Vor drei Jahren ist erstmals eine Leitlinie für die Behandlung und Beratung von Krebspatienten in puncto „Alternativmedizin“ erschienen (wir berichteten hier).
Jetzt hat das Leitlinienprogramm Onkologie diese S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen Patientinnen“ aktualisiert.
Federführende Fachgesellschaften waren die
- Deutsche Krebsgesellschaft (DKG), vertreten durch die Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie (PRIO)
- Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG)
- Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO)
- Deutsche Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO).
Beteiligt war aber auch zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Naturheilkunde (DGNHK).
Erwähnung finden in der 2.0-Version vier neuere randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) zur Homöopathie, darunter die Arbeit von Michael Frass (2020) zur homöopathischen Zusatztherapie bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs.
Allerdings:
Keine dieser Studien bietet genug Evidenz oder ausreichende methodische Qualität, um sie als Grundlage für Empfehlungen/ Statements heranzuziehen. Insbesondere die Studie von Frass et al. ist nach aktuellem Stand der Leitlinie „under concerns“, da die Echtheit der Daten angezweifelt wird.
Eine andere Frass-Studie (2015) hat allerdings zu dem Passus geführt (Seite 114), dass
… der Einsatz von klassischer Homöopathie (Erstanamnese in Kombination mit individueller Mittelverschreibung) zur Verbesserung der Lebensqualität bei onkologischen Patienten zusätzlich zur Tumortherapie erwogen werden kann.
Das ist zwar sehr zurückhaltend formuliert – aber dennoch: Wie kommt eine solche Empfehlung in eine evidenzbasierte medizinische Leitlinie wissenschaftlicher Fachgesellschaften?
Darüber sprach Dr. Christian Weymayr mit der Leitlinien-Koordinatorin Prof. Jutta Hübner:
Hübner: Die strikteren Empfehlungen betreffen die substanzgebundenen Verfahren. Wir haben sehr streng gesagt, wenn kein Nutzen nachgewiesen ist, sollen die Leute das auch nicht anwenden.
In den anderen Themen wie Akupunktur und Homöopathie hat die Mehrheit die Meinung vertreten, wenn kein Schaden nachgewiesen ist, sollen die Leute das doch machen.
Mit dem Argument, dass auch unnötig aufgewendete Zeit und Geld ein Schaden sind, habe ich mich nicht durchsetzen können. Dabei sind die Kosten mitunter massiv.
Weymayr: Warum war das so schwer? Die meisten Fachgesellschaften, die an der Leitlinie mitgearbeitet haben, sind doch klar naturwissenschaftlich ausgerichtet.
Hübner: Im Prinzip ja, nur habe ich den Eindruck, dass viele Fachgesellschaften vor allem Mitglieder in die Leitliniengruppe geschickt haben, die im Bereich der Komplementärmedizin selbst aktiv sind und sie grundsätzlich sehr positiv sehen.
Deshalb waren wir bei vielen Abstimmungen trotz der inhaltlichen Argumente nicht erfolgreich.
Auch bei Akupunktur (Seite 65/66) ist von „kann“ und sogar von „sollte“ die Rede.
Weymayr: In der Empfehlung zu Akupunktur heißt es: „Akupunktur sollte zur Senkung der Tumorschmerzen und/oder Einsparung von Analgetika bei diesen Patienten empfohlen werden.“ Heißt das, ein Arzt therapiert nicht leitliniengerecht, wenn er Akupunktur nicht empfiehlt?
Hübner: Ja, formal tut er das, wobei „sollte“ noch kein „muss“ ist […] Er muss es weder empfehlen noch selbst anbieten. Ich sehe die Empfehlung als extrem problematisch an. Sie ist meiner Meinung nach schlichtweg falsch, weil die Evidenz falsch interpretiert worden ist.
Weiterhin keine Empfehlung gibt es für Methadon (Seite 351):
Methadon soll aufgrund der mangelnden Daten zur Wirksamkeit und angesichts des erhöhten Neben- und Wechselwirkungsrisikos nicht mit dem Ziel der Steigerung der Wirksamkeit der Tumortherapie erwogen werden.
Dazu Jutta Hübner:
Bei Methadon mussten wir nur sehr auf Justiziabilität achten.
Kollegen, die sich in den vergangenen Jahren kritisch zu Methadon als Mittel gegen Krebs beziehungsweise als Mittel, das die Wirksamkeit von Krebsmedikamenten unterstützt, geäußert haben, wurden von der Gruppe um Frau Friesen, die diese Wirksamkeit propagiert, angegriffen. Und eine Anwaltskanzlei hat auch Klagen eingereicht.
Insofern bin ich wirklich stolz, dass wir mit der Leitlinie jetzt Kollegen etwas an die Hand geben, das sie zitieren können.
Das vollständige Interview ist bei DocCheck erschienen.
In einem Kommentar dazu geht Weymayr noch einmal auf die widersprüchliche Bewertung der Homöopathie ein:
Während die Arbeitsgruppe, die medizinische Systeme wie Akupunktur und Homöopathie behandelte, ein „kann“ bereits vergab, wenn die Verfahren nicht besser als Placebo abschnitten, legten die anderen Arbeitsgruppen hier strengere Maßstäbe an. Sie vergaben ein „kann“ nur bei zumindest schwachen Hinweisen auf eine Wirksamkeit.
Man könnte also zugespitzt sagen: Je mehr Wallawalla, desto großzügiger, je mehr echte pharmakologische Interaktion, desto strenger.
Soviel zum Thema, die Homöopathie werde von bösen Pharma-Mächten unterdrückt.
Die aktualisierte S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ findet sich hier.
Zum Weiterlesen:
- Alternativ-Bibel für Krebspatienten: Bald Pflicht? docCheck am 12. Juli 2024
- Hex hex! Kräuter und Kurioses für Krebspatienten, docCheck am 12. Juli 2024
- „Leitlinie Komplementärmedizin in der Behandlung onkologischer PatientInnen“ jetzt verfügbar, GWUP-Blog am 26. Juli 2021
- Gute Absicht, schlechte Medizin: Edzard Ernst über die Studie zu Homöopathie bei Lungenkrebs, GWUP-Blog am 27. Mai 2024
- Methadon und Krebs: „Quarks“ erklärt den aktuellen Stand, GWUP-Blog am 4. Januar 2019
- Der Methadon-Hype: „Muster einer Verschwörungstheorie“, GWUP-Blog am 25. August 2017
- Methadon: Unterdrückt die Pharmaindustrie ein günstiges, wirksames Krebsmedikament? GWUP-Blog am 20. Juni 2017
- Warum wir Krebserkrankungen neu klassifizieren müssen, spektrum am 11. Juli 2024