Von kritischer Selbstreflexion keine Spur:
Angela Marquardt, Mitglied im „Betroffenerat“ bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), hält den Spiegel-Artikel über die Satanic Panic einfach bloß für „unterirdisch“:
Eine sachlich-rationale Auseinandersetzung mit dem Thema betrachtet Marquardt als „unwürdigen diffamierenden Diskurs“, lässt die Politikerin via Twitter wissen.
Ihre Kollegin Sonja Howard setzt noch eins drauf und empfiehlt bei Instagram die „tolle Aufklärungsarbeit zu dem Thema“ von einer jungen Frau namens „Hajar“, die sich in einem Youtube-Video selbst der mehrfachen Tötung von Kindern bezichtigt:
Marvel Stella hat sich das Video mal näher angesehen.
Die ehemalige Leiterin der Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Münster und Gründerin der dortigen „Beratungsstelle Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt“, Brigitte Hahn, findet einfach alles nur „schrecklich“ und „absolut daneben“ – sowohl den Spiegel-Artikel als auch die Schließung der Münsteraner Beratungsstelle.
Und natürlich ist auch die selbsterklärte „Überlebende“ Luni vom Youtube-Kanal DIS-obey mit einem Video am Start, in dem sie den Spiegel-Beitrag kurzerhand zu „Desinformation“ und „Fake News“ erklärt.
Ihnen allen sei ein aktuelles Vortragsvideo von Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen Nord und Gutachter im „Satanic Panic“-Skandal am Psychiatriezentrum Münsingen, empfohlen.
Sonderlich schmeichelhaft ist das allerdings nicht, was Maier (in einem Begleitinterview mit dem Beobachter) zum Glauben an die Verschwörungsideologie vom „satanistisch-rituellen Missbrauch“ sagt:
Die Vorstellung, dass es so komplexe psychologische Beeinflussungstechniken geben könnte, erinnert fast an magisches Denken, Kinderglauben oder Science-Fiction. Aber auch gewisse Sekten oder andere geschlossene Zirkel von Verschwörungstheoretikern haben als Teil ihrer Ideologie einen Glauben an raffinierte psychologische Beeinflussungstechniken.
So etwas scheint also viele Menschen zu faszinieren. Das Denken dieser Menschen ähnelt den Ideen von Spiritisten oder Parapsychologen.
In dem Vortrag selbst (zirka 75 Minuten) beantwortet der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie eine Reihe der rhetorischen Fragen, die Hahn, Luni und andere immer wieder als Nebelkerzen vorbringen.
So fällt Brigitte Hahn in dem WDR-Interview „nichts dazu ein“, warum Therapeuten denn ihren Patientinnen „solche Geschichten, solche Verschwörungsmythen einreden“ sollten (fragt die Reporterin). Und auch Luni will so gar nicht einleuchten, „wie Therapeuten davon profitieren sollten“, Patientinnen „eine Missbrauchsgeschichte einzureden, die nie stattgefunden hat“.
Erstens behauptet niemand, dass der Missbrauch „nie stattgefunden“ hat. Das stellt auch Marvel Stella in ihrer Analyse des Hajar-Videos zum wiederholten Male klar.
Sondern es geht um ein ganz bestimmtes Narrativ, das wohl am treffendsten mit dem Begriff „Rituelle Gewalt-Mind-Control-Theorie“ (RG-MC-Theorie) umschrieben wird. Das heißt, neben „einer Missbrauchsgeschichte“ kommen als unverzichtbare Bestandteile hinzu: verdrängte beziehungsweise abgespaltene Erinnerungen, Dissoziative Identitätsstörung (DIS) und „Mind Control“.
Und zweitens scheint diese verschwörungsideologische Mixtur für einen kleinen, sehr speziellen Kreis von „Traumatherapeuten“ überaus attraktiv zu sein. Die persönlichen Benefits dieser Überzeugung haben wir hier schon ausgeleuchtet: Komplexitätsreduktion, Selbstaufwertung, Entlastung und Selbstwirksamkeit.
Thomas Maier sagt in seinem Vortrag dazu:
Diese Verschwörungstheorie ist ein brauchbares Muster, das dem Therapeuten hilft, die eigene Ohnmacht abzuwehren.
Wenn ich dieser Verschwörungstheorie anhänge, habe ich plötzlich glasklare Erklärungen, und unerklärliche Dinge fügen sich plötzlich für mich total erklärbar zusammen, Alles macht Sinn. Die ganze Ambivalenz reduziert sich auf einen Schlag, und es ist alles klar, es leuchtet mir alles sofort ein.
Außerdem hat der Anhänger dieser Verschwörungstheorie ein spezielles Wissen, das ihm ermöglicht, die Dinge zu durchschauen, die der andere nicht durchschaut. Und das gibt ein Erhabenheitsgefühl: Ich habe ein spezielles Wissen, das es mir ermöglicht, diesen Patientinnen zu helfen, denen alle anderen nicht helfen können.
