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Podiumsdiskussion: Waldorf in Wilhelmsburg und die Bankrotterklärung der Politik

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Ein Gastbeitrag von André Sebastiani

Am vergangenen Mittwoch wurde bei einer Podiumsdiskussion über den Waldorf-Schulversuch an der Ganztagsschule Fährstraße in Hamburg Wilhelmsburg gesprochen.

Eingeladen hatte die Hamburger Regionalgruppe der GWUP.

Auf dem Podium saßen die Sektenexpertin Ursula Caberta, der ausgebildete Waldorflehrer und -kritiker Andreas Lichte, die ehemalige Waldorfschülerin Laura Sand, der Inklusionslehrer an der GTS Fährstraße Körrie Kantner und ich als Initiator der Unterschriftenaktion gegen den Schulversuch.

Die Moderation übernahm Regionalgruppenleiterin und GWUP-Vorstandsmitglied Dr. Julia Offe.

Die Debatte verlief überaus hitzig, wie auch das Hamburger Abendblatt berichtete, obwohl die Meinungen auf dem Podium wenig kontrovers waren.

Anhänger der Waldorf-Ideologie saßen verstreut im Publikuk und störten von Beginn an die Veranstaltung mit lauten Zwischenrufen. Kritik entzündete sich an der einseitigen Besetzung des Podiums.

Das lag aber keineswegs daran, dass wir keine Befürworter des Schulversuchs dabeihaben wollten – sondern dass diese nicht teilnahmen.

Die Projektleiterin der für den Schulversuch maßgeblich verantwortlichen Initiative „Waldorf Wilhelmsburg“, Christiane Leiste, war ebenso eingeladen wie Vertreter aller in der Bürgerschaft vertretenen Parteien und nicht zuletzt Schulsenator Ties Rabe (SPD).

Senator Rabe sah sich indes auch nicht imstande, einen Vertreter zu entsenden.

Anstatt also den Kritikern der geplanten staatlichen Waldorfschule und vor allem den Menschen in Wilhelmsburg endlich Rede und Antwort zu stehen, entzog sich der Senator erneut der Debatte.

Seine Behörde äußerte sich lediglich aus der Ferne, im Rahmen der Berichterstattung bei RTL-Nord und im Abendblatt, mit einigen bemerkenswerten Statements.

Pressesprecher Peter Albrecht (SPD) sagt im RTL-Interview, dass man im Rahmen des Schulversuchs …

… ein ganzheitliches Lernen dort installiert, fächerübergreifend arbeitet und besonders im Bereich musische, künstlerische und aber auch handwerkliche [Erziehung?] Lernangebote schafft für die Schülerinnen und Schüler, und wir denken, das ist der richtige Weg.“

Bislang hat man an der Ganztagsschule Fährstraße also anscheinend nicht das ganze Kind im Blick, oder was meint Herr Albrecht mit „ganzheitlich“?

Weder fächerübergreifendes Lernen noch ein handwerklicher, musischer oder künstlerischer Schwerpunkt haben für sich genommen etwas mit Waldorfpädagogik zu tun.

Waldorf wird erst daraus, wenn Rudolf Steiners anthroposophische Ideologie hinzutritt und der Unterricht sich an esoterischen Konzepten wie „Temperamenten“ oder „Jahrsiebten“ orientiert und aus diesen Vorstellungen Unterrichtsinhalte in den entsprechenden Fächern generiert werden.

Zum Beispiel soll man während des ersten Jahrsiebts nicht Lesen und Schreiben lernen. Das darf man erst nach dem Zahnwechsel, wenn der „Ätherleib“ geboren wird.

Den Medien hatte die Schulbehörde aber noch mehr zu sagen:

Die Lehre Rudolf Steiners werde sich überhaupt nicht im Unterricht wiederfinden, erklärt die Hamburger Schulbehörde auf Nachfrage des Abendblattes“,

heißt es in dem Artikel „Hitziger Streit um Waldorfschule“.

Waldorfpädagogik ohne die Lehre Rudolf Steiners?

Das klingt wie schwimmen ohne nass zu werden.

In der Wikipedia heißt es zur Waldorfpädagogik bereits im ersten Satz:

Die Waldorfpädagogik ist eine durch Rudolf Steiner (1861–1925) begründete Pädagogik auf der Grundlage der ebenfalls von ihm entwickelten Menschenkunde Anthroposophie.“

Die Bildungsbehörde möchte also der Waldorfpädagogik die Grundlage entziehen. Das wäre ja eigentlich zu begrüßen, denn das hieße, man würde einen Waldorfschulversuch ohne Waldorf-Elemente starten.

Doch so einfach ist die Sache nicht.

