Der Gesellschaftswissenschaftler Prof. Oliver Nachtwey von der Uni Basel hat bereits mehrere Studien über die „Querdenker“-Bewegung vorgelegt, über die wir zum Beispiel hier und hier berichteten.
Jetzt ist sein Buch
Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus
erschienen (zusammen mit der Literatursoziologin Carolin Amlinger).
Amlinger/Nachtwey zufolge verkörpern die „Querdenker“ einen neuen Protesttyp, für den die Autoren den Begriff „libertäre Autoritaristen“ prägen.
Aber wie kann Freiheit autoritär sein oder Autoritarismus libertär („zwei Widersprüche, die man so gar nicht einfach zusammenbekommt“)?
Das erklärt Amlinger im Deutschlandfunk:
Uns ist aufgefallen, dass [im „Querdenker“-Milieu] eine Vorstellung von sich selbst, von der eigenen Freiheit, der selbstbestimmten Lebensführung vorgetragen wird, die mit der Abwehr jeglicher Form von Beschränkung, auch von Sozialität, einhergeht.
Freiheit ist für diese Menschen ein ganz unbedingter, absoluter Wert, der nicht relational mit anderen Menschen ausgehandelt wird, sondern gegen andere vorgetragen wird. Insofern ist dieser Freiheitsbegriff autoritär.
Es gehe also letztendlich um Freiheit als etwas Absolutes, das ihnen persönlich gehört. Wo aber das Libertäre so absolut vorgetragen wird, nehme es autoritäre Züge an.
Als eine Ursache nennen die beiden Forscher, dass das libertäre Ideal, „unbeschränkt konsumieren, unbeschränkt reisen und sich unbeschränkt äußern zu können“, gegenwärtig an Grenzen stoße – sei es durch die Klimakrise oder die fortschreitende Gleichstellung. Trotzdem werde auf individuelle Selbstentfaltung gepocht und dabei unterschlagen, dass die Grundlage jeder Freiheit die Solidarität ist.
Einen weiteren Grund sehen die Autoren darin, dass Freiheit in modernen Industriegesellschaften mit paradoxen Erfahrungen verbunden sei, erklärt Amlinger weiter – nämlich mit Institutionenabhängigkeit und dem Verlust der eigenen Wissenskompetenz:
Wir sind so frei und gebildet wie nie zuvor, aber für eine gesicherte Existenz unglaublich institutionenabhängig. In allen Bereichen. Und wir können vieles mit unserer Erfahrung, unserer eigenen Anschauung, nicht mehr beurteilen.
Etwa wie gefährlich ein Virus wirklich ist. Und was man dagegen tun kann oder sollte. In der taz sagt eine „Querdenkerin“:
Ich weiß, viele Argumente mögen vielleicht auf Ihrer Seite liegen, aber mir gibt mein Gefühl recht.
Die Erscheinungsformen dieses libertären Autoritarismus infolge von Ohnmachts- und Abhängigkeitsfrustration kann man bei jeder „Querdenker“-Demo oder auch täglich in den sozialen Medien beobachten:
Angefeindet würden nun diejenigen, die diese Freiheit einschränken wollten – durch die Maskenpflicht oder die Verwendung „sensibler“ Sprache. Die Aggression richte sich „bei einigen nach oben, auf den Staat und die Eliten, bei anderen hingegen eher nach unten, auf kulturelle Minderheiten wie Muslime oder die LGBTQ Community“,
liest man in einer Spiegel-Rezension (42/2022).
Im Namen von Autonomie und kritischem Denken verweigerten „Querdenker“ sich letztlich jeder Argumentation und würden anfällig für Verschwörungsmythen.
Über die Soziologie der „Querdenken“-Bewegung erfahren wir dagegen wenig Neues:
Personen aus der modernen Mitte. Wenig Industrie- oder Facharbeiter, dafür viele Angestellte und Selbständige, Menschen mit höherer Qualifikation. Wir haben nicht den klassischen Konservativen gefunden, der auch mal zu autoritären Ideen neigt, sondern Leute, die von progressiven Ideen kommen und über die politische Dynamik dann immer schneller nach rechts gehen […]
Die Proteste, die wir beobachtet haben, wehren die Gesellschaft als solche – teilweise eben autoritär – ab und verdrängen die eigene Verstrickung in ihr […]
Gleichzeitig zeigte sich bei der Mehrheit der Studienteilnehmer:innen ein ausgeprägt spirituelles, esoterisches und anthroposophisches Denken, für das Ganzheitlichkeit, Natürlichkeit oder Vertrauen in den eigenen Körper elementar sind.
Wenig überraschend spießt Welt-Chefreporterin Anna Schneider den Begriff „libertärer Autoritarismus“ sogleich als „neues Schimpfwort“ auf, weil „Schmähbegriffe wie rechts, Nazi oder auch einfach neoliberal für alles, was nicht links ist, irgendwann doch langweilig sind in ihrer Plumpheit“.
Was ist an dieser nicht von Zerstörungswillen beflügelten Staatsfeindschaft falsch?
fragt Schneider in einem Welt+-Artikel – offenbar in Unkenntnis ihres eigenen Blattes, das im Sommer vor einer „neuen Massenmobilisierung“ und einem möglichen „Wutwinter“ gewarnt hatte. Möglicherweise verwechselt sie auch „Individualismus“ mit einer „entsolidarisierten Vulgär-Autonomie“, wie es in einem Twitter-Kommentar heißt.
Zum Weiterlesen:
- Carolin Amlinger/Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp 2022, 480 Seiten, 28 €
- „Was ich will, muss ich dürfen“: Wie „Querdenker“ ticken, Spiegel+ am 17. Oktober 2022
- „Querdenker haben grundlegende Zweifel an der Realität kultiviert“, Berliner Zeitung am 16. Oktober 2022
- Buch über einen neuen Typ von Protestierenden: „Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus“, swr 2 am 11. Oktober 2022
- Aufgeheizte Protestkultur: Autoritär im Namen der Freiheit, Deutschlandfunk Kultur am 9. Oktober 2022
- Hilft Querfühlen gegen Querdenker? taz am 16. Oktober 2022
- Studie: Anthroposophie und Alternativszene als Triebfedern der „Querdenken“-Bewegung, GWUP-Blog am 28. November 2021
- Neue Studie: Die „Querdenker“ – Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? GWUP-Blog am 24. Januar 2021
- Neue „Querdenker“-Studie: Misstrauensgemeinschaft mit eigenwilliger Auffassung von Kritik, GWUP-Blog am 25. Dezember 2020
- Verschwörungstheorien: Die Heimwerker der alternativen Wissenskonstrukte, GWUP-Blog am 5. November 2020
- „Querdenken“: Die Misstrauensgemeinschaft, Skeptiker 2/2021
- Konspirationistisches Manifest: „Rache für zwei Jahre Folter“, GWUP-Blog am 3. Oktober 2022