Im Weiteren stellt Maier auch Lunis Wunschvorstellung, der Spiegel-Artikel rekurriere doch lediglich auf einen unglücklichen Einzelfall einer therapeutischen Fehlbehandlung, die Realität gegenüber:
Auch Lunis Behauptung, „die Skeptiker-Szene“ würde versuchen, „die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung in Frage zu stellen und behaupten, diese Diagnose sei nicht ausreichend erforscht oder von einer angeblich verschwörerischen Lobby von Therapeuten herbeifantasiert worden“, ist wenig mehr als blanker Unsinn.
Maier erklärt den Sachverhalt sowohl in seinem Vortrag:
Die Dissoziative Identitätsstörung ist eine ernste, schwerwiegende Diagnose, die man nicht leichtfertig vergeben soll, und nicht jeder, der ein bisschen unterschiedlich sich manchmal fühlt und sich verhält, sollte diese Diagnose bekommen.
Als auch in dem Beobachter-Interview:
Die [Dissoziative Identitäts-] Störung manifestiert sich typischerweise im Rahmen von längeren, intensiven Therapien. Das gibt einen Hinweis darauf, dass sie – wie viele andere psychische Adaptationsmechanismen auch – in einen interpersonellen Kontext eingebettet ist.
Die Störung tritt also nicht losgelöst im stillen Kämmerlein oder auf der einsamen Insel auf, sondern dort, wo bestimmte Verhaltensweisen und Symptome von der Umgebung und von den engen Bezugspersonen positiv verstärkt werden.
Und dann kommt Maier auf die Mythen rund um die DIS im Kontext der „Satanic Panic“ zu sprechen – also die Storys, in denen behauptet wird, „Täter“ aus irgendwelchen „Kult“-Gruppen könnten bei ihren Opfern schon in der Kindheit oder Jugend eine DIS absichtlich herbeiführen und die Betroffenen dann über einzelne Persönlichkeitsanteile mittels „Mind Control“ steuern:
Die Störung ist zwar in gewisser Weise man-made, aber auf keinen Fall so, wie sich das die Protagonisten dieser Ideologie vorstellen. Die Störung ist viel zu komplex und auch individuell, als dass sie gezielt induziert werden könnte, erst recht nicht bei Kleinkindern oder gar Säuglingen.
Dass man so etwas annehmen kann, entspringt meiner Meinung nach einem naiven Irrglauben. Es gibt jedenfalls keinerlei Belege oder Beweise, dass so etwas möglich ist.
Auch weitere Elemente der „Satanic Panic“-Verschwörungsideologie verweist Maier ins Reich der Fabel. So zum Beispiel, dass die Tätergruppen über ein umfangreiches Spezialwissen in Sachen Psychotraumatologie verfügten – das allerdings der Fachwelt völlig unbekannt ist.
Maiers gelegentliche Konfrontation mit angeblichen Beweisen für die große Verschwörung deckt sich kurioserweise genau mit dem, was Luni in ihrer „Stellungnahme“ zum Spiegel-Artikel als Beleg für ihre Behauptungen verkaufen will:
Was uns betrifft, gab es immer mal wieder, besonders in Kliniken, Zeugen dafür, dass Täter versucht haben, Zugriff auf uns zu nehmen. So musste zum Beispiel ein Auto, dass Nachts unter unserem Zimmerfenster stand und triggernde Musik abspielte, (ich werde das aus Sicherheitsgründen für uns jetzt an dieser Stelle nicht näher benennen), von der Security, die in diesem Areal Nachts unterwegs war, des Platzes verwiesen werden.
Diese „Kliniken“ würden wir gerne mal sehen, wo man nächtens einfach so mit dem Auto reinfahren kann, bis zum Patiententrakt, und dort genau vorm richtigen Fenster laute Musik abspielen kann.
Auch Klinikdirektor Thomas Maier hält das für Phantastereien. In seinem Vortrag ironisiert er:
Die [Täter] sind total anonym, man findet die nie, man findet nie heraus, wer das ist. Manchmal ist man nahe dran, aber dann verschwinden sie gerade um die Ecke. Wenn man glaubt, man hat jetzt jemanden erwischt, dann ist der gerade weg und der Schwefelgeruch hängt noch in der Luft.
So ist es mir vorgekommen in diese Berichten. Die Therapeuten fantasieren, dass die Täter um die Klinik herumkurven, mit Autos. Und wenn man das Kennzeichen aufschreiben möchte, sind sie schon weg, ganz knapp entwischt.
Ebenso ins Leere geht Lunis Versuch, die Aufklärung über die Satanic-Panic-Verschwörungsideologie selbst zur Verschwörungstheorie zu erklären. Denn angeblich würden wir Skeptiker behaupten,
… dass all die Therapeuten, Forscher (weltweit!), ja sogar die Deutsche Bundesregierung mit ihrer Kampagne „unter einer Decke stecken“ und den Klienten ihre Erlebnisse einreden.
