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Entschlüsselt: Die prophetische Visitenkarte des Nostradamus – der Turniertod von Heinrich II.

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Was liegt heute am 450. Todestag des großen „Sehers“ Nostradamus näher, als sich mit dessen berühmtester Vorhersage zu beschäftigen – seiner „astrologischen Visitenkarte“, wie nicht zuletzt Der Spiegel in einer Nostradamus-Titelgeschichte (53/1981) applaudierte:

Seit dieser prophetischen Glanzleistung war Nostradamus der gemachte Hellseher.“

Welche „prophetische Glanzleistung“?

Sogar nach Ansicht nicht-verhexter Skeptiker hat Nostradamus den Turnier-Tod des Franzosen-Königs Heinrich II. bis in die Details genau vorausgesagt.“

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Das Handelsblatt greift diesen Mythos aktuell wieder auf:

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Es geht um Vers 35 der I. Centurie:

35

Übersetzt:

Der junge Löwe wird den alten im Zweikampf auf dem Schlachtfeld besiegen. Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen ausstechen. Von zwei Flotten setzt sich eine durch, dann stirbt [er] einen grausamen Tod.“

So steht es in der Erstausgabe der „Centurien“ von 1555.

Am 1. Juli 1559 – bereits vier Jahre später – erfüllte sich dieses Orakel“,

meint der Spiegel unisono mit zahllosen Nostradamus-Fans und -Interpreten weltweit:

Während einer königlichen Hochzeitsfeier fordert Heinrich II. den schottischen Grafen Delorges Montgomery, der ihm als Hauptmann seiner Leibwache dient, spaßeshalber zum Wettstreit mit Pferd und Lanze heraus. Aus der Show wird vor Zeugen ein Unglück: Montgomerys Lanze durchsticht Heinrichs goldenes Visier („den Käfig“) und tritt in sein königliches Auge ein. Zehn Tage später ist Heinrich tot.“

Überaus tragisch. Was indes Nostradamus hier „bis ins Detail genau vorausgesagt“ haben soll, bleibt das Geheimnis der Nostradamiker.

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Vergleichen wir die realen Ereignisse am 30. Juni 1559 mit dem Nostradamus-Vers I/35:

Der junge Löwe wird den alten im Zweikampf auf dem Schlachtfeld besiegen.“

Es gab weder einen „jungen“ und „alten“ Löwen noch ein „Schlachtfeld“.

Heinrich II. war 40 Jahre alt, sein Gegner Gabriel de Lorges nur sieben Jahre jünger. Gabriel I. de Lorges, Graf von Montgomery, war kein „Löwe“ im Sinne eines Herrschers, sondern Hauptmann der Schottischen Garde. Weder er noch Heinrich II. hatten einen Löwen als Wappentier.

Das ritterliche Zweikampfspiel war kein Kriegsduell, sondern fand anlässlich der Feierlichkeiten zum Frieden von Cateau-Cambrésis auf der Rue Saint-Antoine in Paris statt.

Im goldenen Käfig wird er ihm die Augen ausstechen.“

Nirgends ist überliefert, dass der König einen goldenen oder vergoldeten Helm trug (was ein berichtenswertes, weil ungewöhnliches und auffälliges Detail gewesen wäre). Der Lanzensplitter verletzte das rechte Auge, nicht beide.

Weitere entscheidende Punkte:

Nostradamus schickt seinen „Centurien“ eine huldvolle Widmung an eben jenen Heinrich II. von Frankreich voraus – seinen „allermächtigsten und unbesiegbaren König von Frankreich“:

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Offenkundig rechnete Nostradamus mit einem langen und ruhmreichen Leben Heinrichs – ganz der prophetischen Tradition verhaftet, die von einem großen Monarchen aus Frankreich kündet, von einem Weltherrscher, unter dessen Führung ein neues Zeitalter beginnt.

