Die Terroranschläge vom 11. September 2001:
Das Attentat auf Papst Johannes Paul II. im Mai 1981:
Der drohende Untergang des Papsttums:
Nostradamus hat es vorausgesehen – nicht nur in den 942 Vierzeilern der berühmten „Centurien“, sondern auch in einer Reihe von Zeichnungen, die 1994 in der römischen Nationalbibliothek entdeckt wurden.
Als „Lost Book of Nostradamus“ geistern diese Illustrationen regelmäßig durchs Nachtprogramm von kommerziellen Doku-Sendern
und werden von Hobby-Apokalyptikern zur Angstmache benutzt:
Auch die Esoterikpresse feierte den Sensationsfund:
Forscher haben in einer Bibliothek in Rom einen verblüffenden Fund gemacht: Sie entdeckten ein uraltes Buch. Darin: Achtzig Zeichnungen mit verschlüsselten Botschaften.
Die Prophezeiungen scheinen Hinweise auf die Terrorangriffe vom 11. September 2001 zu enthalten. Auch dem Vatikan und dem Papst selbst droht laut dem Manuskript in naher Zukunft viel Ungemach.
Handelt es sich um geheime Botschaften von Nostradamus?“
Einfache Antwort: nein.
Es handelt sich weder um „geheime Botschaften“ noch haben die Zeichnungen etwas mit Nostradamus zu tun.
Der vollständige Titel des Buches lautet
The Vaticinia Michaelis Nostradami de Futuri Christi Vicarii ad Cesarem Filium D. I. A. Interprete“,
also etwa „Prophezeiungen des Michel Nostradamus für seinen Sohn Cesar über die Zukunft des Stellvertreters Christi“.
Das ist indes bloß eine Art Schlagzeile, die ein cleverer Drucker anno 1629 dem Werk verpasste, um mit der populären Wortmarke „Nostradamus“ für einen höheren Absatz zu sorgen. Auch Nostradamus‘ ältester Sohn César (der 1629 in seinem letzten Lebensjahr war) scheidet als Autor/Zeichner aus.
In Wahrheit ist die bebilderte Schrift mit dem Kürzel „Vaticinia Nostradami“ nur die x-te Version eines lateinischen Originals namens „Vaticinia de Summis Pontificibus“ aus dem 13./14. Jahrhundert – also lange bevor Nostradamus (1503-1566) lebte.
Ähnlich wie die „Papst-Weissagungen des Malachias“ handelt es sich bei der „Vaticinia de Summis Pontificibus“ sehr wahrscheinlich um eine kirchenpolitische Tendenzschrift, die das Ziel hatte, eine Papstwahl zu beeinflussen beziehungsweise um einen bestimmten Kandidaten als von Gott vorherbestimmt erscheinen zu lassen:
Each prophecy consists of four elements, an enigmatic allegorical text, an emblematic picture, a motto, and an attribution to a pope. Their poems and tempera illuminations mix fantasy, the occult, and chronicle in a chronology of the popes.“
Die Stiftsbibliothek Kremsmünster weist ergänzend darauf hin, dass …
… eine erste Serie von 15 Papstweissagungen Ende des 13. Jahrhunderts in Italien in franziskanischen Kreisen [entstand], die dem Papsttum gegenüber kritisch eingestellt waren, durch Umformung aus byzantischen Kaiserprophetien, den sog. „Leo-Orakeln“; eine zweite Serie ist in freier Nachahmung der ersten vermutlich gegen Ende des Pontifikates Papst Gregors XI. (+1378), den die radikalen Franziskaner erbittert bekämpften, in ähnlichem Milieu entstanden.“
Beide Serien verschmolzen im Laufe der Zeit miteinander.
Während der Reformation kursierten daraus nachempfundene Zeichnungen als antiklerikale Satiren und Spottschriften, zum Beispiel in dem Buch
Ein wunderliche weissagung von dem Bapstnmb wie es yhm bis an das ende der welt gehen sol ynn figuren odder gemelde begriffe“
von 1527 des Nürnberger Reformators Andreas Ossiander, das sich in Augsburg in der Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek befindet.
Zum Vergleich eine angebliche Nostradamus-Zeichnung aus der „Vaticinia Nostradami“
und eine viel ältere Vorlage nach der „Vaticinia de Summis Pontificibus“
und dasselbe Motiv in Ossianders „wunderlicher weissagung“
Diese angebliche Nostradamus-Zeichung wird von Nostradamikern als tödliche Bedrohung des Papstes durch einen Attentäter mit einer Klinge gedeutet (etwa in der besagten TV-Doku):
Bei Ossiander und anderen sehen wir, was es tatsächlich ist:
nämlich ein Horn oder Schallrohr, ein Symbol für das Wort Gottes.
Das bedeutet: Der Kampf der Reformatoren gegen den Papst steht auf drei Säulen: auf der weltlichen Macht der Städte und Fürsten, dem rechten Glauben der Kleriker und auf Gottes Geheiß.
Es geht also durchaus um „Ungemach“ für Papst und Kirche – allerdings ganz anders, als die Nostradamiker glauben.
Eine illustrative Gegenüberstellung der angeblichen Nostradamus-Zeichnungen aus dem „Lost Book“ beziehungsweise „Vaticinia Nostradami“ und verschiedenen Abwandlungen von Bildern aus der „Vaticinia de Summis Pontificibus“ findet sich hier.
Und der brennende Turm?
Auch kein seherisches Bild von 9/11, sondern ein altes Tarotkarten-Symbol, das für „eine gewaltsame Veränderung“ steht:
Die vermeintlichen „Nostradamus-Zeichnungen“ mögen ebenso beliebig ausdeutbar sein wie die echten Verse des Renaissance-Gelehrten.
Mit Prophezeiungen für das 21. Jahrhundert haben sie genauso wenig zu tun.
Zum Weiterlesen:
- Nostradamus: Das „Wesen, halb Schwein, halb Mensch“ – ein Soldat mit Gasmaske im Krieg? GWUP-Blog am 2. Juli 2016
- Entschlüsselt: Die prophetische Visitenkarte des Nostradamus – der Turniertod von Heinrich II., GWUP-Blog am 2. Juli 2016
- Nostradamus entschlüsselt: Ein Berg ist kein Heißluftballon und ein Mausoleum kein Papst, GWUP-Blog am 15. Juni 2016
- Nostradamus debunked: keine „extrem präzise Prophezeiung zu Mega-EM-Terror“, GWUP-Blog am 10. Juni 2016
- Die Papstweissagungen des Malachias – schon wieder, GWUP-Blog am 6. März 2013
- Mühlhiasl, Irlmaier und Co: Die Angstmacher sind wieder da, GWUP-Blog am 11. Juni 2016