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Rituelle Gewalt-Mind Control: Protagonisten fabulieren einen „Generalverdacht“ herbei – wir fordern einen neuen Ansatz

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Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Protagonisten der „Satanic Panic“ im deutschprachigen Raum von der aggressiven Abwehr der gut belegten Vorwürfe zur „Opfer“-Attitüde übergehen würden.

Ein willfähriges Medium dafür haben sie in der österreichischen Wochenzeitung Die Furche gefunden.

In einem Artikel vom Januar (4/2024) verteidigt das Blatt längst widerlegte Behauptungen zum Thema Gedächtnis und Erinnerung. Der ganzseitige Beitrag fokussiert weitschweifig darauf, dass

… schreckliche Ereignisse aus der Kindheit so abgespalten werden können, dass man lange Zeit nichts davon weiß – und Erinnerungsfragmente erst im Erwachsenenalter ins Bewusstsein zu treten beginnen.

Das ist falsch.

Die Entscheidung in den „Memory Wars“, von denen die Furche schreibt, ist bereits „vor Jahrzehnten gefallen und sie steht bis heute“, erklärte Sebastian Herrmann letzten Sommer.

In einem Skeptiker-Interview (2/2023) führte die Psychologin Prof. Aileen Oeberst aus, es gebe „keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“.

Unisono äußerten sich kürzlich die Professorinnen für Rechtspsychologie Silvia Gubi-Kelm (Hamburg) und Luise Greuel (Bremen) im Report Psychologie:

Die wissenschaftlich fundierte psychotraumatologische Forschung kommt in Übereinstimmung mit den Befunden aus der gedächtnis- und aussagepsychologischen Forschung zu dem Ergebnis, dass emotional bedeutungsvolle und somit auch traumatische Erlebnisse in der Regel besonders gut und langfristig erinnert werden.

Zu dem Furche-Geraune von der dissoziativen Amnesie („Traumatische Erinnerungen sind dissoziiert“, laut Bessel van der Kolk) sagte Oeberst im Skeptiker:

Ich bin keine Expertin für die Krankheitsbilder der Dissoziativen Identitätsstörung, aber selbst wenn das traumatische Erlebnis nur von einem Persönlichkeitsanteil erinnert werden könnte und der Gesamtperson nicht zur Verfügung stünde, selbst wenn es dissoziative Erinnerungsbarrieren gäbe, auch in diesem Fall müsste es doch möglich sein, Belege dafür zu erbringen, dass die zutage geförderten Erinnerungen korrekt sind – also mit einem tatsächlichen Ereignis übereinstimmen.

Solche Studien gibt es aber ebenfalls nicht.

In derselben Ausgabe (4/2024) räumt die Furche dem Schweizer Psychiater Jan Gysi ein anderthalbseitiges Interview ein.

Gysi war unter anderem im Zusammenhang mit den „haarsträubenden Zuständen an einer der größten psychiatrischen Kliniken des Landes“ (NNZ) bekannt geworden.

Wie die Neue Zürcher Zeitung berichtete, stellte der Gutachter zu den Vorkommnissen am Psychiatriezentrum Münsingen

… Gysi wiederholt als zentrale Figur eines Netzwerks von Therapeuten dar, die das Mind-Control-Konzept in der Schweiz verbreiten würden und die Opfer vor der angeblichen Fernsteuerung durch die Täter schützen wollten.

Im Schweizer Medienportal Blick wird Jan Gysi deshalb als ein „wichtiger Spin Doctor“ der Satanic Panic in der Schweiz bezeichnet. In einem SRF-Podcast taucht Gysi als „Vordenker der [Satanic Panic-] Verschwörungstheorie in der Schweiz“ auf.

Auch Der Spiegel fand Belege dafür, „wie klar Gysi Thesen zur Gedankenkontrolle verbreitete“.

In seinen Stellungnahmen im Spiegel und bei Blick stellte Gysi alles als eine Art Missverständnis dar.

In dem Furche-Interview fabuliert der Psychiater nun von Falscherinnerungen als „Propagandabegriff“ und beklagt eine „massive Hetzjagd“, die „längst die Ebene eines redlichen und sachlichen Diskurses verlassen“ hätte.

Eifrig flankiert von der Interviewerin Dagmar Weidinger, die allen Ernstes von einem „Medienkrieg“ gegen „die gesamte Traumatherapie-Szene in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz“ spricht – wie auch in dem „Memory Wars“-Artikel ihres Kollegen Martin Tauss von der angeblichen Diskreditierung „des ganzen Feldes der Traumatherapie“ die Rede ist.

