gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Impfverweigerer und ihre „dissidente Selbstwahrnehmung“

| 19 Kommentare

Charakteristisch für große Teile der „Querdenken“-Bewegung ist die Wissensselbstermächtigung, haben wir hier und im aktuellen Skeptiker (2/2021) geschrieben:

Es überwiegt eine selbstermächtigende Freude am Gegenwissen, an der Rolle des eigentlichen Experten. In ihrer Eigeninitiative, so drängt es sich uns in Konstanz assoziativ auf, gleichen sie eher Heimwerkern: Wie der Heimwerker sich mit eigenständig besorgten Materialien, selbsterlerntem Know-how mittels Anleitungen aus dem Internet oder Hilfe von Freunden sein Gartenhäuschen baut, setzen sich die „Querdenker“ im Austausch mit Gleichgesinnten ihre alternativen Wissens- und Wirklichkeitskonstrukte zusammen.

Genau das stellt der Historiker Benedikt Sepp, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU München, im Rahmen seiner Studien auch bei Impfgegnern fest:

Auffällig war ein ungeheurer Stolz auf ihr abweichendes Wissen, also über das, was die Befragten sich zusammengegoogelt hatten,

erklärt Sepp in einem Welt-Interview:

Das ist aber kein Wissen, das dann dem argumentativen Austausch mit anderen Menschen überlassen wird. Vielmehr ist es ganz stark mit dem Selbstbewusstsein als Dissident verbunden. Die machen an sich ja, was mündige Bürger tun sollten: Sie stellen Fragen, suchen andere Meinungen, durchstöbern das Netz.

Aber das Problem ist, dass alles, was sie da finden, letztlich daran gemessen wird, ob es ihre dissidente Selbstwahrnehmung bestätigt.

Mit der überlegenen Informiertheit, die Impfgegner für sich beanspruchen, ist es in Wahrheit also nicht weit her:

So beanspruchen sie nicht nur das Recht auf die eigene Meinung, sondern auch auf die eigenen Fakten, und empfinden offenbar jeden Widerspruch oder Hinweis auf erwiesene Fakten als Angriff auf die eigene Persönlichkeit. Im besten Fall landet man mit ihnen in einem Vulgärrelativismus, wonach jeder halt seine eigene Meinung habe. Im schlechtesten Fall kommt es zu Aggressionen.

Als Hauptmotiv von politisch oder ideologisch motivierten Impfverweigerern macht Sepp eine Überbetonung der persönlichen Autonomie aus, konkret die Vorstellung, „erst durch die Corona-Maßnahmen die brutale Übergriffigkeit des Staates entdeckt zu haben und deshalb Widerstand leisten zu müssen“.

Im historischen Rückblick sei dies immer schon eine wesentliche Triebfeder von Anti-Impf-Aktivisten gewesen.

Neben denen, die sich eher intuitiv gegen die eigene Impfung sträubten, weil sie zum Beispiel eine „Verunreinigung des Körpers“ befürchteten oder Nebenwirkungen ins Groteske übertrieben oder im Sinne der Lebensreformbewegung des späten 19. Jahrhunderts und der heutigen Alternativmedizin ihr Immunsystem für unüberwindlich halten oder ein „spezifisch weibliches naturnahes Gesundheitsverständnis“ pflegen.

Eine Impfpflicht sieht Sepp daher als „absolut kontraproduktiv“ an, weil Impfverweigerer dies als Zerstörung jeder Autonomie sähen:

Es käme wohl darauf an, dass eine Entscheidung fürs Impfen ihre eigene wäre, bei der sie nicht das Gesicht verlören, sondern autonomes Individuum blieben.

Dazu müsste man sich aber wohl erst mal auf gemeinsame Fakten einigen.

Zum Weiterlesen:

  • Vorbehalte gegen Impfung: „Das Gefühl, der angeblichen Corona-Bedrohung ins Gesicht zu lachen“, Welt+ am 15. Juli 2021
  • Geschichte des Misstrauens: Ein Historiker über Impfgegner, GWUP-Blog am 1. Oktober 2016
  • Video: „Immun – Die Geschichte des Impfens“, GWUP-Blog am 14. März 2021
  • Corona: Wenn Berichte über Impfschäden Unfug transportieren, riffreporter am 23. März 2021
  • Jetzt auf Deutsch: „Immun: Über das Impfen – von Zweifel, Angst und Verantwortung“, GWUP-Blog am 1. März 2016
  • Neue „Querdenker“-Studie: Misstrauensgemeinschaft mit eigenwilliger Auffassung von Kritik, GWUP-Blog am 25. Dezember 2020
  • Neue Studie: Die „Querdenker“ – Wer nimmt an Corona-Protesten teil und warum? GWUP-Blog am 24. Januar 2021
  • Verschwörungstheorien: Die Heimwerker der alternativen Wissenskonstrukte, GWUP-Blog am 5. November 2020
  • Corona-Proteste und das (Gegen-)Wissen sozialer Bewegungen, bpb am 15. Januar 2021
  • Vom hohen Wert der wissenschaftlichen Unabhängigkeit der STIKO und der Notwendigkeit, in der Politik politisch zu entscheiden, Gesundheits-Check am 16. Juli 2021
  • Das Impfschiff des Don Francisco Javier Balmis y Berenguer, Onkel Michael am 15. Juli 2021
  • Das Reichsimpfgesetz von 1874 und die Impfgegner, Onkel Michael am 20. Juli 2021

19 Kommentare

  1. „Es käme wohl darauf an, dass eine Entscheidung fürs Impfen ihre eigene wäre“

    Vermutlich müsste die Impfung nicht nur als „eigene“, sondern auch als „dissidente“ Entscheidung möglich sein, siehe die Sympathien bei manchen Querdenkern für die Stöcker-Impfung.