Im Kooperationsvertrag zum Waldorf-Schulversuch in Wilhelmsburg ist festgeschrieben, dass die Schule nicht an der landesweiten Vergleichsuntersuchung KERMIT in der 2. Klasse teilnimmt, die zum Ziel hat, etwaige Förderbedarfe früh zu erkennen.

Warum ist dies nicht im Interesse der Schule, mit ihrem erfahrungsgemäß hohen Anteil an förderbefürftigen Kindern?

Meine Befürchtung ist, dass man tatsächlich den Schriftspracherwerb herauszögern will, wie es nach der esoterischen Waldorfentwicklungslehre vorgesehen ist.

Durch diese Lernverzögerung würden die Ergebnisse beim Vergleichstest in der 2. Klasse natürlich schlecht ausfallen.

Auf meine Frage, warum die Schule nicht an KERMIT2 teilnimmt, erklärte mir Pressesprecher Albrecht:

Die Befreiung von der Teilnahme an KERMIT2 wurde auf Bitten der Initiative vereinbart.“

Ein Pressesprecher zeigt sich ahnungslos, die Behörde überlässt der Waldorfinitiative das Feld und macht beide Augen fest zu.

Letzten Endes ist dies die politische Bankrotterklärung von Senator Rabe und der Hamburger Bildungsbehörde, die ihre Unkenntnis und Ignoranz in der Presse zur Schau stellt.

Kein Wunder, dass man sich der Debatte in der Honigfabrik entzogen hat – und umso wichtiger, dass die berechtigten Sorgen der Kritiker direkt vor Ort zur Sprache kamen.

Zum Weiterlesen:

  • Hitziger Streit um Waldorfschule, Hamburger Abendblatt am 13. Juni 2014
  • „Das ist eine Ideologie“, RTL-Nord am 12. Juni 2014
  • Waldorf in Hamburg: Esoterik und “abstruse Ideen”, GWUP-Blog am 26. November 2013
  • Waldorf-Petition im Hamburger Senat überreicht, GWUP-Blog am 22. November 2013
  • Versteinerte Erziehung, Skeptiker 4/2011 (aktualisierte Fassung online hier)
  • “Waldorf-Schule”, Hoaxilla-Podcast Nr. 107 vom 18. November 2012
  • Offener Brief des GWUP-Wissenschaftsrates an Schulsenator Ties Rabe
  • “Pragmatischer Waldorf” – was soll das denn sein? GWUP-Blog am 10. Februar 2013
  • “Ein bisschen Waldorf geht nicht”, taz am 25. November 2013
  • Vortrag „Ver-Steinerte Erziehung“ als Video, GWUP-Blog am 18. Februar 2014

19 Kommentare

  1. „Anhänger der Waldorf-Ideologie saßen verstreut im Publikum und störten von Beginn an die Veranstaltung mit lauten Zwischenrufen.“

    Das passt zum Bild, welches ich von diesen Leuten habe…

  2. Warum stellt mann nicht mal eine Presseanfrage über alles Zeitungen Hamburgs?

    Das mit dem Traunsteiner Homöopathie-Studiengangs Homöopathie hat doch gut funktioniert, als die Presse eingeschaltet wurde. Danke muss man in diesem Fall Herrn Dr. Norbert Aust sagen, der dies vorbildlich aufgeklärt hat und sicherlich viel Zeit investiert hat.

  3. Mit der Entscheidung, die Eltern erst gar nicht zu informieren, eifern Senator Ties Rabe und sein Pressesprecher Peter Albrecht Rudolf Steiner nach:

    „Wir können nicht dasselbe, was wir unter uns reden, den Eltern sagen. Wir können nicht sagen:

    Seid froh, daß euer Junge mit 9 Jahren noch nicht lesen und schreiben kann. Er wird um so besser lesen und schreiben, wenn er es mit 9 Jahren nicht gekonnt hat.

    (…) Wir müssen die Menschen, die aus der heutigen Bildung kommen, etwas sanft anfassen und nicht gleich frappieren, sonst würden wir mit unseren Bestrebungen unter die Räder kommen.“

    Rudolf Steiner, “Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung”, GA 302, Seite 130f., http://fvn-archiv.net/PDF/GA/GA302.pdf

  4. Ich kann es gar nicht oft genug schreiben:

    Dass wir das Kind bei den Behämmerten im 6. Schuljahr von der Schule genommen und auf einem Gymnasium angemeldet hatten, war die beste Entscheidung, die wir je gehabt hatten, wenn sie auch recht spät war.

    Und die Idee, es bei Waldorfs anzumelden, die Schlechteste.

  5. @Kumi: Ich würde mich freuen, wenn du mir deine Erfahrungen einmal berichten würdest.

