Über die weltumspannende Symbolik, die angeblich Promis und Politiker als Illuminaten outet, haben wir schon öfter berichtet.
Besonders Lady Gaga hat es den Konspirologen angetan – nicht nur ihr Auftritt als schwarzer Schwan im „Applause“-Video lässt die Verschwörungsjäger im Internet hyperventilieren:
Bezüge zu den unchristlichen „magischen Praktiken“ der amerikanischen Ureinwohner werden dabei ebenso zwanglos herbei assoziiert wie eine direkte Verbindung zu dem Hollywoodfilm „Black Swan“ oder zu mythologischen Vogelfrauen.
Was nun Sirenen oder schwarze Schwäne genuin mit den Illuminaten zu tun haben sollen, bleibt dabei wie immer seltsam vage.
Allerdings hat auch Der Spiegel (Nr. 27/2014) unlängst einen Illuminaten-Artikel mit der Überschrift „Seltsamer Schwan“ versehen.
Es ging darin jedoch nicht um Lady Gaga, sondern um die berühmte „Illuminatendecke“ in Ingolstadt.
Dabei handelt es sich um eine bemalte Stuckdecke, die im 18. Jahrhundert den geheimen Versammlungssaal des 1776 gegründeten Illuminatenordens in der Theresienstraße 23 zierte.
1942 wurde sie abgenommen und als Baudenkmal in die Hohe Schule – das ehemalige Universitätsgebäude – verbracht.
Obwohl die Ingolstädter Illuminaten außer der Eule der Minerva gar keine Symbole verwendeten, hält sich in manchen Kreisen die Überzeugung, dass das acht auf sechs Meter große Deckengemälde „die Grundwerte der Geheimgesellschaft verschlüsselt“ darstellt.
Das jedenfalls behauptet der Historiker und Journalist Kay Reinhardt in seinem Aufsatz „Die Universitätsstadt Ingolstadt“, erschienen in dem Bildband zur Ausstellung „Ingolstadt – vom Werden einer Stadt. Geschichten und Gesichter“ aus dem Jahr 2000.
Auf der „Illuminatendecke“ ist unter anderem der oberste olympische Gott Zeus (römisch Jupiter) zu sehen – neben einem (weißen) Schwan:
Der Schwan neben Zeus charakterisiert den Göttervater als Meister der Täuschung“,
meint Reinhardt.
Vermutlich deswegen, weil Zeus sich in einen Schwan verwandelte, um Leda nachzustellen.
Auch Spiegel-Redakteur Matthias Schulz schreibt zu dem Bildausschnitt:
Neben dem Göttervater Jupiter sitzt seltsamerweise ein Schwan. Niemand weiß, warum.“
Für heutige „Illuminatenjäger“ sollte das eigentlich eine Traumvorlage sein.
Aber offenkundig zeugt es sowohl von deren faktischer Unkenntnis als auch von völliger Phantasielosigkeit, dass noch keiner von ihnen versucht hat, einen Zusammenhang zwischen der „Illuminatendecke“, dem Schwan und zum Beispiel Lady Gaga oder „Black Swan“ zu konstruieren.
Man darf wohl getrost davon ausgehen, dass Verschwörungsfreaks die wahre Geschichte der Illuminaten gar nicht kennen und auch noch nie in Ingolstadt beziehungsweise in der Hohen Schule oder bei der Illuminaten-Stadtführung gewesen sind.
Auch nicht in der wissenschaftlichen Stadtbibliothek, wo das „Sammelblatt des Historischen Vereins Ingolstadt“ archiviert wird.
In der Ausgabe 118 von 2009 macht sich die Eichstätter Kunsthistorikerin Dr. Christina Grimminger daran, die bunten Chiffren der „Illuminatendecke“ zu entschlüsseln.
Das indes so gründlich, dass für „Illuminati“-Fans kein Bonbon abfällt.
