Bravo Girl wird eingestellt – aber die Junghexe von heute ist schon lange nicht mehr auf das „Bravo-GiRL!-Team“ angewiesen, wenn es um „Zaubersprüche und Rituale für Anfänger“ geht.
Die „spirituellen Influencerinnen der Gen-Z“ (SWR) haben längst einen anderen Tummelplatz gefunden:
#Witchtok heißt die Social-Media-Plattform, auf der eine neue Generation Hexen in milliardenfach geklickten Kurzclips
… ihre Fähigkeiten vorführt, über die Kunst der Magie aufklärt, Tarotkarten zieht oder Kräutermischungen verrührt, mysteriöse Symbole in Kerzen ritzt oder die Wirkung ihrer Lieblingskristalle beschreibt.
Darunter ist natürlich auch die „13 Fragen“-Teilnehmerin Shisha Rainbow, der Der Spiegel (23/2023) diese Woche eine Story widmet.
Und was macht so eine „Witchfluencerin“?
In erster Linie Geld.
So kostet laut Spiegel eine 60-minütige „Healing Session“ bei Shisha via WhatsApp-Anruf 299 Euro, die „vollumfängliche Hexenausbildung“ 2222 Euro. Ansonsten geht es um den üblichen „Hokuspokus-Content“ (SWR) wie etwa Liebes-, Schutz- und Abnehmzauber.
Bei watson preist die 30-jährige Berlinerin Hexerei als etwas an,
… was einen bereichert, glücklich macht und einen Mehrwert im Leben bietet.
Also eine Art „Self-Care im Esoterik-Gewand“, erklärt die SWR-Journalistin Lydia Huckebrink, letztendlich mit dem Ziel, Kontrolle auszuüben – „auf die Gegenwart und auf die eigene innere Kraft“.
Die Menschen sind auf der Suche nach Wegen, ihr Leben zu verbessern, und das Okkulte verspricht genau das
sagt die „Hexe“ Ashley Ryan, die sich bei TikTok „Pythina Priestess“ nennt, nach der weissagenden Priesterin im Orakel von Delphi. Die Welt kommentiert Ryans Einlassungen so:
Den Anhängern von WitchTok vermitteln die Rituale und Zaubersprüche ein Gefühl von Kontrolle und spiritueller Geborgenheit, und auf TikTok finden sie eine Community, die sie nicht als Spinner mit einer allzu blühenden Fantasie abstempelt.
„Neu“ ist daran überhaupt nichts.
Ende der 1990er-Jahre hießen Hexen-Serien und -filme zum Beispiel „Sabrina – Total Verhext!“, „Charmed – Zauberhafte Hexen“ oder „Der Hexenclub“. Heute sind bei diversen Streamingkanälen die „Chilling Adventures of Sabrina“, „Mayfair Witches“ oder „A Discovery of Witches“ abrufbar.
Damals erschienen Bücher à la „Wie du deinen Ex-Prinzen in eine Kröte verwandelst und andere Hexensprüche für böse Mädchen“. Heute vertickt Shisha Rainbow „Witch Power – Entdecke deine magischen Kräfte“ an die Community.
2007 schrieb der evangelische Weltanschauungsbeauftragte Dr. Matthias Pöhlmann:
Die Hexe dient jetzt als Identifikationsfigur für die eigene Macht und Stärke, aber auch als Medium einer eskapistischen Selbstinszenierung.
In der Esoterik-Szene hat sich die Selbstbezeichnung „Hexe“ mittlerweile zum Container-Begriff für verschiedene Vorstellungen und Praktiken etabliert. Das Spektrum reicht von Angeboten zu Kartenlegen, Lebenshilfe und Heilung bis hin zu magischem Liebeszauber für den ersehnten Traumpartner.
Es gibt eine Vielzahl von Büchern, Anleitungsbüchern und Praxishilfen – besonders für Jugendliche, die zu „Junghexen“ werden wollen.
Heute analysiert der SWR:
Die #Witchtok-Community ist vielfältig. Es gibt die unterschiedlichsten Strömungen innerhalb der Hexen-Gemeinschaft […] Menschen streben naturgemäß nach Spiritualität, Heilung und dem tieferen Sinn im Leben. Sich in eine Hexe zu verwandeln, erfüllt den tristen Alltag zusätzlich mit Magie und Bedeutung – wer fände das nicht spannend?