Kein Wunder, dass bis zu Nostradamus‘ Tod am 2. Juli 1566 niemand auf die obige Deutung von Spiegel und Konsorten kam. Weder in den jährlichen Almanachen, die Nostradamus ab 1549 publizierte, noch in der ersten Nostradamus-Biografie seines Sekretärs und Bewunderers Jean-Aimé de Chavigny aus dem Jahr 1594 („La première face du Janus françois“) findet sich ein Wort davon.

Der berühmte Quatrain, in dem Nostradamus vorausgesagt haben soll, dass Heinrich II. im Verlauf eines Turniers den Tod finden werde, weil eine Lanze sein Auge durchbohren würde, ist von Zeitgenossen nicht einmal wahrgenommen worden“,

erklärt der französische Historiker Georges Minois in seiner „Geschichte der Zukunft“.

Tatsächlich haben wir es wieder einmal mit einer Nachhersage zu tun.

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Erst 1614 konstruierte César de Nostredame einen Zusammenhang zwischen Vers I/35 und dem Tod von Heinrich II., und zwar in seiner L’histoire et chronique de Provence, die der älteste Sohn des „Sehers“ dazu nutzte, um die Familienlegende aufzuhübschen:

Mit Nostradamus‘ „astrologischer Visitenkarte“ ist es in Wahrheit also nicht weit her.

Bleibt allerdings die Frage: Wenn es in Vers I/35 nicht um den Tod von Heinrich II. geht, worum geht es dann?

Sehr wahrscheinlich um das genaue Gegenteil beziehungsweise um eine bildhafte Fortschreibung der „Epistle to Henry II“.

Der Großteil der vermeintlich so mysteriösen Symbolik in den Nostradamus-Versen entstammt der Prodigien-Literatur, zum Beispiel den Büchern von Conrad Lycosthenes, die kurz vor (1552) und während (1557) Nostradamus‘ Arbeit an den „Centurien“ herauskamen.

Zu den wichtigsten Prodigienschriften des 16. Jahrhunderts gehört darüber hinaus das „Augsburger Wunderzeichenbuch“, das der Taschen-Verlag 2014 als Faksimileband der Forschung erstmals vollständig zugänglich machte.

Es enthält …

… Illustrationen von wundersamen und oft furchterregenden Himmelserscheinungen, Sternenkonstellationen, Feuersbrünsten, Überschwemmungen sowie anderen Katastrophen und rätselhaften Phänomenen“,

die die Menschen damals als „Vorzeichen“ betrachteten.

Dazu zählten auch symbolische Himmelsschlachten, also Kampfszenen, die man aus dramatischen Wolkenformationen herauslas und aus denen man Prognosen für den Ausgang realer Kriege auf der Erde ableitete:

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Himmel1Wikipedia Commons

Dem „Augsburger Wunderzeichenbuch“ verdanken wir denn auch den entscheidenden Hinweis zur Lösung von Vers I/35. Dieses „Wunderzeichen“ einer Himmelsschlacht zwischen zwei Löwen und ihren Armeen wurde erstmals im Jahr 1547 beschrieben – dasselbe, in dem Nostradamus sich nach Studium und ausgedehnter Wanderschaft in Salon de Provence niederließ und anfing, sich seinem Hauptwerk zu widmen.

Nostradamus nahm dieses Omen zum Anlass, um seinem König Heinrich II. einen baldigen Sieg über den Erzfeind Karl V. zu „prophezeien“ (= zu wünschen), den spanischen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, dessen (spanisches) Wappen sowohl einen Löwen als auch einen „goldenen Käfig“ (Helm) zeigt:

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1555, als die ersten 353 Vierzeiler erschienen, war Heinrich II. mit 36 Jahren der „junge“ und Karl V. mit 55 Jahren der „alte“ Löwe, die auf dem Schlachtfeld um die Vorherrschaft in Mitteleuropa kämpften.

