Einmal, so steht es in der aktuellen Ausgabe von Zeit Verbrechen (28/2024), soll ein deutsches Gericht ernsthaft auf den Gedanken gekommen sein, eine Zeugin könne „tatsächlich mediale Fähigkeiten“ besitzen.
Das war 2006, bei einem Mordprozess vor dem Landgericht Freiburg.
Eine „Seherin“ hatte angeblich den entscheidenden Hinweis gegeben, der zur Entdeckung der Geldbörse einer vermissten 41-Jährigen in einem Waldstück bei Wehr (Landkreis Waldshut, Baden-Württemberg) führte.
Als die Frau und ihre elf Jahre alte Tochter schließlich tot aufgefunden wurden, avancierte das schwarze Mäppchen für die Ermittler zum wichtigen Indiz. Sie gingen davon aus, dass der Ehemann der Toten das Kartenetui mit Scheck- und Krankenkassenkarten nahe dem eigenen Haus versteckt hatte, „um später den Mord an seiner Frau und seiner Tochter zu verschleiern, indem er mithilfe der Karten ein Weiterleben der Toten an einem fernen Ort inszeniert“, schreibt die Zeit-Autorin.
2011 wurde der Mann zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.
Dass die Umstände des Börsenfunds „rätselhaft“ waren, räumten die Richter durchaus ein. Möglicherweise gebe es dafür auch eine rationale Erklärung.
Die lieferte im Grunde Der Spiegel, der 2009 unter der Überschrift „Das Medium und der Polizist“ über den Fall berichtete.
Reporter Jürgen Dahlkamp beschrieb in seinem Artikel ein eigentümliches Bündnis zwischen einem okkultgläubigen Ermittler (A.) der Kripo Waldshut-Tiengen, der Schwester der Ermordeten (H.) und einer ortsansässigen „Hellseherin“ (F.) – plus einem Waldarbeiter und dessen Sohn.
Dahlkamp zufolge hielt das Gericht „die merkwürdig präzise Vorhersage der Fundumstände durch die Seherin, wie sie von Polizist A. und der Schwester H. bestätigt wurde“, für vernachlässigbar. Irgendwie merkwürdig, das alles, mehr aber nicht.
Dahlkamp:
Merkwürdig war eher, dass sich das Gericht für all die Merkwürdigkeiten nicht sehr interessierte: beispielsweise den Zufall, dass der Arbeiter ausgerechnet den Stein verschoben haben soll, unter dem das Mäppchen lag, einen 46 Kilo schweren Findling. Genau dieser Waldarbeiter wohnte auch noch keine 150 Meter von der Schwester entfernt – angeblich, ohne dass man sich kannte.
Wörtlich heißt es im Urteil:
Nur durch Zufall verkeilte sich ein Ast mit einem etwa 40 mal 20 mal 30 cm großen Findling, wodurch dieser zur Seite geschoben wurde […] Dass es sich bei der Ablage unter dem Findling um ein Versteck für das Kartenmäppchen handelte, schließt die Kammer […] aus der besonderen Lage des Mäppchens. Es lag nach den Angaben des Zeugen … an einer nur schlecht zugänglichen Stelle.
Nach der Schilderung des Zeugen musste man zum Erreichen des Steins erst eine steile Böschung am Rande des Waldwegs überwinden und danach mehrere Meter steil bergauf durch unwegsames Gelände laufen […] Das Auffinden durch den Zeugen … war schließlich auch nur einer Verkettung mehrerer Zufälle zu verdanken.
Und so weiter, und so fort.
Was der Spiegel-Gerichtsreporter letztlich andeutet, ist, dass an den „übersinnlichen“ Fähigkeiten der Wahrsagerin realiter gar nichts dran war. Dazu passt, dass der Polizist A. ein Treffen mit der hellsichtigen Dame F. kurz vor dem Mäppchenfund „vorsorglich aus den Ermittlungsakten tilgte“, wie in Zeit Verbrechen zu lesen ist.
Wie auch immer (der Anklagte hat die Tat nie gestanden und der Bundesgerichtshof hob das Urteil gegen ihn zweimal auf):
Mit einem „glücklichen Zufall“ oder gar einer „intuitiven Begabung“ der Hellseherin F. hatte der Mordfall Wehr sicher nichts zu tun, wie der Rechtswissenschaftler Thomas Fischer und der Journalist Holger Schmidt in ihrem True-Crime-Podcast spekulieren, offenkundig ohne sich jemals mit dem Thema „Vermisstenhellseher“ beschäftigt zu haben.
Es gibt bislang keinen Grund, von dem abzuweichen, was die Kriminalpsychologin Lydia Benecke in dem Crime-Format Der Fall sagt:
Man sollte auf gar keinen Fall auf Angebote eingehen, die auf jeden Fall nicht funktionieren und die nichts anderes als Schaden hinterlassen, mindestens emotionalen Schaden.
Es geht in der Folge um das Verschwinden und den bis heute ungeklärten Mord an der neunjährigen Peggy Knobloch aus Lichtenberg in Oberfranken.
Auch hier drängten „Scharlatane wie Wünschelrutengänger und Hellseher“ ins Rampenlicht, schrieb die Ostthüringer Zeitung – wie etwa der berüchtigte „Seher“ Michael Schneider, dem skrupellose Medien immer wieder bereitwillig eine Bühne geben:
Überflüssig zu erwähnen, dass die Leiche des Mädchens in einem Wald in Thüringen gefunden wurde.
Die Berliner Polizei verbat sich vor fünf Jahren jedwede Belästigung durch Schneider und Co.
Es gibt eben Sachen, die nachgewiesenermaßen nicht helfen, und damit dann emotionalen Druck zu erzeugen, finde ich schon ganz schön schlimm,
sagt auch Co-Host Sarah Koldehoff im Der Fall-Podcast.
Mehr noch: Es ist widerwärtig. Zahlreiche Beispiele listen wir bei „Zum Weiterlesen“ auf.
Im Deutschlandfunk erklärte Benecke:
„Familien müssen sich nicht emotional von Scharlatanen manipulieren und verletzten lassen.“
Menschen, die übernatürliche Fähigkeiten versprechen, würden falsche Hoffnungen der Angehörigen wecken. Außerdem könnten ihre Angaben auch die Arbeit der Polizei behindern. Zum Beispiel, in dem sie falsche Aussagen zu möglichen Täterinnen und Tätern machen, die wiederum andere Menschen beeinflussen.
Wenn wir also aus Interesse alles über ungelöste Vermisstenfälle lesen, sollten wir eines bedenken: Fakten verbreiten ist hilfreich, sich spektakuläre Theorien ausdenken kann aber die Arbeit der Polizei behindern.
Zum Weiterlesen:
- Hoffnung durch Hellsehen? Der Fall Peggy Knobloch, funk am 10. September 2024
- „Es gibt keine Vermisstenfälle, für die ich keine rationale Erklärung habe“, Deutschlandfunk am 30. Oktober 2020
- Hellseher narrt Ermittler im Fall der verschwundenen Peggy aus Lichtenberg, otz am 13. März 2014
- Seher glaubt: Peggy liegt im Fluss, tz am 30. Januar 2014
- Mordfall Wehr: Mit Hellseherin auf Leichensuche, swr am 26. August 2021
- Das Medium und der Polizist, spiegel.de am 19. April 2009
- Wut-Brief von Chefermittler an Hellseher, Berliner Kurier am 15. September 2019
- Wut-Brief von Chefermittler: „Die Berliner Polizei geht keinen Hinweisen von Sehern und Geisterkontaktlern nach“, GWUP-Blog am 19. August 2019
- „Vermisstenhellseher“: Wie die Betrüger ticken, GWUP-Blog am 28. Oktober 2017
- Vermisstenhellseher“: Ein Nach-SkepKon-Facebook-Posting von Lydia Benecke, GWUP-Blog am 10. Mai 2016
- Evelyn Störzner: Die angebliche „Vermisstenhellseherin“ und der Tod des kleinen Elias, GWUP-Blog am 4. November 2015
- Wenn “Hellseher” vermisste Kinder finden wollen, GWUP-Blog am 5. August 2015
- Die Vermisstenhellseherin wütet gegen die Skeptiker – und präsentiert „Beweise“, GWUP-Blog am 7. August 2015
- Immer mehr „Beweise“ von der Vermisstenhellseherin – und der Dritte Weltkrieg, GWUP-Blog am 8. August 2015
- Evelyn Störzner: Ein weiterer Fall der „Vermisstenhellseherin“ – und Gegenbeispiele zur Warnung, GWUP-Blog am 10. August 2015
- Klar darf man einen Hellseher “Scharlatan” nennen, GWUP-Blog am 14. August 2015
- Unfassbar: „Hellseher“ posten brutale Gewaltphantasien über vermisste Kinder, GWUP-Blog am 5. September 2015
- Podcast: Hellseher gegen die RAF – natürlich erfolglos, GWUP-Blog am 4. April 2024