Das kann man nur als sehr eigenwillige Deutung der kritischen Medienberichte über die Rituelle Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) bezeichnen.

Denn das Hilfskonstrukt vom „Generalverdacht“ gegen die Psychotraumatologie entspringt offenkundig keiner Faktenwahrnehmung, sondern den Interpretationen und Selbstzitaten der Satanic-Panic-Szene.

Der Begriff taucht zum Beispiel auf in einem „Positionspapier zur Debatte über False Memories“ (das unter anderem von der Huberschen „Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation“ und von der DGVT unterzeichnet wurde). Auch die umstrittene „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ schreibt von einer „generellen Infragestellung“ von „Berichten über organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt“.

Nur: Niemand von den Kritikern der RG-MC tut dies.

So erklärte im Dezember 2023 der Spiegel-Redakteur Christopher Piltz:

Viele Therapeuten fühlten sich aufgrund unserer Recherche angegriffen. Manche lasen den Text so, als würden wir Traumatherapie oder die Aussagen von Missbrauchsopfern generell infrage stellen.

Dabei schreiben wir das an keiner Stelle.

Manchmal reichten wenige Wörter, und Menschen fühlten sich angegriffen. So trug unser Artikel online die Überschrift „Im Wahn der Therapeuten“. Manche hatten den Eindruck, wir würden eine ganze Branche verurteilen.

Dabei differenzieren wir im Text.

Auch wir haben hier im Blog stets nur von einem „kleinen, sehr speziellen Kreis von Traumatherapeuten“ oder einer „speziellen Traumatherapeuten-Szene“ geschrieben, zum Beispiel hier oder hier.

So ist es auch in der GWUP-Publikation

Rituelle Gewalt und Mind Control: Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?

die im März erscheint.

Der Autor Kai Funkschmidt schreibt darin beispielsweise:

Die Betroffenen [von angeblich satanistisch-rituellem Missbrauch] werden von einer relativ kleinen Gruppe engagierter, gut vernetzter Therapeuten betreut. Diese haben zum einen spezielle Traumatherapien für sie entwickelt und versuchen zum anderen, öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses ihres Erachtens durch die Gesellschaft „tabuisierte“ Verbrechen zu lenken.

Das ist ebensowenig ein „Generalverdacht“ wie der Hinweis darauf, dass

… nur ein kleiner Teil der psychosozialen Praktiker die RG-MC-Theorie unterstützt. (Traumatherapien jenseits des RG-MC-Themas, etwa für Verbrechens- und Unfallopfer, sind seriöse, evidenzbasierte Verfahren, die nicht mit den speziellen „Traumatherapien“ im RG-MC-Zusammenhang zu verwechseln sind.)

Allerdings dominieren beim Thema RG-MC die Anhänger den öffentlichen Diskurs, während Fachwissenschaft und die RG-MC-skeptische Mehrheit der Therapeuten und Berater eher schweigen.

Das ist genau das, was der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Prof. Andreas Meyer-Lindenberg, im Januar dem Spiegel sagte – nämlich dass „die haltlosen Theorien zu Programmierung und Geheimkulten über Jahre in Weiterbildungen vorgetragen wurden“, ohne dass sich Widerspruch aus den eigenen Reihen erhob.

Vor diesem Hintergrund ist zu Jan Gysis larmoyanten Rundumschlag gegen die RG-MC-Kritiker damit praktisch alles gesagt:

Suggestive Fehltherapien sind es, die durch iatrogene Scheinerinnerungen die Errungenschaften der seriösen Traumatherapie gefährden – ganz abgesehen vom menschlichen Schaden, den diese Falschtherapien unter vulnerablen Patientengruppen anrichten.

In der aktuellen Ausgabe der Furche (7/2024) meldet sich darüber hinaus der Weltanschauungsbeauftragte der Erzdiözese München, Axel Seegers, zu Wort, der sich seit über 20 Jahren mit dem RG-MC-Narrativ beschäftigt.

Seegers greift Jan Gysis Forderung nach einer „sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung“ auf – merkt dazu aber kritisch an:

Wie derart sinnentstellende und pauschale Vorwürfe mit seinem [Gysis] Wunsch nach einer sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung zusammengehen sollen, bleibt ein Rätsel.

Dass die Fronten verhärtet seien und ein Fortschritt in der Debatte kaum möglich scheine, habe vielerlei Gründe:

Zum einen liegt das sicherlich daran, dass das Thema „rituelle Gewalt“ sehr komplex ist und eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen berührt, ein interdisziplinärer Austausch allerdings schwierig scheint.

