gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Verdrängte Erinnerungen: Ein Klischee, für dessen Wahrheitsgehalt Belege fehlen

| 10 Kommentare

Nach dem Spiegel kritisiert auch die Süddeutsche Zeitung die Rolle des Bundesfamilienministeriums bei der Aufklärung in Sachen False Memories und Satanic Panic.

In dem heutigen Artikel „In der Kindheit verirrt“ (online: „Damals auf dem Drachenboot“) schreibt der Wissenschaftsjournalist Sebastian Herrmann:

Für viele wirken die Erkenntnisse zu falschen Erinnerungen wie ein Affront. Auf der vom Bundesfamilienministerium geförderten Webseite wissen-schafft-hilfe.org, die Hilfsangebote für Betroffene sexueller Gewalt bündelt, wird das Thema zum Beispiel diskreditiert.

Die Autoren, auf die sich die Betreiber berufen, tun das Phänomen falscher Erinnerungen sinngemäß als Erfindung des Neoliberalismus ab, und als ideologisch motiviert.

Dabei ist der Stand der Wissenschaft eindeutig:

„Es gibt keine empirische Evidenz für den Mechanismus der Verdrängung traumatischer Erinnerungen, im Gegenteil“, sagt die Psychologin Aileen Oeberst von der Fernuniversität Hagen, die zu falschen Erinnerungen forscht. Vielmehr könnten sich Menschen an gravierende, traumatische Ereignisse meist besonders gut erinnern.

Das kann man auch in unserem Skeptiker-Interview mit Prof. Oeberst nachlesen.

Und wird unterstrichen von der Rechtspsychologin und Gerichtsgutachterin Anja Kannegießer von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster:

Schlimme Erlebnisse erinnert man in aller Regel.

Trotzdem lebe die wohl von Sigmund Freud inspirierte Vorstellung, Schlimmes werde in den Kellerregalen des Unterbewusstseins versteckt, bis es wieder geborgen wird, erklärt Herrmann weiter:

In Krimis zählt es zu den abgenutzten Zutaten, dass sich jemand durch einen Auslöser plötzlich an schreckliche Ereignisse erinnert. Ein Klischee, für dessen Wahrheitsgehalt Belege fehlen. Wofür hingegen überwältigende Evidenz existiert: wie leicht sich falsche Erinnerungen erzeugen lassen.

Dass das Thema keineswegs trivial ist, verdeutlicht der SZ-Redakteur an handfesten Belegen:

Die Entscheidung in den „Memory Wars“ zwischen Gedächtnisforschern und Klinikern ist vor Jahrzehnten gefallen, und sie steht bis heute, eigentlich. Doch nun erlebt der Glaube an unterdrückte traumatische Erinnerungen eine Wiederauferstehung.

Besonders unter Millennials und Angehörigen der Generation Z gebe es eine Neuauflage, schreiben die Psychologen Steven Jay Lynn, Richard McNally und Elizabeth Loftus im Fachjournal Clinical Psychological Science. Laut einer Überblickarbeit von 2019 glaubten 78 Prozent der Befragten aus den USA, Großbritannien, Norwegen, Südafrika und den Niederlanden, dass traumatische Erinnerungen oft unterdrückt würden. Auch aktuelle Zahlen aus Frankreich zeigen, dass dieser Glaube verbreitet ist, wie Psychologen um Olivier Dodier auf PsyArXiv berichten.

Gegenwärtig entstehe sogar „ein Nährboden für die Ausbildung von Scheinerinnerungen, die sowohl in der Psychotherapie als auch in Strafverfahren Leiden verursachen“, schreiben auch die Psychologen Susanna Niehaus und Andreas Krause in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform.

Wie sollte dem Phänomen begegnet werden?

Vermutlich helfe nur Aufklärung,

heißt es am Ende des Artikels.

Die muss derzeit noch gegen die Politik erfolgen, wie auch wieder eine „Bürgeranfrage“ zum Thema rituelle Gewalt zeigt.

Zum Weiterlesen:

  • Satanic Panic: „Systematische Fehlinformationen“ von hochoffizieller Stelle verhindern die kritische Aufarbeitung, GWUP-Blog am 9. Juni 2023
  • Rituelle Gewalt-Mind Control: Eine Verschwörungsideologie bedroht wissenschaftlich fundierte Standards, GWUP-Blog am 30. Mai 2023
  • False-memory-Syndrom: Gedanken im Nachhinein konstruieren, Grams‘ Sprechstunde am 6. Juli 2023
  • Skeptiker-Interview mit Aileen Oeberst: „Keine überzeugende Evidenz für das Phänomen der verdrängten Erinnerungen“, GWUP-Blog am 20. Juni 2023
  • Podcast: „How False Memories can trick your mind“ mit Julia Shaw vom 10. August 2023

10 Kommentare

  1. welche SZ-Ausgabe ist das (für Print)?