Vorausgesetzt, man investiert viel Zeit auf TikTok und hat das nötige Kleingeld. Denn die Hexen-Gadgets sind zahlreich: Tarotkarten, Steine und Mineralien, Gewürze und Kräuter, Amulette, Gläschen, Kerzen in verschiedenen Farben und Formen sind Voraussetzungen für erfolgreiche Zaubereien.
Es steckt auch enormes Shopping-Potential in dem Trend.
Was hat sich also geändert?
Zum einen die Verbreitungsmedien.
„Hexen“ und „Wiccas“ brauchen keine Jugendzeitschriften mehr wie Bravo Girl, die dem „Mega-Trend Hexen“ zuletzt nur noch hinterherhechelte, anstatt ihn zu setzen. Dafür verzeichnet die Subkategorie #WitchTok bei TikTok derzeit fast 43 Milliarden Aufrufe.
Zum anderen scheint das kritische Bewusstsein gegenüber esoterischen Strömungen im Schwinden begriffen zu sein.
Das Schweizer Nachrichtenportal watson lässt Shisha Rainbow unwidersprochen durchgehen, dass Hexerei „eigentlich nach wissenschaftlichen Prinzipien“ funktioniere. Das ist der gleiche Unsinn wie Axel Stolls „Magie ist Physik durch Wollen“. Ihn hat man, zu Recht, ausgelacht. Shisha Rainbow ist dagegen gern gesehener Mediengast.
Zum Beispiel bei 13 Fragen, wo eine strikte False-Balance-Konstellation von drei „Pro-“ und drei „Contra“-Gästen eingehalten wird:
Im Spiegel-Artikel gibt’s immerhin Widerspruch von Katharina Nocun, aber insgesamt kommen Hexen-Influencerinnen auch in ÖRR-Formaten erstaunlich gut weg, und auch das Newsportal Tag24 treibt anscheinend nur die Befürchtung um, ob Junghexe Jessica Streek ihre beiden Standbeine („die Schauspielerei und die Hexerei“) irgendwie gewinnträchtig miteinander verbinden kann.
Eine Ausnahme sind Belltower News, die undiplomatisch klarstellen, dass der Hexentrend
… eine Vermarktungsstrategie mit höchst problematischen Bezügen und Querverbindungen [ist], die als Türöffner für antimodernes und menschenfeindliches Gedankengut dienen kann.
Vor 21 Jahren schrieb Hansjörg Hemminger:
Wollen wir wirklich eine Generation hervorbringen, in der man mit magischen Künsten und Kräuterzaubern gesellschaftliche Anerkennung findet?
Auch diese Frage ist nach wie vor aktuell.
Zum Weiterlesen:
- „Bravo Girl“ wird nach 35 Jahren eingestellt, t-online am 3. Juni 2023
- Aus für „Bravo Girl“: Keine Chance gegen TikTok, welt.de am 7. Juni 2023
- Heilsteine, Hexen und falsche Versprechungen, rbb24 am 7. Juni 2023
- Video: Esoterik-Hype im Netz, rbb24 Abendschau am 7. Juni 2023
- Interview zum Esoterik-Trend: „Gefährlich wird es, wenn dahinter ein komplettes Weltbild steht“, rbb24 am 7. Juni 2023
- Hexen im Internet, spiegel.de am 2. Juni 2023
- #WitchTok: Eine junge Generation von Hexen beschwört auf TikTok das Übersinnliche, swr am 21. April 2023
- Witchtok: Eine moderne Hexe erklärt den neuen Tiktok-Trend, watson am 10. April 2023
- Moderne Hexen schleichen nicht mehr durch dunkle Wälder, welt.de am 27. November 2020
- Witchtok – Der Hexentrend auf TikTok ist pseudofeministisch und antimodern, Belltower News am 3. Mai 2021
- Hexenglaube richtet in vielen Ländern der Erde Schaden an – Medien in Deutschland sind dagegen von Hexen fasziniert, GWUP-Blog am 26. November 2022
- Mädchen, warum wollt ihr Hexen sein?“, GWUP-Blog am 13. März 2010
- Wir schreiben 2012 und die Junghexe heißt Leona, GWUP-Blog am 22. Juli 2012
- Flausch in schwierigen Zeiten: Die „Brigitte“ ruft mal wieder Esoterik als neuen Trend aus, GWUP-Blog am 19. März 2020
- „Esoterik, Hexen, Astrologie: Wann wird’s gefährlich?“ bei 13 Fragen/unbubble, GWUP-Blog am 1. Juni 2023