Auch die Schweizer Zeitschrift Beobachter räumt jetzt ein:
Eine Artikelserie um die siebenjährige Nathalie wurde zum Narrativ für deutsche Reichsbürger, die die Regierung stürzen wollten. Der Fall ist ein Lehrstück für den Journalismus.
Zur Erinnerung:
„Nathalie“ ist ein angebliches Opfer von satanistisch-rituellem Missbrauch. Die „Patriotische Union“ um Prinz Reuß sah in dem heute elfjährigen Mädchen einen lebenden Beweis für die Machenschaften eines ominösen „Deep State“ und instrumentalisierte das Kind für ihre Umsturzphantasien.
Nach intensiven Ermittlungen in der Schweiz und in Deutschland wurde der Fall 2022 komplett eingestellt:
Bei Nathalies Aussagen habe es sich gemäß Staatsanwaltschaft nicht um echte Erinnerungen gehandelt, sondern um Fremdsuggestion aus ihrem Umfeld. Die Pseudoerinnerungen seien ihr von ihrer Mutter, ihrem Onkel, einem bekannten Buchautor aus der anthroposophischen Szene, und ihrem Psychiater eingeredet worden.
Nathalies Falschaussagen seien zudem durch „die Presse“ weiter befördert worden,
schreibt der Beobachter in einer ausführlichen Rückschau.
„Die Presse“ – das waren im „Fall Nathalie“ zwei Journalisten der Basler Zeitung (BaZ) und der Solothurner Zeitung. Insbesondere mit dem ehemaligen (mittlerweile entlassenen) BaZ-Chefreporter geht der Beobachter hart ins Gericht:
Das Beispiel zeigt die verheerenden Folgen, die Journalismus haben kann – auch ungewollt.
Aber wie kann das überhaupt sein, dass Journalisten (Beispiele gibt es auch in Deutschland genug, etwa hier oder hier oder hier) völlig unkritisch der Rituellen Gewalt-Mind Control-Verschwörungstheorie (RG-MC) auf den Leim gehen?
Um diese Frage ging es auch bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche am vergangenen Wochenende in Hamburg:
Wie kritisch sollten Erzählungen von Missbrauchsopfern hinterfragt werden?
Die Moderatorin und freie Investigativ-Reporterin Sarah Ulrich (r.) schilderte eingangs ein persönliches Erlebnis:
Vor zwei Jahren habe ihr ein „renommierter Traumatherapeut“ eine sensationell klingende Story über satanische Eliten („Ärzte, Politiker, Menschen mit Macht“) angeboten, die bei ihren Ritualen regelmäßig Kinder ermorden.
Das habe ihm „eine Betroffene“ während der Therapie erzählt. Und Beweise dafür (Namenslisten, Treffpunkte etc.) gäbe es auch.
Diese „Belege“ hat Ulrich bis heute nicht zu sehen bekommen. Und dennoch dauerte es bis zu einem Gespräch mit den Kollegen Christopher Piltz (Spiegel, zweiter von l.) und Niklas Tröschel (ZDF Magazin Royale, l.), ehe der erfahrenen Journalistin Zweifel an der Geschichte kamen.
Im Nachhinein findet Ulrich es nach eigenem Bekunden „total interessant“, wie sie auf die RG-MC-Räuberpistole ihres Informanten „reingefallen“ ist.
Wie das passieren konnte – das erklärt sie sich bei Minute 24:45 damit, dass man gerade bei hochsensiblen Themen wie sexualisiertem Missbrauch erst einmal den Betroffenen glauben möchte.
Dem pflichtet Rabea Westarp (zweite v.r.) zunächst bei, die für das SWR-Format Vollbild über den umstrittenen Opferschutzverein „El Faro“ berichtete. Bis dahin, erklärt die Redakteurin, sei sie mit der Grundhaltung an solche Themen gegangen, dass man den Opfern uneingeschränkt glauben müsse.
Erst bei den „El Faro“-Recherchen habe sich dann ihr „Bauchgefühl“ gemeldet und sie an journalistische Grundprinzipien wie das Zwei-Quellen-Prinzip oder das Insistieren auf Belege gemahnt:
Was mir tatsächlich hilft, ist, mich da nochmal zurückzunehmen und in mich hineinzuhorchen, auf mein Bauchgefühl zu hören und durchzugehen, ob das, was diese Person mir jetzt erzählt, irgendwie plausibel ist.
Christopher Piltz plädiert dafür (22:20), eine „grundkritische Haltung“ auch bei hochemotionalen Themen nie aufzugeben und bei aller Sensibilität für das Gegenüber Warnsignale in puncto Unplausibilität ernst zu nehmen.
Denn das Grundproblem (32:20) der medialen Berichterstattung über angeblichen satanistisch-rituellen Missbrauch sei „ein unkritisches Wiedergeben von Aussagen, wo es Unplausibilitäten gibt, wo es Details gibt, für die es keine Belege gibt“:
Wir müssen wieder den Standpunkt haben, dass wir als Journalisten keine Sozialarbeiter und keine Therapeuten sind.
Das bedeutet weder, echte Opfer von sexualisiertem Missbrauch abzuwerten, noch die Traumatherapie unter Generalverdacht zu stellen – im Gegenteil.