  2. Selbstverständlich können sich schreckliche Erfahrungen in der Erinnerung verdunkeln.

    Die besorgniserregende Option, dass Erinnerungen mißbräuchlich von außen eingegeben werden können, sollte allemal nicht zu grotesken Verstiegenheiten führen.

    Ganze Dimensionen unseres menschlichen Innenlebens, hunderte Generationen an Rätsel, Leiden und Hoffnung einfach wegzuerklären kann nicht angehen.

  3. @Peter Friedrich:

    „Verdunkeln“ ist aber etwas anderes als das Narrativ der „verdrängten Erinnerungen“, das davon ausgeht, dass die Missbrauchserlebnisse vollständig ausgelöscht werden, weil die Opfer durch geheime, von den Verschwörern entdeckte Foltermethoden im Kindes- oder Säuglingsalter gezielt in verschiedene Persönlichkeiten „aufgespalten“ worden sind, und dass diese „Erinnerungen“ auch noch Jahrzehnte später mit therapeutischer Hilfe und immer detailreicher aufgedeckt werden können.

    Dazu Prof. Oeberst:

    Studien fanden bei Menschen mit nachgewiesenen traumatischen Erlebnissen, wie etwa Holocaust-Überlebende, Soldatinnen und Soldaten in Kriegseinsätzen oder Verbrechensopfer, keinerlei Hinweise auf ein komplettes Verdrängen oder Nichterinnern-Können. Im Gegenteil, diese Betroffenen leider darunter, nicht vergessen zu können, die Bilder nicht aus dem Kopf zu kriegen. Also Ereignisse, von denen man erwarten könnte, dass sie verdrängt werden, werden nicht verdrängt.

  4. @Bernd Harder

    Über dieses Verschwörer-Narrativ sind wir uns ja völlig einig.

    Was Prof. Oeberst anspricht ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in uns stattfinden kann. Damit blendet sie ja die ganze verworrene Tragik unserer Existenz weitgehend aus.
    Wofür ist sie dann eigentlich Psychologin? Sie müsste ja dann nur die bequemerweise stets präsenten quälenden Erinnerungen beruhigen, die aufgewühlte Gehirnchemie zurück in ihre Ordnung bringen, etwa durch Medikamente, dann ist die Welt wieder schön.

    Ganz anders ist es, als Beispiel:
    Jemand, der sehr früh sehr belastende Erfahrungen gemacht hat und dann später wie unter Zwang seine Kinder quält, in einer schrecklichen Ambivalenz von Liebe zu seinem Kind und dem Austoben früherer nicht verarbeiteter Demütigungserfahrungen etc an genau diesem Kind. Der Täter will das eigentlich nicht, niemand wollte es, aber es passiert.
    Und als älterer Mensch fragt er sich, was man ihm da eigentlich vorwirft. Er kann nicht sein Kind mißhandelt haben, ein solcher Gedanke kann und darf nicht in den Bereich seines Bewusstseins eindringen. Alle Beteiligten leiden in einer fortwährenden Tragik.

  5. @Peter Friedrich:

    Was Prof. Oeberst anspricht ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in uns stattfinden kann.

    Das mag ja sein, aber Prof. Oeberst ist keine Therapeutin, sondern Forscherin, und dieser Ausschnitt (und zwangsläufig auch das damit häufig verbundene Verschwörer-Narrativ) ist ihr Arbeitsschwerpunkt.

    Das heißt m.E. nicht zwingend, dass sie alles übrige unserer Existenz ausblendet.

  6. @Peter Friedrich

    In Ihren Beispielen werden, für mein Verständnis, viele Themen vermischt, die nichts mit Gedächtnis zu tun haben.

    Verdrängung als aktiven Prozess, der viel Energie kostet weil ein Vergessen nicht möglich ist, wird es geben.

    Ebenso wird es ein fehlendes Verständnis von „richtig“ und „falsch“ geben, weil man es selbst nie anders erfahren hat.

    Wenn jemand das Leid aus seiner Kindheit an eigenen Kindern wiederholt, hat dies in meinen Augen auch nichts mit Vergessen zu tun.

    So wie ich es sehe geht es in der ganzen Diskussion auch nicht darum das Leiden von Menschen zu verneinen, sondern die korrekte Ursache zu finden und Behandlungsmethoden anzuwenden, die sich wirklich mit dem Problem beschäftigen anstatt einer bequemen Schuldverschiebung.

  7. In der Schweiz wird wohl gerade die Deutsche-Taktik versucht

    „Satanic Panic“: Therapeuten klagen über eine Hexenjagd

    https://www.nzz.ch/schweiz/wirbel-um-satanic-panic-therapeuten-und-traumatisierte-fuehlen-sich-einer-hexenjagd-ausgesetzt-ld.1750515

  8. Opferberatungsstelle Castagna:

    „Krude Theorien im Vereins-Beirat“

  9. „Lunis“ erklärt in ihrem neuesten Video ernsthaft, dass sie in Mengele einen Vorreiter der „Mind-Control“ sieht…

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.