In der Schweiz implodiert der Verschwörungsmythos vom „satanistisch-rituellen Missbrauch“ – und erstmals tangieren die Enthüllungen dort auch die deutsche Szene der „Satanic Panic“-Protagonisten.
Nachdem in der vergangenen Woche die pseudotherapeutischen Umtriebe am Psychiatriezentrum Münsingen (Kanton Bern) bekannt wurden, steht jetzt die Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Clienia Littenheid AG im Fokus. Der Kanton Thurgau veröffentlichte gestern einen Untersuchungsbericht, der aufzeigt, dass
… vor allem einer der Ärzte [an dieser Klinik] ein besonderes Interesse am Thema rituelle Gewalt bis hin zu einer Faszination für satanistische rituelle Gewalt und Mind Control entwickelt und die Kultur der beiden Traumastationen beeinflusst hat.
Das Departement für Finanzen und Soziales habe aufgrund der Ergebnisse des Berichts gegen die Klinik aufsichtsrechtliche Maßnahmen eingeleitet, die sich an den Empfehlungen des Berichts orientieren. Zudem werde die Berufsausübungsbewilligung eines Arztes entzogen, ein disziplinarischer Verweis und diverse Bußen ausgesprochen. Außerdem seien verschiedene Strafanzeigen eingereicht worden, unter anderem gegen die Chefärztin und ärztliche Direktorin.
Die Klinik kündigte noch am selben Tag weitreichende Maßnahmen an. Einen TV-Beitrag gibt es hier.
Die Hintergründe:
Im Dezember 2021 berichtete der SRF-Journalist Robin Rehmann über eine „in der Schweiz kursierende Verschwörungserzählung“, nämlich die vom massenhaften, organisierten „satanistisch-rituellen Missbrauch“. Für den Beitrag interviewte Rebmann auch einen Oberarzt der Clienia Littenheid, der sich zutiefst überzeugt von diesem Konspirationsmythos zeigte und von „unvorstellbaren Gewalttaten […] und körperlichen Verletzungen mit allen nur vorstellbaren Instrumenten“ fabulierte:
Was wir aus dem Dritten Reich an Foltermethoden in den Konzentrationslagern kennen, wird alles dort angewendet. Das ist wie eine Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiß, sodass es sehr, sehr schwierig ist, dieser Menschen habhaft zu werden. Für einen Therapeuten ist es also schwierig, das zu entdecken.
Eine „Privatperson“ (laut Untersuchungsbericht) reichte daraufhin eine Aufsichtsbeschwerde gegen den Arzt und die Klinik beim Amt für Gesundheit des Kantons Thurgau ein. Zwei Wochen später stellte das Klinikum den Oberarzt frei und distanzierte sich öffentlich von dessen „persönlichen Aussagen“. Im April 2022 wurde der Psychiater entlassen.
Nach dem Jahreswechsel 20/21 förderte die Schweizer Wochenzeitung (WOZ) gravierende Fehlbehandlungen auf der Traumastation an der Clienia Littenheid zutage, die offenbar im Zusammenhang mit „vorgefassten Ideen […] zum Thema rituelle Gewalt und Programmierungen“ standen.
Das Departement für Finanzen und Soziales des Kantons ordnete im Frühjahr 2022 eine Administrativuntersuchung an. Federführend dabei waren die Züricher Anwaltskanzlei Lexperience sowie die renommierten psychologisch-psychiatrischen Experten Prof. Franz Caspar und Prof. Werner Strik.
In dem am Freitag vorgelegten Bericht heißt es, dass
… die Verschwörungserzählung „rituelle Gewalt/Mind Control“ in den Traumatherapie-Stationen der Klinik im untersuchten Zeitraum ein Thema war.
Die Verschwörungstheorie sei nicht nur in die Therapie eines einzelnen Arztes, sondern in weite Teile der Behandlungen in den Traumastationen eingeflossen. Das methodische Vorgehen bei einigen Patientinnen sei fachlich nicht korrekt und vermutlich sogar krankheitsfördernd gewesen. Es seien nicht evidenzbasierte Methoden angewendet worden, die auf dem Glaubensbekenntnis beruhten, dass satanistische rituelle Gewalt in der Schweiz existiere.
Aus deutscher Sicht wird der Untersuchungsbericht ab Seite 13 so richtig interessant.
Da geht es nämlich um die Bremer Traumatherapeutin Claudia Fliß, Koautorin eines „Handbuchs Rituelle Gewalt“ und laut WOZ „eine der dogmatischsten Verfechter:innen der Mind-Control-Theorie“.