    Das Dissidente, hinter die Kulissen Schauende, ist die konkrete Form, in der die Querdenker ihre Autonomie spüren können und sich gegenüber einer komplexen, überwältigenden Entwicklung handlungsfähig erleben.

  2. „Giftig, weil geimpft“: Wie es den Corona-Leugnern im Netz ergeht“:

    https://www.derstandard.at/story/2000128216676/giftig-weil-geimpft-wie-es-den-corona-leugnern-im-netz

  3. Vermutlich müsste die Impfung nicht nur als „eigene“, sondern auch als „dissidente“ Entscheidung möglich sein

    Dazu wäre es wohl erforderlich, den nächsten zur Zulassung anstehenden Impfstoff mit passenden Bullshitargumenten explizit zu verbieten. Milieus mit kompetenten Schmuggel- und Vertriebsinfrastrukturen gibt es ja schon.

  4. @Joseph Kuhn:

    Mutti, Mutti, ich will so ein Bonbon wie das Kind da bekommen hat! –
    Nimm bitte einfach dieses, ist das gleiche, hat nur eine etwas andere Verpackung. –
    Nein, genauso eines wie das von dem anderen Kind! –
    Aber hier könntest du ganz einfach jetzt sofort das gleiche Bonbon bekommen. –
    ABER ICH WILL SO EINES WIE DAS VON DEM ANDEREN KIND DA!!!

  5. @Bernd Harder

    Was Herr Elling über die Entwicklung erzählt, klingt jetzt aber anders als das, was Carsten Watzl und Martin Moder und im Corona Update 6 erörtert haben. Moder und Watzl klangen optimistischer.

  6. @Joseph Kuhn

    siehe die Sympathien bei manchen Querdenkern für die Stöcker-Impfung

    Eine Variante dieser Sympathie ist, dass manche Querdenker auf den „guten“ russischen Stoff namens Sputnik V schwören.

    Ich habe schon einige Kommentare gelesen, dass diese Leute in Länder gereist sein wollen, in denen der genannte Impfstoff zugelassen ist, um sich dort ihre Spritze abzuholen. Andere hingegen wittern eine Verschwörung der EMA/europäische „Farmermafia“/Merkl/usw, dass das „herausragende“ Vakzin Sputnik V noch nicht in der EU zugelassen ist.

  7. @ RPGNo1:

    Ja, kurios. Es ist dasselbe, wenn manche Leute obskure Krebstherapien über sich ergehen lassen, Hauptsache nicht das, was die „Schulmedizin“ für richtig hält.

    Und bei den Querdenkern hat man halt gerne eine „eigene“ Meinung, Hauptsache, sie unterscheidet sich von der „Schulwissenschaft“.

    Der Sputnik-Impfstoff wird bei ihnen in Verruf sein, sobald ihn die EMA als wirksam und sicher zulässt.

  8. Polizei und Staatsanwaltschaft Hildesheim haben eine Gemeinschaftspraxis im Landkreis Gifhorn durchsucht. Die Mediziner stehen im Verdacht, falsche Corona-Impfausweise ausgestellt zu haben.

    https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/braunschweig_harz_goettingen/Falsche-Corona-Impfausweise-Ermittlungen-gegen-zwei-Aerzte,arztpraxis160.html

  9. In meiner social media bubble, beginnt jetzt bei den paar Schwurblern das Warten auf die Zulassung eines „Totimpfstoffes“, mal schaun, ob sich dann wirklich mehr impfen lassen, oder, ob dies nur als Ausrede genommen wird, sich derzeit (noch?) nicht impfen zu lassen.

    Tragisch, dass es gut gelungen ist Menschen Angst vor den mRNA Impfungen zu machen!

  10. @Ursula

    Zum Thema Corona-Totimpfstoff habe ich hier etwas für dich.

    1) https://www.nordschleswiger.dk/de/daenemark-gesellschaft/daenischer-covid-19-impfstoff-klar-zum-test-menschen

    Da laufen erst die Phase I und II Studien (Stand März 2021). Deine Kontakte können somit noch lange warten, bis sie ihren Totimpfstoff bekommen, wenn überhaupt.

    2) Das chinesische CoronaVac ist seit Mai im Rolling-Review-Verfahren der EMA. Gegenüber mRNA-Impfstoffen schneidet es aber deutlich schlechter ab. Chile bekommt es gerade zu spüren.

    https://de.wikipedia.org/wiki/CoronaVac

    https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/sinovac-impfstoff-aus-china-chile-will-schutz-mit-dritter-impfdosis-erhoehen-a-d72ecff3-0a57-42c3-a4dc-a21b6a2a7faf

  11. @RPGNo1

    Danke! Denke auch, das wird noch dauern.

    In Wien wurde auch ein Totimpfstoff hergestellt. Läuft als franz. Produkt.

    https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/wirtschaft/oesterreich/2110550-Vakzin-Hersteller-Valneva-will-expandieren.html

  12. @Ursula

    Ah, Valneva. Kenn ich, die stellen einen Japanischen-Enzephalitis-Impfstoff her.

  13. Der Impfstoff von Novavax NVX-CoV2373 gehört zu den proteinbasierten Vakzinen. Das ist der Totimpfstoff-Hoffnungsträger:

    https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/novavax-impfstoff-corona-covax-nachschub-entwicklungslaender-101.html

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.