Im Mai 2019 verschickte die amerikanische Bundespolizei FBI ein internes Dokument, in dem Verschwörungstheorien erstmals als Motivation für inländische terroristische Bedrohungen eingestuft werden:
In der Analyse werden eine Reihe von Straftaten und versuchten Straftaten aufgezählt, bei denen die Täter beziehungsweise die Verdächtigen Verschwörungstheorien als Begründung angegeben hatten […] Die Autoren des Berichts halten es für „logisch“, dass Verschwörungstheorien in Zeiten des Internets mehr empfängliche Menschen erreichen und diese dann kriminelle oder gewalttätige Aktionen durchführen – auch wenn sie insgesamt nicht neu seien.
Drei Monate später tötete ein Rechtsextremist in El Paso 22 Menschen. In einem vierseitigen „Manifest“ knüpfte der Täter an die Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“ an – wie schon im März 2019 der Attentäter von Christchurch (Neuseeland).
In Deutschland erschien im April 2019 die Studie „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Darin benennen die Psychologen Pia Lamberty und Jonas Rees Verschwörungsmythen als „Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ und zeigen einen Zusammenhang auf zwischen Verschwörungsmentalität (in der Tabelle als „Zustimmung“ zu verschiedenen Verschwörungstheorien) und Demokratiemisstrauen, Gewaltbilligung sowie Gewaltbereitschaft.
Auch der Spiegel warnte im September 2019 vor Verschwörungsdenken als einer Art „Herumfackeln mit dem Ausnahmezustand“:
Wer darauf aus ist, kann eine Verschwörungstheorie als Lizenz zur Gewalttat verstehen. Sie malt das Bild einer derart unfassbaren Übermacht, dass gegen sie jedes Mittel der Notwehr gerechtfertigt wäre […] Konspirologische Szenarien wie etwa „Der große Austausch“, Chemtrails, Big Pharma oder die Illuminaten-Weltregierung bieten möglichen Tätern auch moralische Deckung.
Im Oktober 2019 ereignete sich dann der antisemitische Anschlag von Halle.
Und jetzt Hanau.
Die Psychiaterin Nahlah Saimeh sieht bei dem Täter Tobias R. Hinweise auf eine schwere psychotische Erkrankung, „wahrscheinlich eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie“. Die Kriminologin Britta Bannenberg spricht ebenfalls von einer „paranoiden Schizophrenie“ – was erst einmal nichts mit Verschwörungsglauben zu tun hat.
How paranoid are conspiracy believers?
von Pia Lamberty und Roland Imhoff zeigte:
Allerdings ist es durchaus möglich,
… schwer psychisch krank zu sein und rechtsextrem und rassistisch,
sagt Prof. Bannenberg von der Uni Gießen weiter. Der Psychologe Dr. Sebastian Bartoschek erklärt im MDR, der Attentäter von Hanau sei
… ein verschwörungstheoretischer Nazi und psychisch krank
gewesen.
Zumindest war die Tat keine unüberlegte Handlung, sondern sie folgte im Ablauf, in der Rhetorik und in der Verbreitung eines Videos und eines „Manifests“ dem Muster rechtsextrem-konspirologischer Terroranschläge der letzten Jahre.
Die Publizistin Simone Rafael analysiert für Belltower News, dass Tobias R.
… ein geschlossenes rechtsextremes, rassistisches und verschwörungsideologisches Weltbild [hatte] – und offenkundig auch psychische Probleme. Das eine schließt das andere nicht aus (vgl. BTN), sondern in diesem Fall scheinen sich die Komponenten eher gegenseitig zu verstärken, weil die paranoide, apokalyptische Rhetorik der rechtsextremen Szene wahnhafte Weltbilder, wie sie R. in seiner Schrift und den Videos vertritt, bedient und befeuert.
Sein hauptsächlicher Text, auf den jetzt als „Manifest“ Bezug genommen wird und den R. offensichtlich mit Blick auf seine Tat und seinen Tod als Nachlass formuliert und vor rund einer Woche ins Internet gestellt hat, ist ein “Skript” mit Illustrationen, das offenbar wie die Vorlage einer Verfilmung gedacht ist – im Text nimmt R. auch mehrfach auf Hollywoodfilme Bezug.
Es ist allerdings auch korrekt, dass das „Manifest“ des Täters von Hanau eher „Versatzstücke von Verschwörungstheorien“ enthält, wie der Kulturwissenschaftler Prof. Michael Butter bei Zeit-Online ausführt:
Er verwendet zum Beispiel nicht den Terminus vom Großen Austausch, der bei rassistisch motivierten Attentätern in den vergangenen Jahren fast zum Standard geworden ist […] Man könnte von einer Art privaten Verschwörungstheorie sprechen, wenn Tobias R. von dem angeblichen Geheimdienst berichtet, der seine Gedanken abhöre.
Dennoch war Tobias R. für Butter eindeutig ein Verschwörungstheoretiker:
Und zwar deshalb […], weil das, was man da an Versatzstücken und privater Theorie findet, funktional äquivalent ist mit dem, was normalerweise Verschwörungstheorien leisten. Ganz klassisch ist in den Schriftstücken von Tobias R. etwa die Entlastungsfunktion: Man muss die Schuld nicht bei sich suchen, wenn andere schuldig sind, also die ominösen Verschwörer. Die Position der eigenen Schwäche wird so in eine der Stärke umgewandelt.
Einen weiteren interessanten Aspekt bringt die Journalistin Susannen Kaiser ein: Frauenhass.
Dahinter steht folgende Idee: Durch den Feminismus können Frauen heute selbst entscheiden, mit wem sie zusammen sein und wie sie ihr Leben führen wollen. Sie entscheiden sich aus Sicht der Attentäter aber falsch, nämlich für die Karriere und gegen Kinder und außerdem nicht für sie, die „weißen“ Jungs.
Dadurch sinken die Geburtenraten des „weißen Volks“, während „Nichtweiße“ viel Nachwuchs hätten, so die krude These. Das führe dazu, dass Deutschland (oder je nachdem Norwegen, Neuseeland, USA, der Westen) im Jahr 2050 eine muslimische Mehrheitsbevölkerung haben werde.
Auf der deutschen misogynen Seite Wikimannia zum Beispiel findet man unter dem Stichwort „Frau“ als erstes ein Foto, auf dem eine große Gruppe schwarz verhüllter Musliminnen zu sehen ist, darunter die Bildunterschrift: „Deutsche Frauen im Jahr 2050 (Symbolbild)“.
Die Bevölkerung ist also ausgetauscht. Rechtsextreme nennen das den weißen Genozid. Dahinter steckt in den meisten Varianten der Erzählung das Weltjudentum, das die Regierungen manipuliert hat, damit sie Bürgerkriege anzetteln, um anschließend eine Vielzahl von Flüchtlingen aufnehmen zu können […]
Auch der mutmaßliche Hanau-Attentäter Tobias R. hatte sich eine Welt aus Verschwörungstheorien gebaut, in der „Menschen germanischer Abstammung“ durch muslimische „Volksgruppen, Rassen oder Kulturen“ und deren höhere Geburtenraten in Bedrängnis geraten.
Somit findet sich auch bei Tobias R. jene soziologisch-psychologische Variable, die in mehreren Studien einen starken Zusammenhang mit dem Glauben an Verschwörungstheorien zeigt, nämlich „Entfremdung“ – definiert als die subjektive Empfindung von Isolation, Machtlosigkeit und Kontrollverlust in einer unübersichtlichen Welt. Der Glaube an Verschwörungsmythen dient in dieser Situation vor allem der Komplexitätsreduktion, der Selbstaufwertung und der Entlastung durch Externalisierung.
Doch dabei bleibt es eben nicht immer. Natürlich ist es per se noch nicht wahnhaft, an eine Weltverschwörung ominöser Schattenmächte zu glauben. Aber zum einen
… sind Verschwörungserzählungen der Klebstoff, der weite Teile der rechtsextremen Szene zusammenhält. Sie erfüllen eine wichtige Funktion für die innere Stabilität von Gruppen: Wer glaubt, die Regierung würde von bösen Mächten gesteuert werden, der zieht sich aus dem politischen Prozess zurück. Damit wird ein “Gut-Böse“-Schema konstruiert. Auf der einen Seite stehen dabei diejenigen, die die angebliche “Wahrheit“ kennen, auf der anderen die “Unwissenden und Verschwörer“. Ein solches Weltbild macht immun gegen jede Form der Kritik.
Zum anderen sind Verschwörungstheorien gefährliche „geistige Brandsätze“, weil …
… sie zu Handlungen animieren. Der Verschwörungstheoretiker bleibt nicht auf der gedanklichen Ebene „Ich werde bedroht und belogen“. Von dort ist es nur ein kleiner Schritt bis zu „Ich muss etwas tun“ oder „Ich muss mich wehren.
Das sehen wir bei Impf-Verschwörungstheorien, die erwiesenermaßen die Impfbereitschaft senken. Genauso sehen wir es bei „Lügenpresse!“ rufenden Pegida-Demonstrierenden, die Journalisten angreifen. Und eben bei Anhängern der Umvolkungs- oder Islamisierungsverschwörungtheorie, deren bekanntester Vertreter Anders Breivik heißt,
schreibt der Philosoph Jan Skudlarek bei Vice.
Und das hat nicht erst mit Halle oder Hanau begonnen – sondern darauf weisen wir schon seit Jahren in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder hin:
Der Politikwissenschaftler und Extremismusexperte Armin Pfahl-Traughber erklärt, Tobias R. habe „erkennbar auf eine politische Klimaverschiebung im Land“ reagiert. Dazu gehört auch eine anwachsende Verschwörungsmentalität (die laut einer aktuellen Studie bei AfD-Anhängern am meisten verbreitet ist).
Langsam erst setzt sich die Erkenntnis durch, dass Verschwörungstheorien keine „harmlosen Spinnereien“ sind.
Was können wir dagegen tun?
Unverändert gilt zum Beispiel das, was wir 2014 hier von der SPON-Kolumnistin Sibylle Berg übernommen haben:
Was tun wir mit der Einsicht, dass Argumente fast niemanden erreichen, und dass Aggression jedes Problem nur zuspitzt?
Vielleicht denken Sie sich: Wenn ich die Gegner meiner Weltsicht nicht überzeugen kann, bleibe ich einfach zu Hause, poliere Porzellan und warte auf mein Ende.
Das Problem: So angenehm sich dieser Gedanke anfühlen mag, er führt nicht zu einer Verbesserung der Welt oder was auch immer Sie dafür halten – nicht einmal im Kleinen. Denn dieser Gedanke beraubt Sie der Chance, wenigstens die aufgeschlossenen zwei Prozent zu erreichen.
Es hilft also nichts, man muss sich empören, man muss gegen das halten, was man für falsch erachtet. Man muss versuchen, Argumente zu finden, die möglichst viele andere auf die vermeintlich gute Seite bringen […]
Wer sich nicht mehr wehrt, wer nicht mehr für die Welt kämpft, in der er leben will, ist schon tot. Und das passiert früh genug.“
Als „Anleitung“ dafür haben wir in jüngster Zeit auf die Bücher von Franzi von Kempis oder Steven Novella oder Holm Hümmler hingewiesen. Denn es ist schlicht gesagt …
… keine Kleinigkeit, wenn Hip-Hopper, Kabarettisten, Politiker, Befindlichkeitsbarden, A, B oder C-Promis, Latte-Macchiato-Muttis aus Haidhausen oder der Linksaußen in der Thekenmannschaft von der Impf-Verschwörung oder Chemtrails raunen.
Von der „Szene“ selbst ist auch nach Hanau keinerlei Innehalten oder gar Umdenken zu erwarten – im Gegenteil:
Natürlich wittern viele verblendete Realitätsverweigerer auch hinter diesem Terroranschlag eine Verschwörung. So wird – wie gefühlt bei jedem Terroranschlag – fast einstimmig von einer Inszenierung gesprochen: das Ganze sei angeblich eine Ablenkung oder eine sogenannte False-Flag-Aktion, um Menschen mit ähnlichen Ansichten wie Tobias R. zu kriminalisieren.
Also müssen wir weiterkämpfen, mit „Gegenrede, Argumenten und Aufklärung“, so wie Sascha Lobo letztes Jahr in diesem Video appellierte:
Jede und jeder Einzelne von uns. Im Netz, auf der Straße und an der Wahlurne.
Zum Weiterlesen:
- Nach Hanau: Wie Verschwörungstheorien rechte Gewalt befeuern, Braunschweiger Zeitung am 22. Februar 2020
- Verschwörungstheorien: „Alles ist so, wie du denkst“, Zeit-Online am 23. Februar 2020
- Michael Butter: „Fast jeder Zweite in Deutschland glaubt an Verschwörungstheorien“, Deutschlandfunk am 25. Februar 2020
- Terroranschlag in Hanau: Der Aluhut glüht, Professor Schwurbelstein am 22. Februar 2020
- Attentat in Hanau: Der perfekte Verschwörungstheoretiker, netzpolitik am 24. Februar 2020
- Verschwörungstheorien sind keine harmlosen Spinnereien – und es wird Zeit, dass wir sie bekämpfen, br am 21. Februar 2020
- AfD-Wähler glauben laut Studie häufiger an Verschwörungstheorien, Zeit-Online am 25. Februar 2020
- Das Terrornetz des Einzeltäters, Spiegel-Online am 23. Februar 2020
- Der Täter und seine Schuld, Süddeutsche am 21. Februar 2020
- „Tobias R. reagierte auf eine politische Klimaverschiebung im Land“, hpd am 25. Februar 2020
- Im Internet kursieren erschreckend viele antisemitische Verschwörungstheorien, NZZ am 25. Februar 2020
- Antisemitische Verschwörungstheorien, blz.bayern am 14. Februar 2020
- Zur Ideologie des rechtsextremen Attentäters von Hanau, belltower news am 20. Februar 2020
- Warum der Terrorist von Hanau kein „verwirrter Einzeltäter“war, Vice am 21. Februar 2020
- Hass und Fake News nach Attentaten, FAZ am 25. Februar 2020
- Halle: „Antisemiten glauben an eine Weltverschwörung aus Juden und Nichtjuden“, GWUP-Blog am 12. Oktober 2019
- ZDF-Video: „Radikalisiert durch Verschwörungstheorien“ mit Sascha Lobo, GWUP-Blog am 26. Oktober 2020
- Wir dürfen die Welt nicht unseren Feinden überlassen, SPON am 3. Mai 2014
- Interview mit Lydia Benecke: Wenn Wahn und Rassismus zu Verbrechen führen, watson am 25. Februar 2020
- Interview mit Lydia Benecke: „Vieles zusammengekommen“, der westen am 22. Februar 2020
- Welch Ehre: GWUP, hpd und Co. auf der „Feindesliste“ der OCG, GWUP-Blog am 22. Februar 2020
25. Februar 2020 um 19:59
Danke für die Ausführlichkeit.
25. Februar 2020 um 23:18
Gut gemacht Herr Harder! Lange vor einer Radikalisierung müssen die Sorgen und Nöte ernst genommen werden. Wenn sich bei uns Menschen erst eine Meinung und Standpunkt, ob richtig oder falsch, gebildet hat, glaubt man meist nur an die eigenen Wahrheiten und Fakten. Aufklärung, Zuhören, miteinander reden, Hilfe und Verständnis müssen noch rechtzeitig Hand in Hand gehen. Und das sollte noch in der Ausbildung oder Schule geschehen.
26. Februar 2020 um 02:32
Et ceterum censeo:
Es sollte jetzt wirklich dringend mal eine Studie gemacht werden, die untersucht, ob seit Beginn des Internetzeitalters die Lebenszeitprävalenz von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis (bislang laut Lehrbuch ca. 1%) zugenommen hat. Oder ist die Zahl stabil, und die Erkrankten nutzen einfach nur neue Wege, ihren Wahn so lange zu füttern, bis daraus eine ausgewachsene Psychose geworden ist?
Meine Idee beruht darauf, dass die Zahl der Trigger massiv zugenommen hat – und auch die gegenseitige Verstärkung viel einfacher geworden ist.
26. Februar 2020 um 21:45
@noch’n Flo
Mir sind zwei Fälle persönlich bekannt:
Der Eine ist schizophren und der Andere ist ein Anhänger von Verschwörungstheorien, aber (so denke ich) nicht (oder noch nicht) krank. Der Verschwörungstheoretiker kennt auch den Schizophrenen und sagt, wie unlogisch die paranoiden Gedanken dessen sind, aber er selbst glaubt viele der kruden Verschwörungstheorien aus dem Internet…
ich denke, bei ihm wurden diese Verschwörungstheorien erst durch die Internetnutzung aktiv, denn ich kenne ihn von früher und da war er noch kein Anhänger solcher Theorien. Man sollte noch erwähnen, daß ich beide aus meinen „Drogenzeiten“ kenne und diese teilweise noch weiter Drogen konsumieren, deshalb kann man auch nicht wissen, welchen Anteil die Drogen an der physischen Verfassung dieser Personen haben.
Beide haben aber auch psychische Erkrankungen in ihrer Verwandtschaft (aber das hat ja jeder, mehr oder weniger).
27. Februar 2020 um 10:20
@noch’n Flo
Solche Querschnittstudien zur Lebenszeitprävalenz sind ziemlich schwierig zu interpretieren. Es gibt ja viele Faktoren, die das beeinflussen können. Zum Beispiel bei Depression steigt die Prävalenz, aber es ist unklar, welchen Anteil daran mehr Störungen, bessere Diagnostik oder weitere Kriterien haben.
27. Februar 2020 um 10:53
@noch’n Floh,
der Glaube an Verschwörungsmythen bzw. -theorien ist nicht an sich Ausdruck einer psychischen Erkrankung, wie auch Sebastian Bartoschek in seinem Interview für den MDR erklärte bezogen auf den Anschlag in Hanau.
https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/interview/attentaeter-war-nazi-und-psychisch-krank100.html
In dem von Tobias R. Geschriebenen wird ein wahnhaftes Erleben und Denken erkennbar, das dem Wahn eines Schizophrenieerkrankten entspricht, wobei ein solcher nicht ausreicht, um von einer Schizophrenieerkrankung zu sprechen. Er äußert zudem Stimmen zu hören, wobei es da auch darauf ankommt, wie genau diese wahrgenommen werden. Stimmen zu hören bedeutet keineswegs unbedingt, es handle sich um akustische Halluzinationen im Rahmen einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie.
Lydia Benecke benennt, was genau den Wahn erkennen lässt:
„Er äußert Symptome, die man eindeutig Wahn zuordnen kann. Er hat den festen Glauben, dass er sein Leben lang von einem Geheimdienst überwacht wird und eine höhere Macht ihn und alle anderen Menschen steuert, Gedanken liest und beeinflusst. Das wird besonders deutlich, als er unterschiedliche Szenen beschreibt, in denen er mit höheren Mächten spricht und auf Antworten wartet. Diese glaubt er über Träume und geheime Botschaften zu erhalten. Das sind also deutliche Symptome, die auf Wahn hindeuten.“
https://www.derwesten.de/panorama/vermischtes/tobias-r-hanau-attentaeter-kriminalpsychologin-das-machte-ihn-unsympathisch-id228487047.html
Es sind eben nicht im eigentlichen Sinne die geäußerten Verschwörungsmythen. Das besteht beides nebeneinander. Was ich damit sagen will, in diesem Fall gibt es dafür klare Anhaltspunkte für eine solche Erkrankung, wobei er auch dennoch eben ein Extremist war, der zugleich an Verschwörungsmythen glaubte und auch krank war. Auch seine narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die sowohl Dr. Nahlah Saimeh, als auch Lydia Benecke angesprochen haben, ist hier ebenfalls zu berücksichtigen.
Dass Wahninhalte von gesellschaftlichen Themen beeinflusst sind, ist in der Tat so, ja. Das waren in der Vergangenheit andere. Beispielsweise religiöse Themen, als Religion in unserer Gesellschaft noch mehr von Bedeutung war.
Nun sind Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, eben nicht durchweg psychisch krank. Unter ihnen sind jedoch auch Menschen, die krank sind. Ich denke, es zeichnet sich mehr ab, dass Verschwörungsmythen mehr thematisch im Wahn von erkrankten Menschen zu finden sind, was nicht heißt, es gebe mehr an Schizophrenie erkrankte Menschen.
27. Februar 2020 um 15:01
@ Monika Kreusel:
Ich habe nicht davon gesprochen, dass Tobias R. tatsächlich schizophren ist, auch wenn so einige Symptome in die Richtung deuten. [1] Ich meinte das allgemeiner.
Ich erinnere mich noch gut an meiner Assistenzarztzeit in der Psychiatrie vor 20 Jahren – da wurde das Thema „Triggerung bislang subklinischer Psychosen bzw. von Remissionen“ heiss diskutiert. Insbesondere deshalb stand man seinerzeit auch Selbsthilfegruppen Psychiatrieerfahrener sehr kritisch gegenüber.
Abgesehen davon trennt bisweilen nur ein sehr kleiner Grat den gewöhnlichen Verschwörungstheoretiker vom manifest Schizophrenen. Wenn die Veranlagung zur psychotischen Störung bereits vorhenden ist, können die Trigger aus dem Internet womöglich den entscheidenden Schritt ausmachen. Vor dem Internet mussten sich die Betroffenen ihren Wahn viel mühsamer selbst zusammenbasteln, heute können sie das mittels einer Art geistigen copy/paste viel einfacher.
[1]
Selbst ohne eventuelle akustische Halluzinationen haben wir bei Tobias R. mit Wahnwahrnehmung, Willensbeeinflussung und Gedankeneingebung gleich drei Symptome ersten Ranges (nach Schneider). Das weist dann aber doch recht deutlich in die Richtung einer Schizophrenie.
27. Februar 2020 um 21:20
Ein bisschen Paranoia ist normal – wann wird sie krankhaft?
https://www.nzz.ch/wissenschaft/ein-bisschen-paranoia-ist-normal-doch-zu-viel-ist-krankhaft-ld.1542639