Eine treffende Anmerkung dazu kam schließlich aus dem Publikum (54:30):
Wenn wir zum Beispiel einen Operateur haben, dem schwerwiegende Fehler vorgeworfen werden, und es wird darüber berichtet, dann diskreditieren wir nicht die Medizin, auch nicht die Chirurgie oder die Orthopädie, sondern es geht darum, dass jemand Fehler macht.
Ansonsten findet sich in dem Podiumsgespräch vieles von dem wieder, was auch beim jüngsten „Satanic Panic“-Update zur GWUP-Publikation „Rituelle Gewalt – Mind Control: Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?“ anklang, zum Beispiel dass
- Kritiker des RG-MC-Narrativs weiterhin als „Täterschützer“ diffamiert werden (erklärt Rabea Westarp bei 17:55)
- die verschwörungsgläubige RG-MC-Bubble „durchaus ganz gut organisiert ist, weswegen dann auf schnellem Schlag sehr massiv diese Kritik“ an skeptischen Beiträgen wie im Spiegel oder bei Böhmermann losbricht (Niklas Tröschel bei 14:35)
- ein aktueller Twist nunmehr „satanistisch-rituellen Missbrauch“ in der BDSM-Szene verortet (Rabea Westarp bei 19:10), was barer Unsinn ist
- die RG-MC-gläubige Szene ihr Wording fortwährend ändert, um sich gegen Kritik und Widerlegung zu immunisieren (Christopher Piltz bei 21:55)
- das Ganze trotzdem „ein ausgemachter Verschwörungsmythos“ ist (Rabea Westarp bei 20:25)
Insgesamt sehenswerte 64 Minuten.
Zum Weiterlesen:
- Kommentar zu Verschwörungstheorien: Medien haben Macht – und damit Verantwortung, beobachter am 21. Juli 2024
- Die Reichsbürger und der Schweizer Journalist, beobachter am 19. Juli 2024
- Die Verkommenheit der Eliten: Satanic Panic als die „Big Lie“ der deutschen Reichsbürger, GWUP-Blog am 6. April 2024
- Die „Satanic Panic“-Fantasien der Putschisten um Prinz Reuß, GWUP-Blog am 22. Dezember 2023
- Stern-TV: „Rituelle Gewalt“ als Rechtfertigung für den Umsturz, GWUP-Blog am 6. Juni 2024
- Satanic Panic: „Böhmermann hat nichts falsch gemacht“, urteilt die größte psychiatrische Fachgesellschaft Deutschlands, GWUP-Blog am 28. Januar 2024
- Falscherinnerungen und die Satanic Panic: Gibt es eine Lernkurve bei der UBSKM? GWUP-Blog am 13. Dezember 2023
- Die Medien und die Satanic Panic: Tipps von einem Kollegen, GWUP-Blog am 12. Dezember 2023
- Journalisten sind keine Co-Therapeuten: Der schwierige Umgang mit den Themen „False Memory“ und „rituelle Gewalt“, GWUP-Blog am 10. Februar 2022
- Video „So ein Bullshit“ – Jan Böhmermann im Magazin Royale über die Satanic Panic, GWUP-Blog am 8. September 2023
- „Keine Evidenz“: Der Spiegel widerlegt die Narrative der Verschwörungstheorie vom satanistisch-rituellen Missbrauch, GWUP-Blog am 10. März 2023
- „Der Fall Nathalie“: Wie sich ein angeblicher ritueller Missbrauch als Satanic Panic herausstellte, GWUP-Blog am 12. November 2022
- Diskussion: RG-MC und mediale Berichterstattung, analytische-kritik am 21. Juli 2024
- WTF-Talk: Satanic Panic Update 2, analytische-kritik am 20. Juli 2024
- Rituelle Gewalt – Mind Control: „Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?“ jetzt kostenlos zum Download, GWUP-Blog am 17. Juni 2024
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12. August 2024 um 13:37
„Ist der „Horror-Missbrauch“ von Goslar ein großer Justizirrtum?“
Die 26-Jährige behauptet, seit der Kindheit missbraucht worden zu sein. Angefangen mit ihren Eltern, die sie durch ein System von Regeln und drakonischen Strafen zu einem Leben als Sex-Sklavin erzogen hätten. Später hätten die Eltern sie an Dritte weitergereicht. Lehrer, Polizisten, Mitschüler, Nachbarn, Bekannte oder Anwälte: Alle wurden ihr zufolge zu Tätern.
Sie selbst sieht sich als Opfer sogenannter „Organisierter und Ritueller Gewalt“, ein umstrittenes Phänomen, das von Fachleuten im Bereich der Verschwörungserzählung verortet wird. Wie weit ihre Behauptungen gehen und wie widersprüchlich, ja teils fast abstrus ihre Schilderungen in Summe sind, das ergebe sich aus den mittlerweile beigezogenen Akten anderer Ermittlungsverfahren, so Verteidiger Andreas Dieler.
https://www.braunschweiger-zeitung.de/niedersachsen/salzgitter/article406980916/ist-der-horror-missbrauch-von-goslar-ein-grosser-justizirrtum.html
13. August 2024 um 10:12
@Bernd Harder
Insgesamt finde ich den Fall verwirrend, da auch DNA-Spuren gefunden wurden. Eventuell könnte es ein Fall sein, bei dem Missbrauch stattgefunden hat und später Erinnerungen „hinzugefügt“ wurden. Ein weiterer Grund, warum man etwas gegen diese Verschwörungstheorie unternehmen sollte.
Die Begleitartikel sind in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant.