Je mehr die Satanic Panic-Szene und selbstdefinierte „Betroffene“ unter Druck geraten, desto stärker leugnen sie wissenschaftliche Erkenntnisse zu Themen wie Falscherinnerungen und „Mind Control“.
Für den neuen Skeptiker (2/2023) sprachen wir mit der Psychologin Prof. Aileen Oeberst über den aktuellen Forschungsstand.
Einige Auszüge:
GWUP: Im April ist eine Replikation des berühmten „Lost in the mall“-Experiments von Elizabeth Loftus erschienen. Die neue Studie vermeidet die methodischen Schwächen der Arbeit aus dem Jahr 1995, etwa die geringe Probandenzahl und das Fehlen von klaren Definitionen, kommt aber dennoch zum gleichen Ergebnis: Mehr als ein Drittel der Versuchspersonen entwickelte vollständig oder teilweise falsche Erinnerungen an das Zielereignis.
Gerade in jüngster Zeit unternahmen Verfechter der Rituelle Gewalt-Mind Control-Theorie einige Versuche, Loftus‘ Studie „The formation of false memories“ für „widerlegt“ zu erklären, weil eine Publikation von 2019 „Fehler in der Originalstudie“ aufgedeckt hätte.
Aileen Oeberst: Ich habe nie so ganz verstanden, warum sich die Kritiker des Konzepts der falschen Erinnerungen praktisch ausschließlich auf Loftus & Pickrell stürzen. Diese Studie hatte ihre Schwächen, einige haben Sie ja genannt, aber sie begründet mitnichten die gesamte Evidenz dieses Forschungsgebiets.
In der Folge gab es eine Vielzahl weiterer Arbeiten, mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen, die ebenfalls erfolgreich darin waren, falsche Erinnerungen an bestimmte Ereignisse zu implantieren. Eine neuere Megaanalyse von acht Studien zeigt, dass dies bei etwa dreißig Prozent der Probanden funktioniert.
Ich sehe sehr robuste empirische Belege dafür, dass sich falsche Erinnerungen sogar in kurzer Zeit erzeugen lassen – und nicht erst im Verlauf von 83 Therapiestunden, wie kürzlich im Spiegel zu lesen war […]
Bei den Anhängern der Rituelle Gewalt-Mind Control-Theorie ist vor allem die Idee der Verdrängung von Erinnerungen, insbesondere an traumatische Erlebnisse, sehr populär. Sogar in der Publikation „Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland“, an der unter anderem der renommierte Psychiater Peer Briken beteiligt war, heißt es, dass „oft eine lange Zeit von durchschnittlich 28,5 Jahren verging“, bis den befragten Personen „die erlebte Gewalt bewusst wurde“.
In dieser Veröffentlichung von 2018 steht auch, dass die organisierten und/oder rituellen Gewalterfahrungen der Studienteilnehmer bereits im frühen Kindesalter begonnen hätten, mit einem durchschnittlichen Alter von drei Jahren. Als Median ist der Wert 2 angegeben, das bedeutet konkret, dass die Hälfte der Stichprobe, die diese Frage beantwortet hat, unter zwei Jahre alt war, als der Missbrauch begonnen hat.
Dazu muss man ganz klar sagen: Das kann keine eigene Erinnerung sein. Dieser Behauptung steht die sogenannte infantile Amnesie gegenüber, also das Phänomen der fehlenden Erinnerung an unsere ersten Lebensjahre, weil die Strukturen unseres autobiographischen Gedächtnisses, wie auch die Sprache und das Selbst als Voraussetzungen, zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht ausreichend entwickelt sind.
Gehen wir mal weg vom Durchschnitt und nehmen an, dass es auch Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer gab, die den Missbrauch in einem höheren Alter verorten. Wie glaubhaft ist das, dass nach fast drei Jahrzehnten verdrängte traumatische Erlebnisse wiedererinnert werden?
An diesem Punkt hat die Studie einen weiteren Mangel. Es handelt sich um einen anonymen Online-Fragebogen, mit dem die Angaben von 165 selbstdefinierten Betroffenen erfasst wurden. Das traumatische Erlebnis wurde also nicht objektiv sichergestellt. Das ist aber eines von drei grundlegenden Kriterien, die Studien zu verdrängten Erinnerungen erfüllen müssen.