Zum anderen führen Vertreter des Narrativs seit Jahren selbst einen ideologischen Kampf mit z.T. unredlichen Mitteln.

Seegers nennt speziell drei Punkte:

Erstens gibt es bis heute keine einheitliche Definition, was unter ritueller Gewalt zu verstehen ist.

Das ist richtig – und kann man zum Beispiel nachvollziehen auf der Webseite des RG-MC-geneigten „Infoportals Rituelle Gewalt“, wo allein 20 Definitionen aufgelistet werden.

Nicht umsonst heißt eine Kapitelüberschrift in der demnächst erhältlichen GWUP-Publikation „Verwirrung durch wechselnde Bezeichnungen“.

Die Absicht hinter diesem bewussten Begriffswirrwarr ist klar, schreibt Funkschmidt darin:

Diese Begriffe verraten zum Teil kaum noch, wie sich das Phänomen RG-MC von „normaler“ sexueller Gewalt durch organisierte Banden und Pädophilennetzwerke unterscheidet.

Dadurch können Außenstehende kaum erkennen, dass die RG-MCTheorie viel mehr beinhaltet als Kindesmissbrauch durch organisierte Verbrecherbanden, dass es sich vielmehr um ein Konstrukt sui generis mit vielen unverzichtbaren Elementen handelt, die über organisierte pädophile Verbrechen hinausgehen.

Durch die Verknüpfung von RG-MC mit sonstigem Kindesmissbrauch soll suggeriert werden, Kritik am RG-MC Konzept impliziere die Verharmlosung oder Leugnung dieses Verbrechens an Kindern.

Seegers weiter:

Zweitens verschweigen Befürworter häufig wesentliche Aspekte des Narrativs.

Auch das ist korrekt, wie etwa die vielen Auslassungen in den beiden Furche-Artikeln von Martin Tauss und Dagmar Weidinger zeigen (vgl. dazu dissoziationen.de).

Seegers weiter:

Drittens ist seit Jahren in der Szene eine Immunisierung gegen Kritik feststellbar. Wer Zweifel formuliert oder wissenschaftliche Kritik anbringt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Missbrauch und Gewalt zu verharmlosen und Organisierte Kriminalität zu leugnen.

Auch hier muss man Seegers vollumfänglich zustimmen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen:

Was also bleibt von Gysis Wunsch nach einer „sachlichen und respektvollen thematischen Auseinandersetzung“?

Nichts – solange die „Forschungsprojekte“ in diesem Bereich kaum mehr beinhalten als die immergleichen anonymen Online-Befragungen von selbstdefinierten Betroffenen, die von den immergleichen Szene-Protagonisten konzipiert und ausgewertet werden.

Daher fordert Funkschmidt in der bald verfügbaren 120-seitigen GWUP-Publikation einen gänzlich anderen Studienansatz:

Inhaltlich sollte es dabei nicht wie bisher primär um die Erhebung des Ausmaßes von RG-MC durch Umfragen gehen, nicht um die Jagd nach Tätern, nicht um Elitenverschwörungen und nicht um die Frage, wie man träge Ermittlungsbehörden und eine ahnungslose Öffentlichkeit besser aufrütteln könnte.

Untersuchungsgegenstand sollten darum, wie zuletzt in der Schweiz, die speziellen Traumatherapien sein, die im Umfeld der RG-MC-Theorie propagiert und praktiziert werden. Die Schweizer Untersuchungen geben gute methodische Hinweise, welche Fragen im Zusammenhang solcher unabhängiger Studien zu klären sind: Wie wirksam sind diese Therapien? Kann man ihren Erfolg messen?

Solange solche neutralen Untersuchungen unterbleiben und staatliche Stellen wie die UBSKM und das Bundesfamilienministerium die RG-MC-Theorie aktiv verbreiten, bleibt man diesen falsch therapierten Patientinnen die angemessene Hilfe schuldig.

Zum Weiterlesen:

  • „Memory Wars“: Kampf um Erinnerung, furche.at am 24. Januar 2024
  • Jan Gysi: „Wir sind mit einer Hetzjagd konfrontiert“, furche.at am 24. Januar 2024
  • „Memory Wars“: Im Zeichen eines fragwürdigen Narrativs, furche.at am 14. Februar 2024
  • Verdrängte Erinnerungen: Ein Klischee, für dessen Wahrheitsgehalt Beweise fehlen, GWUP-Blog am 23. August 2023
  • Skeptiker-Interview mit Aileen Oeberst: „Keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“, GWUP-Blog am 20. Juni 2023
  • „Keinerlei empirische Evidenz“ für die Grundannahmen der Satanic Panic-Verschwörungstheorie, GWUP-Blog am 12. Februar 2024
  • Grams‘ Sprechstunde: False Memories – Gedanken im Nachhinein konstruieren, spektrum am 7. Juli 2023
  • Satanic Panic: Der bizarre Streit in der Psychiatrie zieht immer weitere Kreise, NZZ am 24. August 2023
  • Unfassbar: Drei Suizide von Patientinnen an psychiatrischer Klinik wegen „Satanic Panic“? GWUP-Blog am 24. November 2022
  • Neuer SRF-Podcast: Der Vordenker und Netzwerker der „Satanic Panic“ in der Schweiz? GWUP-Blog am 28. Juni 2023
  • „Unhaltbare Thesen“: Die Verschwörungsideologie vom satanistisch-rituellen Missbrauch gerät immer mehr unter Druck, GWUP-Blog am 10. November 2023
  • War alles gar nicht so gemeint: Renommierte Fachleute treten von der Satanic-Panic-Ideologie zurück – aber nur halbherzig, GWUP-Blog am 19. November 2023
  • Satanic Panic: „Böhmermann hat nichts falsch gemacht“, urteilt die größte psychiatrische Fachgesellschaft Deutschlands, GWUP-Blog am 28. Januar 2024
  • Differences Between True and False Autobiographical Memories: A Scoping Review, European Psychologist, January 2024
  • Podcast: Susanna Niehaus spricht über Scheinerinnerungen, orf am 29. Juli 2023
  • Österreich: Keine „Insel der Seligen“, dissoziationen.de am 14. Februar 2024

14 Kommentare

  1. Dissoziative Amnesien sind x-fach belegt und Stand der Traumaforschung. Hier gibt es ein Archiv mit Belegen zu recovered memories. Was sagen die Skeptiker denn dazu?
    „Corroborated cases of recovered memory have been observed in legal, clinical, and other settings, with a variety of corroborating factors from documentary physical evidence to perpetrator confession. This archive compiles a selection of these cases, focusing on those with significant corroborating evidence.“
    https://www.recoveredmemory.org

  2. Zum Thema Prävalenz „Ritueller Gewalt“ gibt es deutlich unterschiedliche Zahlen.

    Im Jahr 2014 hatte man bei einer Erhebung gerade mal 50 Meldungen.

    Briken hatte in seiner Studie, wenn ich es richtig verstehe, 165 Teilnehmende über eine Online-Befragung.

    Die gute Frau Oetken hat bei Spiegelstelle allerdings auch geschrieben, dass gut 20% von 24.000 Anträgen beim Fonds Sexueller Missbrauch in diese Kategorie fallen.

    https://spiegelstelle.de/beitrag?id=69

    In diesem Jahr wurde der Tätigkeitsbericht bei der UBSKM veröffentlicht. Schlecht strukturiert, aber irgendwo findet man auch die ganzen Projekte…wovon einige Zahlen sich wieder auf die tolle Studie von Briken beziehen.

    https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/meldungen/kommission-veroeffentlicht-taetigkeitsbericht-2019-2023/

    Kann man sich auch gut dran orientieren, um die Zahlen ritueller Gewalt zu überprüfen.

  3. @Tom:

    Das ist nicht Ihr Ernst, oder?

    Eine private Kampforganisation gegen die – längst aufgelöste – False Memory Syndrome Foundation in den USA?

    Chris French schreibt dazu:

    The largest archive of cases consists of, at the time of writing, 101 cases of ‘corroborated recovered memories’ (Cheit, 2005). To be included, the case must have ‘strong corroboration’, but this can simply mean testimony from other witnesses (which can be problematic; see Garven et al., 1998). Cases can also be included on the basis of ‘corroboration of significant circumstantial evidence’. In reading through the cases, it appears being found guilty in court is another form of corroboration. Of course, both inclusion in Cheit’s archive and the court decision should be based on other evidence. Critical and detailed scrutiny of many of these cases can lead to a sceptical view of the accuracy of many of these memories. Further, Cheit does not list not remembering the event, and evidence for this, as a criterion. This does not mean that the all the cases on this list are not examples of true recovered memories, only that the requirements to be in this archive are not as stringent as, for example, in Schooler et al. (1997). Theirs is a smaller archive, but one that we feel takes more care to make sure, for example, that there is a period of non-remembering.

    Dass es psychogene Amnesien grundsätzlich geben kann, ist doch nicht die Frage, sondern:

    Wie genau solche zurückgewonnenen Erinnerungen die tatsächlichen vergangenen Ereignisse widerspiegeln, ist eventuell unklar, sofern diese nicht von anderen Personen oder durch Beweise bestätigt werden.

    Und:

    Gerade bei diesen Wiedererinnerungen sind aber mögliche Suggestiveffekte in der aktuellen verbalen Besprechung zu bedenken … Befunde der modernen Gedächtnisforschung begründen eine skeptische Haltung gegenüber einer überzogenen und v. a. monokausal verstandenen Assoziation von Erinnerungsproblemen und traumatischen Einzelereignissen.

  4. @Bernd Harder:
    Aileen Oeberst behauptet doch es gäbe „keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“. Und das ist schlicht falsch.

    Bessel van der Kolk in The Body Keeps the Score über die Studie „L. M. Williams: Recall of Childhood Trauma.“: „One of the most interesting studies of repressed memory was conducted by Dr. Linda Meyer Williams, which began when she was a graduate student in sociology at the University of Pennsylvania in the early 1970s. Williams interviewed 206 girls between the ages of ten and twelve who had been admitted to a hospital emergency room following sexual abuse. Their laboratory tests, as well as the interviews with the children and their parents, were kept in the hospital’s medical records. Seventeen years later Williams was able to track down 136 of the children, now adults, with whom she conducted extensive follow-up interviews. More than a third of the women (38 percent) did not recall the abuse that was documented in their medical records, while only fifteen women (12 percent) said that they had never been abused as children. More than two-thirds (68 percent) reported other incidents of childhood sexual abuse. Women who were younger at the time of the incident and those who were molested by someone they knew were more likely to have forgotten their abuse.

    This study also examined the reliability of recovered memories. One in ten women (16 percent of those who recalled the abuse) reported that they had forgotten it at some time in the past but later remembered that it had happened. In comparison with the women who had always remembered their molestation, those with a prior period of forgetting were younger at the time of their abuse and were less likely to have received support from their mothers. Williams also determined that the recovered memories were approximately as accurate as those that had never been lost: All the women’s memories were accurate for the central facts of the incident, but none of their stories precisely matched every detail documented in their charts.“

  5. @Tom:

    „Aileen Oeberst behauptet doch es gäbe „keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“. Und das ist schlicht falsch.“

    Nein, ist es nicht:

    Obwohl traumatische Ereignisse meist nur zu gut erinnert werden, gibt es auch Fälle, in denen traumatische Vorgänge einer Erinnerungsstörung unterliegen, für die keine physische Ursache gefunden wurde. In den meisten belegten Fällen handelt es sich um zeitweilige oder partielle Amnesie für Einzelheiten des betreffenden Vorgangs und sicher nicht um Verdrängung. Fälle, bei denen die Erinnerung an einen nachgewiesenen traumatischen Vorgang vollständig verloren geht, sind äußerst selten, und methodische Fehler der Studien oder physische Ursachen sind nicht völlig auszuschließen. Einzelheiten zu traumabedingten Amnesien finden sich bei Volbert und McNally.

    https://www.false-memory.de/wissenschaft/verdraengung/

    „Bessel van der Kolk in The Body Keeps the Score über die Studie „L. M. Williams: Recall of Childhood Trauma.“

    Mit den Studien bis 1990 hat sich Holmes[44] kritisch auseinandergesetzt. Weitere Kritik an den Studien findet sich bei H. Pope (1997)[45] und bei McNally (2004)[46]. Alle drei Autoren stellen fest, dass es keinen methodisch einwandfreien Beweis für eine Verdrängung in der dritten Form gibt.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Falsche_Erinnerungen#Verdr%C3%A4ngung_und_Abspaltung

    Für die Theorie des Herrn Kolk (auch im Furche-Artikel erwähnt) gibt es offenbar kaum Evidenz:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Bessel_van_der_Kolk#Fachartikel_The_Body_Keeps_the_Score

    Wer sich von der „Bibel“ der Traumatherapie, dem Buch von Bessel van der Kolk und Mitarbeitern, Klarheit verspricht, wird enttäuscht. Zwar präsentiert das Buch eine schier unübersehbare Menge an Material, wissenschaftliche Originalarbeiten, Therapieberichte, eigene Forschungen des Hauptautors, …, doch wer aufmerksam liest, stellt fest, dass die Auswahl jede wissenschaftliche Kritik vermissen lässt.

    Sorgfältige wissenschaftliche Untersuchungen und pseudowissenschaftliche Arbeiten werden nebeneinander und ohne Kommentar zitiert. Der Hauptautor selbst hat in seinem eigenen Text erstaunliche wissenschaftliche Fehler untergebracht.

    Die Auswahl der Literaturzitate und ihre Interpretation dient unter anderem dazu, eine Lieblingsthese des Hauptautors zu stützen, nämlich dass Traumata bei den Opfern zu Dissoziation führen und diese unfähig machen, das Erlebte in Worte zu fassen, eine Auffassung, die jeder wissenschaftlichen Fundierung entbehrt.

    https://www.false-memory.de/wissenschaft/posttraumatische-belastungsstoerung/

  6. Es ist richtig, dualistisch-verschwörerischen Aufspaltungen der Gesellschaft und Fehlschlüssen aus traumatisierenden Erfahrungen entgegenzutreten.

    In eine völlig andere Richtung gehen allerdings solche Aussagen: „… dass emotional bedeutungsvolle und somit auch traumatische Erlebnisse in der Regel besonders gut und langfristig erinnert werden. …“
    Hier wird m. E. eine Leichtigkeit impliziert, die nach Wolkenkuckucksheim klingt.
    In einer Zeit, in der die hochkomplexen Nachwirkungen individueller früherer Erfahrungen von Gewalt, Kälte, Überforderung etc insbesondere am Beispiel von W. Putin sich derartig kollektiv suizidal auszudehnen beginnen, sollte man vielleicht seine Thesen noch mal revidieren.
    Das früher traumatisierte Opfer wird unter den Amnesien seiner erlittenen Gewalterfahrungen zwanghaft reproduzierend zum Täter, dieser Täter wird dann wiederum durch seine eigenen Taten selber so geschädigt, dass es bis zur Täter-Amnesie kommt, woraus wiederum neuerliche Friktionen erwachsen.
    Da ist nichts „besonders gut“, da will auch gar nicht erst etwas „erinnert“ werden. Da müsste erst ein Klima zum Einleiten des Erinnerns geschaffen werden, indem man der anfänglichen Unfähigkeit zum Erinnern einen Raum der Akzeptation eröffnet.
    Die bagatellisierende Sprache von „besonders gut“ steht m. E. in Zusammenhang mit einer öffentlichen Diskussion, in der die psychologischen Hintergründe schrecklicher Vorgänge kaum noch zur Sprache kommen, schlimmer noch, man gefällt sich darin, endlich mal mit dem „Psychologisieren“ aufzuhören.
    Es scheint so, als sollten die Chancen ausgeschlagen werden, die in der genaueren Erfassung der zugegebenermaßen schmerzlichen Hintergründe liegen.
    Die psychologische Publizistin Alice Miller starb vor einigen Jahren, ratlos, wie es mit ihrem traurigen Lebensthema weitergehen würde. Ganz explizit spricht sie die Möglichkeit eines kollektiven nuklearen Suizids und der gesellschaftlichen Bagatellisierung der psychologischen Hintergründe an, ausgehend bspw von Adolf Hitler

    https://www.alice-miller.com/de/die-kindheit-adolf-hitlers/

    „ …Es genügte der Wahn eines Führers,
    es genügten einige Millionen gut erzogener Bürger, um in wenigen
    Jahren das Leben unzähliger unschuldiger Menschen auszulöschen.
    Wenn wir nicht alles tun, um das Entstehen dieses Hasses zu verstehen,
    werden uns auch die kompliziertesten strategischen Abkommen nicht retten
    können. Die Ansammlung von Nuklearwaffen ist nur ein Symbol für
    die aufgestauten Haßgefühle und die damit zusammenhängende
    Unfähigkeit, die echten Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren.…Um zu zeigen, wie sich die frühe Erniedrigung, Mißhandlung
    und psychische Vergewaltigung eines Kindes in seinem ganzen späteren
    Leben äußern, würde es genügen, die Geschichte einer
    einzigen Analyse ganz minuziös nachzuerzählen. … Hitlers Leben wurde indessen
    bis auf den letzten Tag von sehr vielen Zeugen so genau beobachtet und
    protokolliert, daß man an diesem Material unschwer die Inszenierungen
    der frühen Kindheitssituation aufweisen kann. …“

  7. @Peter Friedrich

    „Fehlschlüssen aus traumatisierenden Erfahrungen entgegenzutreten.“

    Diese Darstellung verharmlost in meinen Augen so einiges.

    Es muss nicht zwingend vorher eine traumatische Erfahrung stattgefunden haben und bei tatsächlich stattgefundenen traumatischen Erfahrungen werden diese noch verfälscht und/oder zusätzliche Traumatisierung hinzugefügt. Dass dies die Aufklärung von Verbrechen erschwert, scheint den wenigsten bewusst zu sein.

