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Zwischen wissenschaftlicher Skepsis und „Querdenken“ – eine Gratwanderung?

| 9 Kommentare

Als Ergänzung zu unserem #ferngespräch über „Schwurbelprofessoren“:

  • ein Gastbeitrag des Physikers und Philosophen Lars Jaeger.

Der methodische Zweifel

Der Kern der wissenschaftlichen Methode ist der methodische Zweifel, der wissenschaftliche Modelle und Theorien immer wieder auf den Prüfstand stellt. Dank ihrer kompromisslosen Neugier und Skepsis wagen es die Wissenschaftler, bestehende Auffassungen kritisch zu hinterfragen und so falsches Wissen zuletzt zu korrigieren, denn was Autoritäten für wahr erklären, erweist sich nur allzu oft als unwahr. So wurden in der Geschichte nahezu alle wissenschaftlichenTheorien irgendwann als falsch oder zumindest korrektur-und erweiterungsbedürftig erkannt.

Nicht jeder Widerspruch ist glaubwürdig

Doch muss nicht gleich jeder Widerspruch zu einem bestehenden wissenschaftlichen Konsensus als glaubwürdig eingestuft werden. Dies trifft insbesondere für Themen zu, die sich in einem breiteren gesellschaftlichen Diskussionsfeld befinden. Hier vermischt sich oft eine als wissenschaftlich verkleidete Aussage mit speziellen sozialen Forderungen, individuellem Geltungsbedürfnis oder gar politischen oder ökonomischen Interessenskonflikten. Dies lässt sich sehr gut in der gegenwärtigen Corona-Krise beobachten.

Vielen von denen, die glauben, sich mit Corona-skeptischen Artikeln und Videos an die Öffentlichkeit richten zu müssen und sich dabei auf die erfolgreiche wissenschaftliche Skepsis historischer Vorbilder berufen, könnten falscher nicht liegen. Seit Ausbreitung des neuen Virus vor zirka 15 Monaten haben die Forscher in einer bewundernswerten Arbeit in Rekordschnelle viele Eigenschaften des Virus ermittelt, unter anderem seine genetische Struktur, seine Infektiosität, seine Wirkungen im menschlichen Körper und damit seine Gefährlichkeit.

Youtube-Appelle sind keine seriöse Wissenschaft

Es gab vergleichsweise wenig Politik, wenig Anspruch auf unwidersprechbares Wissen und wenig Selbstdarstellung und nach öffentlicher Anerkennung buhlender Narzissmus. Wie im wissenschaftlichen Betrieb üblich lernte man mit der Zeit immer mehr über das Virus. Dabei zeigte sich, dass man mit den frühen Einschätzungen erstaunlich gut lag.

Auch wer die Arbeiten historischer Idole wie Galilei, Darwin oder Einstein anschaut, deren Skepsis und Ideenreichtum zu den wissenschaftlichen Revolutionen der Vergangenheit führten, wird erkennen, wie detailversessen und akribisch diese Forscher gearbeitet und wie wenig sie sich mit scharfen Worten und Polemik ausgedrückt haben.

Zumeist wenden sich Wissenschaftler mit ihren Ideen und Gedanken an so genannte „Peers“, also an andere Wissenschaftler und Experten auf ihrem Gebiet, und nicht an eine breite Öffentlichkeit, deren Meinung es oft anders als mit rationalen Mittlen zu beeinflussen galt.

Dass dagegen einige wenige Forscher heute mit offenen Briefen und YouTube-Videos ihre Meinung über die Corona-Maßnahmen kundtun, um politische Aufmerksamkeit zu erringen, steht kaum im Zeichen seriöser wissenschaftlicher Arbeit. Hier handelt es sich zumeist eher um öffentliche Aufmerksamkeit und persönliche Bestätigung suchende Aktionen als um ernsthafte wissenschaftliche Kommunikation.

Individuelles Geltungsbedürfnis

Ein Beispiel ist Sucharit Bhakdi, vor seinem Ruhestand im Jahr 2012 ein anerkannter deutscher Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie, der im März 2020 über Youtube sowie einen offenen Brief an Angela Merkel massive medizinische Fehlinformationen über COVID-19 verbreitete. Kurz darauf gab er ein Interview im Youtube-Kanal des Verschwörungsideologen Ken Jebsen. Zusammen mit seiner Frau, ihrerseits Biochemikerin, publizierte er dann das Buch „Corona Fehlalarm?“, das in der Fachwelt aufgrund „tendenziöser Aussagen“ auf breite Ablehnung traf.

