Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Protagonisten der „Satanic Panic“ im deutschprachigen Raum von der aggressiven Abwehr der gut belegten Vorwürfe zur „Opfer“-Attitüde übergehen würden.
Ein willfähriges Medium dafür haben sie in der österreichischen Wochenzeitung Die Furche gefunden.
In einem Artikel vom Januar (4/2024) verteidigt das Blatt längst widerlegte Behauptungen zum Thema Gedächtnis und Erinnerung. Der ganzseitige Beitrag fokussiert weitschweifig darauf, dass
… schreckliche Ereignisse aus der Kindheit so abgespalten werden können, dass man lange Zeit nichts davon weiß – und Erinnerungsfragmente erst im Erwachsenenalter ins Bewusstsein zu treten beginnen.
Das ist falsch.
Die Entscheidung in den „Memory Wars“, von denen die Furche schreibt, ist bereits „vor Jahrzehnten gefallen und sie steht bis heute“, erklärte Sebastian Herrmann letzten Sommer.
In einem Skeptiker-Interview (2/2023) führte die Psychologin Prof. Aileen Oeberst aus, es gebe „keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“.
Unisono äußerten sich kürzlich die Professorinnen für Rechtspsychologie Silvia Gubi-Kelm (Hamburg) und Luise Greuel (Bremen) im Report Psychologie:
Die wissenschaftlich fundierte psychotraumatologische Forschung kommt in Übereinstimmung mit den Befunden aus der gedächtnis- und aussagepsychologischen Forschung zu dem Ergebnis, dass emotional bedeutungsvolle und somit auch traumatische Erlebnisse in der Regel besonders gut und langfristig erinnert werden.
Zu dem Furche-Geraune von der dissoziativen Amnesie („Traumatische Erinnerungen sind dissoziiert“, laut Bessel van der Kolk) sagte Oeberst im Skeptiker:
Ich bin keine Expertin für die Krankheitsbilder der Dissoziativen Identitätsstörung, aber selbst wenn das traumatische Erlebnis nur von einem Persönlichkeitsanteil erinnert werden könnte und der Gesamtperson nicht zur Verfügung stünde, selbst wenn es dissoziative Erinnerungsbarrieren gäbe, auch in diesem Fall müsste es doch möglich sein, Belege dafür zu erbringen, dass die zutage geförderten Erinnerungen korrekt sind – also mit einem tatsächlichen Ereignis übereinstimmen.
Solche Studien gibt es aber ebenfalls nicht.
In derselben Ausgabe (4/2024) räumt die Furche dem Schweizer Psychiater Jan Gysi ein anderthalbseitiges Interview ein.
Gysi war unter anderem im Zusammenhang mit den „haarsträubenden Zuständen an einer der größten psychiatrischen Kliniken des Landes“ (NNZ) bekannt geworden.
Wie die Neue Zürcher Zeitung berichtete, stellte der Gutachter zu den Vorkommnissen am Psychiatriezentrum Münsingen
… Gysi wiederholt als zentrale Figur eines Netzwerks von Therapeuten dar, die das Mind-Control-Konzept in der Schweiz verbreiten würden und die Opfer vor der angeblichen Fernsteuerung durch die Täter schützen wollten.
Im Schweizer Medienportal Blick wird Jan Gysi deshalb als ein „wichtiger Spin Doctor“ der Satanic Panic in der Schweiz bezeichnet. In einem SRF-Podcast taucht Gysi als „Vordenker der [Satanic Panic-] Verschwörungstheorie in der Schweiz“ auf.
Auch Der Spiegel fand Belege dafür, „wie klar Gysi Thesen zur Gedankenkontrolle verbreitete“.
In seinen Stellungnahmen im Spiegel und bei Blick stellte Gysi alles als eine Art Missverständnis dar.
In dem Furche-Interview fabuliert der Psychiater nun von Falscherinnerungen als „Propagandabegriff“ und beklagt eine „massive Hetzjagd“, die „längst die Ebene eines redlichen und sachlichen Diskurses verlassen“ hätte.
Eifrig flankiert von der Interviewerin Dagmar Weidinger, die allen Ernstes von einem „Medienkrieg“ gegen „die gesamte Traumatherapie-Szene in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz“ spricht – wie auch in dem „Memory Wars“-Artikel ihres Kollegen Martin Tauss von der angeblichen Diskreditierung „des ganzen Feldes der Traumatherapie“ die Rede ist.
Das kann man nur als sehr eigenwillige Deutung der kritischen Medienberichte über die Rituelle Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) bezeichnen.
Denn das Hilfskonstrukt vom „Generalverdacht“ gegen die Psychotraumatologie entspringt offenkundig keiner Faktenwahrnehmung, sondern den Interpretationen und Selbstzitaten der Satanic-Panic-Szene.
Der Begriff taucht zum Beispiel auf in einem „Positionspapier zur Debatte über False Memories“ (das unter anderem von der Huberschen „Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“ und von der DGVT unterzeichnet wurde). Auch die umstrittene „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ schreibt von einer „generellen Infragestellung“ von „Berichten über organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt“.
Nur: Niemand von den Kritikern der RG-MC tut dies.
So erklärte im Dezember 2023 der Spiegel-Redakteur Christopher Piltz:
Viele Therapeuten fühlten sich aufgrund unserer Recherche angegriffen. Manche lasen den Text so, als würden wir Traumatherapie oder die Aussagen von Missbrauchsopfern generell infrage stellen.
Dabei schreiben wir das an keiner Stelle.
Manchmal reichten wenige Wörter, und Menschen fühlten sich angegriffen. So trug unser Artikel online die Überschrift „Im Wahn der Therapeuten“. Manche hatten den Eindruck, wir würden eine ganze Branche verurteilen.
Dabei differenzieren wir im Text.
Auch wir haben hier im Blog stets nur von einem „kleinen, sehr speziellen Kreis von Traumatherapeuten“ oder einer „speziellen Traumatherapeuten-Szene“ geschrieben, zum Beispiel hier oder hier.
So ist es auch in der GWUP-Publikation
Rituelle Gewalt und Mind Control: Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?
die im März erscheint.
Der Autor Kai Funkschmidt schreibt darin beispielsweise:
Die Betroffenen [von angeblich satanistisch-rituellem Missbrauch] werden von einer relativ kleinen Gruppe engagierter, gut vernetzter Therapeuten betreut. Diese haben zum einen spezielle Traumatherapien für sie entwickelt und versuchen zum anderen, öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses ihres Erachtens durch die Gesellschaft „tabuisierte“ Verbrechen zu lenken.
Das ist ebensowenig ein „Generalverdacht“ wie der Hinweis darauf, dass
… nur ein kleiner Teil der psychosozialen Praktiker die RG-MC-Theorie unterstützt. (Traumatherapien jenseits des RG-MC-Themas, etwa für Verbrechens- und Unfallopfer, sind seriöse, evidenzbasierte Verfahren, die nicht mit den speziellen „Traumatherapien“ im RG-MC-Zusammenhang zu verwechseln sind.)
Allerdings dominieren beim Thema RG-MC die Anhänger den öffentlichen Diskurs, während Fachwissenschaft und die RG-MC-skeptische Mehrheit der Therapeuten und Berater eher schweigen.
Das ist genau das, was der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, im Januar dem Spiegel sagte – nämlich dass „die haltlosen Theorien zu Programmierung und Geheimkulten über Jahre in Weiterbildungen vorgetragen wurden“, ohne dass sich Widerspruch aus den eigenen Reihen erhob.
Vor diesem Hintergrund ist zu Jan Gysis larmoyanten Rundumschlag gegen die RG-MC-Kritiker damit praktisch alles gesagt:
Suggestive Fehltherapien sind es, die durch iatrogene Scheinerinnerungen die Errungenschaften der seriösen Traumatherapie gefährden – ganz abgesehen vom menschlichen Schaden, den diese Falschtherapien unter vulnerablen Patientengruppen anrichten.
In der aktuellen Ausgabe der Furche (7/2024) meldet sich darüber hinaus der Weltanschauungsbeauftragte der Erzdiözese München, Axel Seegers, zu Wort, der sich seit über 20 Jahren mit dem RG-MC-Narrativ beschäftigt.
Seegers greift Jan Gysis Forderung nach einer „sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung“ auf – merkt dazu aber kritisch an:
Wie derart sinnentstellende und pauschale Vorwürfe mit seinem [Gysis] Wunsch nach einer sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung zusammengehen sollen, bleibt ein Rätsel.
Dass die Fronten verhärtet seien und ein Fortschritt in der Debatte kaum möglich scheine, habe vielerlei Gründe:
Zum einen liegt das sicherlich daran, dass das Thema „rituelle Gewalt“ sehr komplex ist und eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen berührt, ein interdisziplinärer Austausch allerdings schwierig scheint.
Zum anderen führen Vertreter des Narrativs seit Jahren selbst einen ideologischen Kampf mit z.T. unredlichen Mitteln.
Seegers nennt speziell drei Punkte:
Erstens gibt es bis heute keine einheitliche Definition, was unter ritueller Gewalt zu verstehen ist.
Das ist richtig – und kann man zum Beispiel nachvollziehen auf der Webseite des RG-MC-geneigten „Infoportals Rituelle Gewalt“, wo allein 20 Definitionen aufgelistet werden.
Nicht umsonst heißt eine Kapitelüberschrift in der demnächst erhältlichen GWUP-Publikation „Verwirrung durch wechselnde Bezeichnungen“.
Die Absicht hinter diesem bewussten Begriffswirrwarr ist klar, schreibt Funkschmidt darin:
Diese Begriffe verraten zum Teil kaum noch, wie sich das Phänomen RG-MC von „normaler“ sexueller Gewalt durch organisierte Banden und Pädophilennetzwerke unterscheidet.
Dadurch können Außenstehende kaum erkennen, dass die RG-MCTheorie viel mehr beinhaltet als Kindesmissbrauch durch organisierte Verbrecherbanden, dass es sich vielmehr um ein Konstrukt sui generis mit vielen unverzichtbaren Elementen handelt, die über organisierte pädophile Verbrechen hinausgehen.
Durch die Verknüpfung von RG-MC mit sonstigem Kindesmissbrauch soll suggeriert werden, Kritik am RG-MC Konzept impliziere die Verharmlosung oder Leugnung dieses Verbrechens an Kindern.
Seegers weiter:
Zweitens verschweigen Befürworter häufig wesentliche Aspekte des Narrativs.
Auch das ist korrekt, wie etwa die vielen Auslassungen in den beiden Furche-Artikeln von Martin Tauss und Dagmar Weidinger zeigen (vgl. dazu dissoziationen.de).
Seegers weiter:
Drittens ist seit Jahren in der Szene eine Immunisierung gegen Kritik feststellbar. Wer Zweifel formuliert oder wissenschaftliche Kritik anbringt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Missbrauch und Gewalt zu verharmlosen und Organisierte Kriminalität zu leugnen.
Auch hier muss man Seegers vollumfänglich zustimmen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen:
Was also bleibt von Gysis Wunsch nach einer „sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung“?
Nichts – solange die „Forschungsprojekte“ in diesem Bereich kaum mehr beinhalten als die immergleichen anonymen Online-Befragungen von selbstdefinierten Betroffenen, die von den immergleichen Szene-Protagonisten konzipiert und ausgewertet werden.
Daher fordert Funkschmidt in der bald verfügbaren 120-seitigen GWUP-Publikation einen gänzlich anderen Studienansatz:
Inhaltlich sollte es dabei nicht wie bisher primär um die Erhebung des Ausmaßes von RG-MC durch Umfragen gehen, nicht um die Jagd nach Tätern, nicht um Elitenverschwörungen und nicht um die Frage, wie man träge Ermittlungsbehörden und eine ahnungslose Öffentlichkeit besser aufrütteln könnte.
Untersuchungsgegenstand sollten darum, wie zuletzt in der Schweiz, die speziellen Traumatherapien sein, die im Umfeld der RG-MC-Theorie propagiert und praktiziert werden. Die Schweizer Untersuchungen geben gute methodische Hinweise, welche Fragen im Zusammenhang solcher unabhängiger Studien zu klären sind: Wie wirksam sind diese Therapien? Kann man ihren Erfolg messen?
Solange solche neutralen Untersuchungen unterbleiben und staatliche Stellen wie die UBSKM und das Bundesfamilienministerium die RG-MC-Theorie aktiv verbreiten, bleibt man diesen falsch therapierten Patientinnen die angemessene Hilfe schuldig.
Zum Weiterlesen:
- „Memory Wars“: Kampf um Erinnerung, furche.at am 24. Januar 2024
- Jan Gysi: „Wir sind mit einer Hetzjagd konfrontiert“, furche.at am 24. Januar 2024
- „Memory Wars“: Im Zeichen eines fragwürdigen Narrativs, furche.at am 14. Februar 2024
- Verdrängte Erinnerungen: Ein Klischee, für dessen Wahrheitsgehalt Beweise fehlen, GWUP-Blog am 23. August 2023
- Skeptiker-Interview mit Aileen Oeberst: „Keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“, GWUP-Blog am 20. Juni 2023
- „Keinerlei empirische Evidenz“ für die Grundannahmen der Satanic Panic-Verschwörungstheorie, GWUP-Blog am 12. Februar 2024
- Grams‘ Sprechstunde: False Memories – Gedanken im Nachhinein konstruieren, spektrum am 7. Juli 2023
- Satanic Panic: Der bizarre Streit in der Psychiatrie zieht immer weitere Kreise, NZZ am 24. August 2023
- Unfassbar: Drei Suizide von Patientinnen an psychiatrischer Klinik wegen „Satanic Panic“? GWUP-Blog am 24. November 2022
- Neuer SRF-Podcast: Der Vordenker und Netzwerker der „Satanic Panic“ in der Schweiz? GWUP-Blog am 28. Juni 2023
- „Unhaltbare Thesen“: Die Verschwörungsideologie vom satanistisch-rituellen Missbrauch gerät immer mehr unter Druck, GWUP-Blog am 10. November 2023
- War alles gar nicht so gemeint: Renommierte Fachleute treten von der Satanic-Panic-Ideologie zurück – aber nur halbherzig, GWUP-Blog am 19. November 2023
- Satanic Panic: „Böhmermann hat nichts falsch gemacht“, urteilt die größte psychiatrische Fachgesellschaft Deutschlands, GWUP-Blog am 28. Januar 2024
- Differences Between True and False Autobiographical Memories: A Scoping Review, European Psychologist, January 2024
- Podcast: Susanna Niehaus spricht über Scheinerinnerungen, orf am 29. Juli 2023
- Österreich: Keine „Insel der Seligen“, dissoziationen.de am 14. Februar 2024