Zum einen muss sichergestellt sein, dass das traumatische Erlebnis wirklich stattgefunden hat. Bereits das ist in vielen Studien, zum Beispiel bei der genannten, nicht gewährleistet. Zum anderen muss die betroffene Person sich tatsächlich nicht an das Ereignis erinnern können, selbst wenn sie es wollte. Und drittens müssten die wiedererlangten Erinnerungen eine korrekte Repräsentation des stattgefundenen Ereignisses darstellen.
Diese notwendigen Voraussetzungen erfüllt derzeit keine einzige Studie zum Thema. Dementsprechend gibt es keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen.
So schnell geben sich die Anhänger dieses Konstrukts nicht geschlagen. Manche argumentieren nicht mit „normalen Gedächtnisfehlern oder Schwierigkeiten beim Zugriff auf eine Erinnerung“, sondern mit dissoziativen Amnesien im Rahmen einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS), was wiederum eine anerkannte Traumafolgestörung ist.
Auch dann sind die gleichen Forderungen an aussagekräftige Studien zu stellen.
Ich bin keine Expertin für die Krankheitsbilder der Dissoziativen Identitätsstörung, aber selbst wenn das traumatische Erlebnis nur von einem Persönlichkeitsanteil erinnert werden könnte und der Gesamtperson nicht zur Verfügung stünde, selbst wenn es dissoziative Erinnerungsbarrieren gäbe, auch in diesem Fall müsste es doch möglich sein, Belege dafür zu erbringen, dass die zutage geförderten Erinnerungen korrekt sind – also mit einem tatsächlichen Ereignis übereinstimmen.
Solche Studien gibt es aber ebenfalls nicht.
Noch eine derartige Behauptung: So etwas wie „traumatischer Stress“ würde dafür sorgen, dass schlimme Erinnerungen an rituellen Missbrauch erst gar nicht im episodischen Gedächtnis landen.
Dass Stress sich auch nachteilig auf das Gedächtnis auswirken kann, ist belegt. Aber dabei geht es keinesfalls darum, ein komplettes Ereignis – wie etwa sexuellen Missbrauch – nicht abzuspeichern. Das mag bei Details von Erlebnissen der Fall sein.
Aber dass Stress – ohne Ohnmacht oder dergleichen – ein Erlebnis vollständig aus dem Gedächtnis tilgt, ist gedächtnispsychologisch nicht belegt. Umgekehrt fanden Studien bei Menschen mit nachgewiesenen traumatischen Erlebnissen, wie etwa Holocaust-Überlebende, Soldatinnen und Soldaten in Kriegseinsätzen oder Verbrechensopfer, keinerlei Hinweise auf ein komplettes Verdrängen oder Nichterinnern-Können.
Im Gegenteil, diese Betroffenen leider darunter, nicht vergessen zu können, die Bilder nicht aus dem Kopf zu kriegen. Also Ereignisse, von denen man erwarten könnte, dass sie verdrängt werden, werden nicht verdrängt […]
Anhänger der Rituelle Gewalt-Mind Control-Theorie neigen allerdings dazu, jedwede wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Falscherinnerungen als „Täterschutz“ und Forscher als Akteure einer wie auch immer gedachten „False-Memory-Bewegung“ zu verunglimpfen.
Hierzulande existiert ein Verein namens False Memory Deutschland. Ich habe dort neulich auch einen Vortrag gehalten, aber es gibt keine Auftragsforschung oder ähnliches für diese Organisation. Das ist eine Anlaufstelle für Menschen, die in irgendeiner Weise mit falschen Erinnerungen konfrontiert werden, sei es als Selbstbetroffene, Angehörige oder Beschuldigte.
Der Vereinszweck ist Beratung – und zwar auf Basis der Forschung zu falschen Erinnerungen. Die Forschung selbst auf diesem Gebiet ist davon völlig unabhängig.
Das vollständige Interview gibt’s im Skeptiker, der hier bestellt werden kann.
Zum Weiterlesen:
- Und ewig gähnt der Zuschauer: Kla.tv und die „Kannibalen-Orgie“ der Skeptiker, GWUP-Blog am 17. Juni 2023
- Kortizes-Vortragsvideo: „Falsche Erinnerungen und ihre Folgen“ mit Aileen Oeberst, GWUP-Blog am 12. Mai 2023
- Replicating a classic false memory study: Lost in the mall again, skeptic.org am 10. Mai 2023
- Rituelle Gewalt-Mind Control: Eine Verschwörungsideologie bedroht wissenschaftlich fundierte Standards, GWUP-Blog am 30. Mai 2023