Wie penetrant Nostradamus dieses Thema in den „Centurien“verfolgt, belegen zahlreiche weitere Verse ähnlichen Inhalts, insbesondere VI/70:

 70

Übersetzt:

Der große Chiren wird Führer der Welt sein: „noch weiter“, danach geliebt, gefürchtet, geachtet: Sein Ruf und Lob wird die Himmel übersteigen, und er wird sich mit dem einzigen Titel „Sieger“ begnügen.“

Der historisch-kritische Nostradamus-Experte Elmar R. Gruber schreibt dazu:

Chyren (oder Chiren) ist ein Anagramm für Henric, wie man den Namen Henri (Heinrich) im provenzalischen Dialekt der Heimat von Nostradamus schrieb. Der Vierzeiler ist ein Lobgesang auf König Heinrich II.

Frech bemächtigt sich Nostradaus hier in aller Klarheit der Devise Kaiser Karls V. („noch weiter“) und schreibt sie nun seinem König zu.

In seinen Augen ist er der auserwählte Herrscher der Welt, der geliebt und gefürchtet werden wird, dessen Autorität aber so überzeugend sein wird, dass er sich allein mit dem Titel eines Siegers zufriedengeben wird.“

Und womit Nostradamus sich anno 2016 zufrieden geben muss, ist der Titel eines Bestseller-Autors der frühen Neuzeit – nichts weiter.

Zum Weiterlesen:

  • Nostradamus: Das „Wesen, halb Schwein, halb Mensch“ – ein Soldat mit Gasmaske im Krieg? GWUP-Blog am 2. Juli 2016
  • Nostradamus entschlüsselt: Ein Berg ist kein Heißluftballon und ein Mausoleum kein Papst, GWUP-Blog am 15. Juni 2016
  • Nostradamus debunked: keine „extrem präzise Prophezeiung zu Mega-EM-Terror“, GWUP-Blog am 10. Juni 2016
  • Mühlhiasl, Irlmaier und Co: Die Angstmacher sind wieder da, GWUP-Blog am 11. Juni 2016
  • James Randi: The Mask of Nostradamus: The Prophecies of the World’s Most Famous Seer. Prometheus Books, Amherst 1993
  • Elmar R. Gruber: Nostradamus. Scherz, Bern 2003
  • Wie analysiert man Nostradamus-Verse? GWUP-Blog am 21. April 2010
  • Strophen des Schauderns: Vor 450 Jahren starb der düstere Prophet Nostradamus, sonntagsblatt am 28. Juni 2016
  • Die Angst geht um, Donauzeitung am 28. Juni 2016
  • Der Pestarzt und seine Visionen, Handelsblatt am 1. Juli 2016
  • Die Lust am Untergang, Frankfurter Neue Presse am 1. Juli 2016
  • Nostradamus 450. Todestag: Hinterher ist man immer schlauer, heute.de am 2. Juli 2016
  • Seher, Schwindler oder Dichter? Deutschlandfunk am 2. Juli 2016
  • Nostradamus wusste, wann es wirklich Dunkel wird, Welt-Online am 2. Juli 2016

3 Kommentare

  1. Guter Beitrag. Das Rezept ist eigentlich immer das gleiche. Wolkig formulieren, genaue Zeit- und Ortsangaben unbedingt vermeiden und viele solche Vorhersagen machen. Im Lauf der Zeit lässt dann immer mehr nachträglich zuordnen und der Rest kann ja noch kommen.

  2. @Thomas Jakob:

    Danke. Es werden noch zwei Beiträge zu Nostradamus kommen in den nächsten Tagen, dann sollte zu diesem Thema eigentlich alles gesagt sein.

  3. Der Schlüssel des Nanes Chiren ist aber doppeldeutig.

    Die Chi ist ein griechische Buchstabe (X) und in Ren stellt wohl für den griechischen Buchstaben Rho (P).

    Damit ist auf jedenfall Chi-Rho gemeint, das Christusmonogramm.

    Nostradamus war ein Fuchs was die Chifferung seiner Verse oder bestimmte Worter angeht. So könnte Chiren zwar in der Tat doppeldeutig als Anagramm hervorgehen. Aber vielleicht bezieht das Anagramm sich viel eher nur auf das Teilstück Ren. Denn damit generieren sich ein ganz andere Namen.

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