    Ein „in der Regel“ gutes Erinnern als Wolkenkuckucksheim zu bezeichnen lässt für mich den Kontext vermissen, dass es sich um Erinnerungen an traumatische Erlebnisse handelt. Für die wenigsten dürfte es angenehm sein, regelmäßig an Missbrauch und Tod denken zu müssen.

    Ob es sinnvoller wäre die Ursache zu betrachten um ein Problem zu lösen ist gewiss diskutabel, wobei wir uns aktuell noch in einer Phase befinden, in der es darum geht das Geschehene überhaupt mal als Problem anzuerkennen.

    Die deutsche Fehlerkultur ist in dem Punkt so richtig „beschissen“, um es mal deutlich auszudrücken.

  8. Mit was für Schwurbeleien wird denn hier argumentiert? Peter Friedrich, ernsthaft? Alice Miller, eine derer, die bei den Verschwörungstheorien ganz oben steht?

    Da weiß man gar nicht, was man dazu schreiben soll, weil das eine Ebene ist, die eigentlich schon lange hinter uns allen liegen sollte.

    Um beim Thema zu bleiben:

    Ja, es gibt psychogene Amnesien. Sogar sehr ausgeprägte. An die Erinnerungen kommt man aber nicht einfach mal so heran, indem eine Dissoziative Identität switcht und eine „Andere“ da ist, die die Erinnerungen bebunkert hat. Das ist Teil der Verschwörungstheorie und keine Wissenschaft.

    Meistens haben psychogenen Amnesien noch nicht einmal konkret etwas mit bestimmten Traumata zu tun. Sie sind Teil einer Gedächtnisstörung und beziehen sich allgemein auf autobiographische Ereignisse. Die Erinnerungen können ohne jeden Einfluss wieder auftauchen oder aber auch nie.

    Das bedeutet, Therapie ist hier noch nicht einmal wirklich notwendig, um an die Erinnerungen heran zu kommen.

    Die reine Traumatherapie hat es (darf ich es salopp sagen?) gründlich „verkackt“.

    Diese ganze Verschwörungsarien rund um die rituelle Gewalt und Dissoziative Identitätsstörung hat die Wissenschaft in dem Bereich bis ins Mark verfälscht, hat sie sogar um Jahrzehnte, wenn nicht sogar um ca hundert Jahre zurück geworfen. Im 19. Jahrhundert war man sehr viel weiter in der Forschung rund um DIS, als man es heute ist.

    Und wieso?

    Weil die Traumatherapie von Beginn an mit Verschwörungstheorien durchzogen war, ja, sogar von den VT-Vorreiter:Innen aufgebaut wurde.

  9. @Sebastian

    Es sollte keine verharmlosende Darstellung sein, ich bezog mich einfach auf das hier thematisierte Problem allgemein, für genauere Definitionen sind ja Sie und Ihre Fachkollegen zuständig, diesbezüglich wollte ich jetzt wirklich keine Diskussion eröffnen. Man soll eben aus diesem belastenden Thema nicht auch noch ein verschwörerisches Geraune machen, das zu dualistischen Aufspaltungen führt und immer wieder einmündet in brandgefährliche Geschichten, wo „die Juden“ „unseren Kindern“ das Blut aussaugen oder dergleichen, es wurde ja hier schon viel über sektiererische Gruppierungen wie QAnon etc erklärt.

    „… Für die wenigsten dürfte es angenehm sein, regelmäßig an Missbrauch und Tod denken zu müssen. …“
    An DIESER Stelle würde für mich tatsächlich eine wichtige und weitreichende Diskussion beginnen…
    Selbstverständlich geht es nicht darum, sich mit belastenden Themen als Selbstzweck gegenseitig Tag für Tag zu deprimieren, vielmehr geht es ja letztlich um ein erfüllenderes Leben, um größere Integrität.
    Bei den im ganzen Land stattfindenden wunderbaren großen Demonstrationen dieser Tage gegen völkisches Gedankengut wird immer wieder ein bekanntes Lied der Band „Die Ärzte“ gespielt, worin der Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem „Schrei nach Liebe“ und einem Dasein als „Arschloch“.
    Darin liegt im Kern eigentlich ein sehr tiefer Gedanke aus der christlichen Existenzphilosophie, den bspw der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider in „Verhüllter Tag“ so ausführte: „Nur eine kranke Welt konnte der Herr betreten“.
    Leonard Cohen singt dazu vom Riss in allem, durch den das Licht durchscheint „There is a crack in everything. That’s how the light gets in.”
    Die Schandtaten von Greueltätern wie Putin bleiben Schandtaten, die bei uns berechtigt Gefühle von Schmerz, Wut oder Hass auslösen, unberührt von philosophischen Gedanken.
    Dahinter aber bieten diese Gedanken eine erweiterte Perspektive zur Integration an, aus der wir ganz neue Kraft schöpfen können: Je schlimmer die Tat, desto deutlicher der „Schrei nach Liebe“ bzw die Chance, das „Licht“ hinter der Düsternis der Täter und ihrer Taten wahrzunehmen, wie es Cohen versucht.