Niemand behauptet das. Was tatsächlich Sache ist, erklärt Maier so:
Es entstehen Kreise mit starkem Zusammenschluss, in sich geschlossenen Supervisionsketten, Weiterbildungsveranstaltungen und eigenen Begrifflichkeiten. Da treffen sich Leute, die sich gegenseitig bestärken.
Soweit zum Vortrag von Thomas Maier am Montagabend in St. Gallen.
Auch ganz unabhängig von dieser Veranstaltung könnte man noch seitenweise auf die sonderbare „Stellungnahme“ von „Luni“ zum Spiegel-Artikel eingehen.
Worum es in dem Artikel geht, ist die besagte RG-MC-Theorie mit ihren ganz besonderen Merkmalen:
- Oder dass „die These von falschen und suggerierten Erinnerungen zum Großteil widerlegt“ sei, weil „eine andere Studie Fehler in der Originalstudie [von Elizabeth Loftus] aufdeckte“ (Zitat Luni).
Und? Es gibt zahlreiche Nachfolge-Experimente, die Loftus bestätigten. Aktuelle Übersichtsarbeiten finden sich zum Beispiel hier und hier. Auch dass Gedächtnisforschung völlig unabhängig von einer wie auch immer gearteten „False Memory-Bewegung“ existiert, scheint Luni nicht zu verstehen.
In der neuen Zeit (14/2023) wird Loftus daher ohne jeden Zusammenhang mit False Memory schlicht als „eine Koryphäe ihres Faches, eine weltweit führende Gedächtnisforscherin“ beschrieben:
Elizabeth Loftus’ oberstes Ziel ist die Wahrheit. Auch wenn die manchmal wehtut.
Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychologie erklärt:
Es gibt umfassende etablierte Forschungsergebnisse zur Entstehung von Pseudoerinnerungen durch suggestive Prozesse.
- Wir könnten auch noch darüber reden, dass es völlig egal ist, ob es sich bei den angeblichen Tätergruppen um „Satansorden mit Weltherrschaftsallüren“ handelt (Zitat Luni) oder um die neuerdings behaupteten „germano-faschistischen Kulte“ (z.B in der taz).
Auch dann gilt nämlich, dass die Mitglieder keine übermenschlichen Fähigkeiten besitzen und sich jeder Strafverfolgung entziehen können. Und dass die einzelnen Elemente der RG-MC-Theorie dabei die gleichen bleiben – und gleichermaßen unmöglich sind.
Richtigzustellen ist aber vor allem Lunis Versuch, den „geschilderten Fall von Frau Weber“ als „irgendwie fragwürdig“ erscheinen zu lassen, und zwar aufgrund dieser Passage im Spiegel:
Luni schreibt dazu:
Sie war aber erst seit 2018 in Behandlung bei der beschuldigten Therapeutin. Wie also soll die Therapeutin ihr das also schon 2010 suggeriert haben?
Es ist ganz einfach andersrum: Die Therapeutin legte in der Therapie den angeblichen Beginn des Ausstiegs ihrer Patientin aus dem angeblichen Satanskult selbst auf das Jahr 2010 fest, weil zu diesem Zeitpunkt einige wichtige Veränderungen im Leben von Frau Weber stattgefunden hatten.
Und zudem kann Der Spiegel eben doch die von Luni geforderten „Beweise vorlegen […], dass dieser Fall tatsächlich so war, wie von Frau Weber beschrieben“ (Zitat Luni).
Es gibt nämlich Akten des Jugendamtes, verschiedene Gutachten und ein Gerichtsverfahren.
Also all das, was „die lunis“, wie sie sich selbst nennt, seit Jahrzehnten nicht vorlegen können.
Und deshalb geht das Debunking der RG-MC-Theorie weiter.
Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit „wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control“ ein administratives Verfahren gegen den Psychiater Jan Gysi, der laut watson als „Koryphäe bei den Verfechtern der rituellen Gewalt gilt“.
Schrecklich, gaaanz schrecklich.
Oder auch nicht.
Zum Weiterlesen:
- WDR-Interview mit Brigitte Hahn, dissoziationen am 27. März 2023
- Betroffene(nrat) empfiehlt, dissoziationen am 26. März 2023
- Administratives Verfahren gegen Psychiater Jan Gysi eingeleitet, beobachter am 27. März 2023
- Interview mit Psychiater Thomas Maier über Mind Control: „Das erinnert an magisches Denken, Kinderglauben, Science-Fiction“, beobachter am 27. März 2023
- Nicht wiedergutzumachender Schaden: Unser Gespräch mit dem Opfer einer „Satanic Panic“-Fehlbehandlung aus der aktuellen Spiegel-Story, GWUP-Blog am 12. März 2023
- „Keine Evidenz“: Der Spiegel widerlegt die Narrative der Verschwörungstheorie vom satanistisch-rituellen Missbrauch, GWUP-Blog am 10. März 2023
- Unfassbar: Drei Suizide von Patientinnen an psychiatrischer Klinik wegen „Satanic Panic“? GWUP-Blog am 24. November 2022
- Erinnerung und Trauma: Was war da? Die Zeit 14/2023