So meinte Bhakdi, man müsse unbedingt zwischen symptomfreien Infizierten und tatsächlichen, erkrankten Patienten unterscheiden und erste in der Statistik gar nicht berücksichtigen (zunächst war sogar die Annahme weit verbreitet, dass Kinder kaum zur Verbreitung des Coronavirus beitrügen, was unterdessen als komplett falsch erkannt wurde), er stellte die Gefährlichkeit und Ansteckbarkeit des Corona-Virus grundsätzlich in Frage und behauptete zuletzt, dass Szenarien wie ein Spanien und Italien in Deutschland gar nicht möglich seien.

In allen Punkten wurde er von der Realität sehr schnell eingeholt. Seriöse Wissenschaft und Verschwörungstheorie passen nun einmal nicht zusammen.

Ein weiteres Beispiel ist die Aussage des Veterinärvirologen Geert Vanden Bossche, der seit 1995 keine wissenschaftliche Forschungsarbeit mehr veröffentlicht hat, dass wir mitten in einer Pandemie, die bereits über 3,7 Millionen Menschen getötet hat, aufhören sollen, Menschen zu impfen. Bei Impfskeptikern stößt eine solche Forderung natürlich auf fruchtbaren Boden.

Bhakdi und Vanden Bossche

Vanden Bossche begründet diese Forderung mit der vollständig spekulativen Aussage, dass die Impfstoffe virale Varianten selektieren werden, die dem Impfschutz entgehen können und so zu einer höheren Virulenz gelangen. Diese Aussage stützt sich wesentlich auf die Annahme, dass COVID-19-Impfstoffe keinen signifikanten Einfluss auf die Übertragung des Virus haben. Sie wurde in zahlreichen Studien und unterdessen auch in der empirischen Erfahrung in Län-dern mit fortgeschrittenem Impfstatus der breiten Bevölkerung als falsch aufgezeigt.

Sowohl in Bhakdis als auch in Vanden Bossches Aufrufen stecken einige korrekte Aussagen, was ihren Schlussfolgerungen bei Nicht-Experten eine gewisse Überzeugungskraft verleiht. So ist die Statistik von Corona-Fällen, wie Bhakdi im März 2020 monierte, nicht immer eindeutig definiert, und Impfungen erzeugen, wie Vanden Bossche behauptet, tatsächlich einen Selektionsdruck auf Viren (und Bakterien, was wir von gegen Antibiotika resistenten Stämmen wissen). Doch andere Annahmen, auf denen dann ihre jeweiligen dramatischen Schlussfolgerungen und Forderungen beruhen, erweisen sich schnell als haarsträubend falsch.

„Nicht einmal falsch“

Wir müssen sie daher gemäss der Formulierung des Physikers Wolfgang Paul als „nicht nur nicht richtig, sondern nicht einmal falsch“ einstufen, denn sie vermischen Fakten mit Spekulation und Desinformation auf suggestive und oft schamlose Weise. Der Unterschied zwischen öffentlichen Pamphleten wie die von Bhakdi und Vanden Bossche und seriösen wissenschaftlichen Aussagen ist ähnlich wie der zwischen Politik und Wissenschaft.

Politiker orientieren sich an Ideologien und Überzeugungsstrategien. Hier zählt das Selbstvertrauen und die Darstellung, oft auch Polemik und vorgespieltes Wissen. In der Wissenschaft hingegen haben Ideologie und Polemik wenig zu suchen (auch wenn sie auch hier nicht ganz verschwinden).

Glaubwürdigkeit gibt es nur auf der Basis von Konsistenz und Fakten. Wissenschaftliche Skeptiker fühlen sich mitunter wie Falschfahrer auf der Autobahn: Es kommen ihnen viel Autos entgegen. Nun ist es theoretisch möglich, dass sie die einzigen sind, die auf der richtigen Seite fahren und alle anderen auf der falschen. Die Wissenschaftsgeschichte kennt solche Beispiele: Kopernikus, Kepler und Galilei und ihre heliozentrische Himmelstheorie, Darwin und seine Evolutionstheorie, Boltzmann und seine statistische Deutung der Wärmelehre, Einstein und seine Photonenhypothese beziehungsweise Relativitätstheorie.

Gegenpositionen zulassen

Aber dies sind eher Ausnahmen, und es scheint schwer zu akzeptieren, wie jemand, der das Corona-Virus als vergleichsweise harmlos und Impfungen als gefährlich darstellt, einen solchen Status für sich beanspruchen kann. Hier darf man durchaus davon ausgehen, dass es sich um Irrfahrer auf der falschen Seite der Autobahn handelt.