Fliß hielt im August 2021 einen Workshop für die beiden Traumatherapie-Stationen an der Clienia Littenheid ab. Der Inhalt ihrer Präsentation, wie er auf Seite 14 des Berichts wiedergegeben wird, spiegelt praktisch das komplette Narrativ der „Satanic Panic“ wider.
Die Beurteilung dieser „Fortbildungs“-Veranstaltung durch die beiden Gutachter fällt verheerend aus.
Prof. Caspar schreibt, „sehr unplausible und nicht belegte Theorien“ würden dabei als Fakten dargestellt:
Es sei anzunehmen, dass Behandler, welche diese Theorien übernehmen würden, sehr leicht Gefahr laufen, bei Patientinnen „false memories“ zu erzeugen, welche für die Patientinnen zusätzlich zu dem, was sie wirklich erlebt hätten, eine unnötige Belastung und dadurch zusätzliches Leiden schaffen könnten.
Das könne auch für Angehörige, vor allem wenn sie als Täterinnen beschuldigt werden, und auch für Krankenkassen zusätzliche Belastungen schaffen. Auch vermeintlich nötige Maßnahmen zum Schutz vor erneutem Täterkontakt seien mit dem Risiko verbunden, unverhältnismäßig (da unnötig) und belastend zu sein.
Prof. Strik spricht von einer „esoterischen Parallelwelt“ und „grobem Unfug“:
Fliß benutze in ihrem Vortrag den Jargon einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Therapeuten, die sich in einem geschlossenen Kommunikationssystem untereinander austauschen, bestätigen und zitieren. Der fehlende Bezug auf aktuell verfügbares Wissen über Gedächtnisfunktionen und organisierte Kriminalität fördere zudem „eine mystische statt einer wissenschaftlichen Wahrnehmung von Traumatisierungen und der Entstehung von Folgestörungen“.
Bei interessierten Fortbildungskandidaten und Patientinnen werde so das Faszinosum einer Geheimlehre generiert, die scheinbar über den Erkenntnissen der Wissenschaft und der Kontrolle der Justiz stehe.
Klarer ist die faktenfreie Hybris jener „kleinen Gruppe gleichgesinnter Therapeuten“ in Deutschland selten benannt worden.
Lesenswert sind auch die „Aussagen von Hinweisgeberinnen“ ab Seite 23, zum Beispiel:
Fliß habe erzählt, dass es seit Jahrtausenden okkulte Gruppen gebe, die Kinder programmieren und die hierarchisch strukturiert seien. Die Programmierer trügen graue Anzüge und kämen im Porsche vorgefahren.
Auf ihrer Homepage annonciert Fliß derweil schon die nächsten Fortbildungen zum Thema „Rituelle Gewalt“:
Ernsthaft, NIVT?
Update vom 8. September 2023
Die Clienia Littenheid AG hat in der Folge einen externen, unabhängigen Gutachter beauftragt, 422 Patientenakten von Patientinnen und Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS) zu überprüfen. Das Gutachten ergab bei 43 von 422 untersuchten Krankenakten der Traumastationen gravierende Hinweise auf Verschwörungserzählungen, bei 188 weiteren gab es angedeutete Hinweise.
Das Gutachten steht hier zum Download bereit.
Zum Weiterlesen:
- Satanistische Verschwörungen: Strafanzeigen im Fall Littenheid, SRF am 2. Dezember 2022
- Kanton greift bei Psychiatrischer Klinik durch wegen Verschwörungstheorien, 20min.ch am 2. Dezember 2022
- Satanistische Verschwörungstheorien in Littenheid? Jetzt ergreift der Kanton Thurgau aufsichtsrechtliche Massnahmen gegen die Clienia, Appenzeller Zeitung am 2. Dezember 2022
- Bericht bestätigt Vorfälle in Clienia Littenheid, SRF am 2. Dezember 2022
- Video: Die „Satanic Panic“ hat jetzt die Schweiz erreicht, GWUP-Blog am 15. Dezember 2021
- „Sektenhafte Züge“: Kritische Doku über die Satanic Panic in der Schweiz zieht weiter Kreise, GWUP-Blog am 26. Februar 2022
- Satanic Panic: Der Teufel im Therapiezimmer, WOZ am 24. Februar 2022
- Unfassbar: Drei Suizide von Patientinnen an psychiatrischer Klinik wegen „Satanic Panic“? GWUP-Blog am 24. November 2022
- Was man aus der Schweizer Klinik lernen muss, dissoziationen am 28. November 2022
- Gutachten beweist: Satanic Panic ist eine Verschwörung, dissoziationen am 3. Dezember 2022
- Frank Urbaniok: Ein Untersuchungsbericht als Meilenstein für die Aufarbeitung in der Schweiz