und Themen moralisch aufgeladen und so der rationalen Analyse entzogen. Dann werden diese als verwerflich gebrandmarkt. Im nächsten Schritt geht es dann gegen Personen, die das Unliebsame, das jetzt als moralisch verpönt Geltende, vertreten. Anstatt deren Aussagen und Meinungen sachlich, also in der Sache, zu kritisieren, werden die Personen attackiert und Konsequenzen für sie verlangt. Das kann so weit gehen, dass Arbeitgeber, Auftraggeber oder Veranstaltungsorganisatoren kontaktiert werden und von ihnen gefordert wird, sich von der betreffenden Person öffentlich zu distanzieren, ihr Aufträge zu entziehen oder Veranstaltungen mit ihr abzusagen. Auffällig häufig werden von den Betreibern von Cancel Culture Aussagen aus dem Hut gezaubert, die die Gecancelten vor Jahren getätigt haben. Das bedeutet, dass sich niemand, der sich irgendwann einmal öffentlich zu irgendeinem Thema geäußert hat, sicher sein kann, dass nicht auch einmal seine Aussagen herangezogen werden, um sie fürs Cancelling zu verwenden – es könnte auch uns aufgrund dieses Artikels passieren. Besonders effektiv ist Cancel Culture, wenn sie öffentlich passiert, da dann jeder sehen kann, wie es einem ergeht, wenn man selbst eine verpönte Meinung äußert. Aussagen, die nie getätigt wurden, sieht natürlich niemand, aber man kann nachweisen, dass es diese Vorbehalte, sich zu äußern, gibt. Viele äußern sich aus Angst, selbst Opfer von Cancel Culture zu werden, dann lieber nicht öffentlich. Die GWUP ist eine der wenigen Organisationen, die diesen Tendenzen entgegenwirken und Raum für offenen Diskurs bieten möchten.
Cancel Culture ist Mob und Bullying. Der Unterschied zu normalem Mobbing ist, dass es für die “gute Sache“™ gemacht wird. Aigner gehört genauso zu Philipp Hübls “Moralspektakel“ und klatscht offenbar Beifall, wenn es Leuten wie Sigi Lieb und Till Randolf Amelung an den Job geht – ihn trifft es ja nicht. Aigner tut mit seiner Leugnung der menschengemachten Cancel Culture genau das, was man sonst gern der weißen Mehrheitsgesellschaft vorwirft, nämlich Dinge wegzuwischen, weil es sie inhaltlich nicht betrifft.
Die Autoren danken Till Randolf Amelung, Ulrich Berger, Nikil Mukerji und André Sebastiani für wertvolle Anregungen und Kommentare.