Doch anders als auf unseren Straßen dürfen wir solchen Menschen nicht verbieten, auf der falschen Seite zu fahren. Es ist falsch, Wissenschaftlern einen Maulkorb zu verpassen, wie dies teils in England getan und in der Schweiz versucht wurde. Vielmehr sollten Wissenschaftler eine stärkere Stimme in der Öffentlichkeit haben.

Und hier ist es das Wesen der Wissenschaften, auch solche Gegenpositionen zuzulassen. Früher oder später wird ihre Richtigkeit oder Falschheit dann herauskommen. In den beiden genannten und ähnlichen anderen Fällen geschieht dies eher früher.

Zum Weiterlesen:

  • „Schwurbelprofessoren“ jetzt auch als Hoaxilla-Podcast – und im Deutschlandfunk, GWUP-Blog am 6. Juni 2021
  • Wissenschaftler als Gegner von Corona-Maßnahmen: Der Grat zwischen gesunder wissenschaftlicher Skepsis und Unterstützung der absurden Querdenker-Bewegung, scilogs am 18. Mai 2021
  • Daniele Ganser und der unsinnige Galilei-Vergleich, GWUP-Blog am 15. April 2017
  • Dumm ein Ein-Stein? GWUP-Blog am 29. Juli 2012

9 Kommentare

  1. Die beschriebenen Unterschiede zu ernsthaft betriebener Wissenschaft zu erkennen, setzt erst einmal voraus, dass in der Allgemeinheit überhaupt das Wissen vorhanden ist, was Wissenschaft als Methode im Kern ausmacht.

    Vor allem, dass sie keine Weltanschauung ist und keine Ideologie (obwohl nie ganz ideologiefrei, da von Menschen betrieben).

    Aber so lange die Menschen Wissenschaft für eine Anschauung unter beliebig vielen, für eine „Ersatzreligion“ von abgedrehten Spinnern halten, deren Äußerungen so gut sind wie jede andere (was ich sinngemäß so einmal von einer Wissenschaftsredakteurin eines ör Senders gehört habe!), so lange müssen diese Abgrenzungsüberlegungen ohne wirklichen Widerhall bleiben.

    Und schon sind wieder wir Skeptiker gefordert… Aufklärung hilft!

  2. @Udo Endruscheit:

    Ein Grund, den Beitrag hier zu veröffentlichen.

  3. Aber wir haben in den letzten 15 Monaten immer wieder Aussagen der Querdenker widerlegt. Das hat nicht daran geändert das diese Lügen weiterhin durch viele Köpfe Geistern. Ich mache mir Sorgen. Wirklich.

  4. @Waldi N.:

    Kann ich gut nachvollziehen.

    Andererseits dürfen Sie nie vergessen: Was Sie/wir/andere an Aufklärung leisten, ist letztendlich nicht messbar.

    Wie viele „Köpfe“ wir möglicherweise davor bewahrt haben, diesen Unsinn reinzulassen – wissen wir nicht.

    Im nächsten „Skeptiker“ werden wir eine Umfrage veröffentlichen, die über die Jahre durchaus ermutigend ist.

  5. Wie man diese beiden Individuen als Wissenschaftler und das, was sie treiben, als Wissenschaft bezeichnen kann und sie deshalb gewähren lassen muß, ist mir vollkommen unbegreiflich, nahezu ein Skandal.

  6. Pingback: Corona Profiteure – herzausfels.de

  7. Wenn einmal ein Mensch einen Standpunkt übernommen hat, ist es ziemlich schwer ihn wieder davon abzubringen. Tatsächlich haben dabei Emotionen auch eine höhere Erfolgsquote als Fakten. Der Antrieb zum Umdenken muss aber zuerst immer von einem selbst ausgehen.

    Aufklärung hilft aber – und zwar all jenen, die noch nicht völlig überzeugt sind. Leuten, die von Angst und Verzweiflung getrieben dazu bereit sind auch nach den abstrusesten Strohalmen zu greifen, kann ein nüchterner Blick und klare Fakten dabei helfen wieder Ordnung in die psychische Struktur zu bringen.

    Entzieht man ihren Sorgen die Grundlage, dann findet Blödsinn keinen Nährboden. Der Gewinn liegt deshalb in der Prävention bei der schweigenden Mehrheit.

    Ich möchte mich deshalb sehr bei allen bedanken, die sich um öffentliche Aufklärung bemühen. Eure Arbeit ist gut und wichtig.

  8. @CVA:

    Das ist alles völlig richtig, vielen Dank.

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