Die bisherigen Deutungen der „Illuminatendecke“, die in ihr Symbole des Ingolstädter Geheimordens sehen wollen, müsse man „dem Reich der Phantasie“ zuordnen, schreibt Grimminger:
Die Entstehung der Illuminatendecke hat absolut nichts mit dem Geheimbund zu tun. Im Gegenteil, die Decke ist mehrere Jahrzehnte älter als der Orden und gibt sich […] als eine Schöpfung des Barock zu erkennen.“
Als Auftraggeber der bemalten Stuckdecke komme nur der Ingolstädter Medizinprofessor Johann Adam Morasch in Frage, der 1734 (lange vor der Gründung der Illuminaten) starb.
Aber:
Auch Grimminger gibt zu, dass es „merkwürdig“, ja „fast unerklärlich“ sei,
… warum Jupiter in der Götterversammlung ein Schwan beigegeben ist, denn dem König der Götter gebührt als begleitendes Tier der König der Vögel, der Adler.“
Die Kulturwissenschaftlerin skizziert eine charmante Theorie, und zwar vor dem historischen Hintergrund heftiger Kompetenzstreitereien an der medizinischen Fakultät zu Ingolstadt, wo die Jesuiten massiv die Freiheit der Lehre einschränkten und Morasch als Ordinarius für Anatomie zeitweilig sogar seines Amtes enthoben wurde:
Ob Morasch hier bewusst eine Verwechslung inszeniert hat?
Der Schwan kommt in der Stuckdecke ein zweites Mal vor […], wo er sich selbst an der Nase zupft. Und der Adler, eigentlich das Attribut von Jupiter, breitet über dem Professor und damit über Morasch seine Flügel aus.
Ob Morasch mit der Verwechslung andeuten will, dass das Sagen – also die Rolle Jupiters – im Prinzip die Narren innehaben?
Möglich wäre es durchaus. Morasch hat auch die Disputationstradition wiederbelebt.
Angesichts der Tatsache, dass neben fachspezifischen Themen auch einige sehr haarsträubende Themen diskutiert wurden, etwa ob Adam und Eva als erste Menschen mit einem Nabel gemalt werden dürfen oder nicht, scheint eine derart versteckte und ungewöhnliche Verbildlichung zeitgenössischer Querelen durchaus möglich.“
In diesem Licht betrachtet ist die Botschaft der Ingolstädter „Illuminatendecke“ gegenwärtig genauso aktuell wie im 18. Jahrhundert:
Nicht jedes verrätselte Musikvideo einer exzentrischen Künstlerin verbirgt gleich eine Verschwörung.
Und an sehr haarsträubenden Themen (wie zum Beispiel die „Illuminaten-Weltverschwörung“) haben wir auch im 21. Jahrhundert keinerlei Mangel.
Zum Weiterlesen:
- Seltsamer Schwan, Der Spiegel Nr. 27/2014
- Lady Gaga und die Illuminaten, GWUP-Blog am 13. Oktober 2013
- Kim Kardashian, Illuminaten und die Geister von 9/11, GWUP-Blog am 8. Dezember 2013
- Bernd Harder: Und was haben die Illuminaten damit zu tun? Alles! MIZ 4/2013
- Das geheime Manifest der Illuminaten – eine Sensation? GWUP-Blog am 11. Juni 2014
- Neues von der Merkel-Raute, GWUP-Blog am 21. Mai 2014
- Illuminati in Ingolstadt: Alles nur Phantasie? GWUP-Blog am 27. August 2009
- Kanzlerin Merkel und die Psychologie von Verschwörungstheorien, GWUP-Blog am 4. Mai 2013
- Illuminati: Erleuchtete oder Dunkelmänner? GWUP-Blog am 20. Mai 2009
- Eine Ingolstädter Erfindung: Der legendäre Geheimbund der Illuminaten, Wir in Ingolstadt am 1. Dezember 2013