    @Marvel Stella

    „…Nachwirkungen individueller früherer Erfahrungen von Gewalt, Kälte, Überforderung etc … kollektiv suizidal…Das früher traumatisierte Opfer wird unter den Amnesien seiner erlittenen Gewalterfahrungen zwanghaft reproduzierend zum Täter, dieser Täter wird dann wiederum durch seine eigenen Taten selber so geschädigt, dass es bis zur Täter-Amnesie kommt, woraus wiederum neuerliche Friktionen erwachsen…“

    Um diesen Kern herum dreht sich mein Anliegen, also um eine Diskussion, die uns m. E. durch die weltpolitischen Ereignisse hochaktuell nachgerade aufgenötigt wird. Die blinden Inszenierungen früherer Erfahrungen in eine zeitlich versetzte Phase. Man schlägt gegen eine überwältigend verängstigende Bedrohung bzw. deren subjektiv erlebte Existenz, indem man 50-60 Jahre später Raketen und Granaten in ukrainische Wohnhäuser schießt. Wer dazu was gesagt hat soll zweitrangig sein.

  10. @Peter Friedrich:

    Man schlägt gegen eine überwältigend verängstigende Bedrohung bzw. deren subjektiv erlebte Existenz, indem man 50-60 Jahre später Raketen und Granaten in ukrainische Wohnhäuser schießt.

    Das mag ja alles sein, aber was hat das mit dem Thema „Rituelle Gewalt-Mind Control“ zu tun?

    Nichts von dieser Verschwörungstheorie hat auch nur am Rande irgendetwas mit seriöser Traumatherapie gemein.

    Was immer Putin Ihrer Auffassung nach in seiner Kindheit erlebt haben mag – es hatte ganz sicher nichts mit „satanistisch-rituellem Missbrauch“ zu tun.

  11. @Bernd Harder

    Ich befürchte, dass durch den Umgang mit dem Satanismus-Thema, der ja für sich genommen richtig sein mag, die Neigung zu anti-psychologischen Betrachtungsweisen verstärkt wird.
    Auf dieses Dilemma wollte ich ein Schlaglicht werfen.
    Aber es stimmt schon, eigentlich gehört es nicht unmittelbar hierhin.
    Man könnte nochmal bei dem Ukraine-Thread weitermachen, wegen der psychologischen Hintergründe der Zerstörungswut.

  12. @Peter Friedrich

    Es freut mich, dass Sie sich anscheinend an Musik erfreuen können. Darüber hinaus schließe ich mich an, dass Ihre Ausführungen am Thema vorbei sind.

    “ für genauere Definitionen sind ja Sie und Ihre Fachkollegen zuständig“

    Es ist eher traurig, dass ich kein Fachkollege bin und es trotzdem genauer definieren könnte als so manch anderer vom Fach.

    Inzwischen betrachte ich mich als indirekt Betroffener. Mir und „meiner“ Familie wurde durch diesen Blödsinn ein extremer Schaden zugefügt und die jüngste Person wird ihr Leben lang dadurch Nachteile haben – während den Erwachsenen „nur“ mehrere Jahres ihres Lebens gestohlen wurden, wobei in dieser Hinsicht noch total offen ist, ob diese Jahre bis Lebensende gezählt werden müssen.

    Mir ist bewusst, dass manche Probleme einem erst verständlich werden, wenn man selbst derjenige mit dem Problem ist – dies wünsche ich allerdings niemanden.

  13. @Marvel Stella

    Peter Friedrich meinte Alice Miller, nicht Allison Miller.

    Allison Miller kommt übrigens aus der Kleinstadt Victoria in British Columbia, genauso wieder Arzt und seine Patientin aus „Michelle remembers“.

    Den Doku „Satan wants you“ über die Entstehung des Buches mit Zeitzeugen kann man hier sehen:

    https://tubitv.com/movies/100007015/satan-wants-you

    Man muss sich nicht anmelden, es gibt aber Werbung zwischendurch. Und man muss einen Proxy-Server nutzen z.B. anonymoX, der so tut, als käme man aus den USA.

  14. @Nicole:

    Verbindlichsten Dank.

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