  6. @ André: Ja, kann man beizeiten gerne mal machen. :-)

  7. Seltsam. Mein Sohn geht jetzt in die 6te Klasse einer Waldorfschule – und ich hab noch nie was von einem Ätherleib gehört…
    Aber vielleicht ist das ja keine ‚echte‘ Waldorfschule? Oder ich bin nicht wirklich informiert. Selbst der Religionsunterricht hat dort eine Form, die ich als Antitheist schon fast erträglich finde.
    Er las schon vor der ersten Klasse und bis heute können wir nicht genug Bücher so schnell ‚ranschaffen, wie er sie konsumiert.

    Nun sind Waldorfschulen aber auch – wegen der privaten Trägerschaft – sehr unterschiedlich. Das größte Problem, das ich derzeit sehe ist, das Waldorfschulen im Moment (seit PISA) von zu vielen Schulversagern (mit zahlungskräftigen Eltern) aus konventionellen Schulen überrannt werden. Das drückt massiv auf die Qualität des Unterrichts.

  8. @ André Sebastiani
    „Ich würde mich freuen, wenn du mir deine Erfahrungen einmal berichten würdest.“

    Gleicher Gedanke. Auch ich wollte Kumi darum bitten, dies bzgl. zu berichten. Kumi wäre meines Wissens nach der Erste, der hier im Blog über seine geänderte Meinung berichten würde.

  9. @ Hymeteron

    Zitat Hymeteron: „Seltsam. Mein Sohn geht jetzt in die 6te Klasse einer Waldorfschule – und ich hab noch nie was von einem Ätherleib gehört…“

    „Seltsam“ ist das nicht:

    Der Waldorflehrer hat schon was vom „Ätherleib“ gehört, ABER das verrät er natürlich nicht den naiven Eltern …

  10. Zum „Ätherleib“ auch noch ein kurzer Auszug aus dem Interview “Man kann nicht nur ein ‘bisschen’ Waldorf sein” mit dem Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Stefan T. Hopmann von der Universität Wien:

    „(…)

    Lichte: noch einmal zur Jahrsiebtelehre – von 0–7 Jahre wird der physische Leib entwickelt, von 8–14 Jahre der Ätherleib, von 15–21 Jahre der Astralleib, vom 21 Lebensjahr an endlich das „Ich“ – erst dann ist der Mensch ein Mensch. Was sagen Sie zu Steiners Mensch aus dem Esoterik-Baukasten?

    Prof. Hopmann: Wir leben in einer freien Gesellschaft. Also hat jede/r das Recht, jeden Unfug zu glauben. Nur sollten sich Eltern, die ihr Kind einer Waldorfschule anvertrauen, darüber im klaren sein, dass sie dann einer Pädagogik vertrauen, die ein heilloses Gebräu esoterischer Glaubenssätze über Drüsen, Zahnentwicklung, astrologischen Einflüsse und ähnliches ist, das von der modernen Kinderpsychologie und der aktuellen Lehr-Lern-Forschung durchweg als durch nichts begründbarer Unsinn abgelehnt wird. Entschiedene Waldorfianer wird das nicht anfechten: Wie alle Sekten sind sie gegen widersprechende Wissenschaft immun.

    (…)“

    mehr: http://www.ruhrbarone.de/waldorfschule-„man-kann-nicht-nur-ein-»bisschen«-waldorf-sein“/30117

  11. @Hymeteron:

    << Das größte Problem, das ich derzeit sehe ist, das Waldorfschulen im Moment (seit PISA) von zu vielen Schulversagern (mit zahlungskräftigen Eltern) aus konventionellen Schulen überrannt werden. << Das mag sein - ich selbst habe bei Info-Veranstaltungen eher tief verzweifelte und ratlose Eltern getroffen - und Waldorf-"Lehrer", denen ich als Schüler nicht in die Hände fallen möchte: https://blog.gwup.net/2010/04/18/wochenend-ausflug-ins-waldorf-marchenland/

  12. … von Lukas Böhnlein, Ex-Waldorfschüler, ist auch das „Waldorfschulen Bullshit-Bingo“ …

    Waldorf-Propaganda-Lügen auf unterhaltsame Art entlarvt:

    http://www.ruhrbarone.de/waldorfschulen-bullshit-bingo-waldorfsprech-fuer-bildungssenator-ties-rabe/48691

  13. Sehr gut, dass ein anerkannter Experte, hier ein Bildungswissenschaftler, öffentlich die Stimme erhebt und Klartext redet …

    Esoterische Indoktrination kann man nach außen hin so geschickt tarnen und bemänteln, dass sie uninformierten Normalbürgern kaum auffällt.

  14. TZja, wenn man nicht will, kann man auch nicht. Mit 7 Jahren Geburt des Ätherleibes nennt man in deutscher Sprache „Zahnwechsel“ (übrigens relativ individuell), „Geburt des Astralleibes“ nennt man in deutscher Sprache „Pubertät“ (auch sehr individuell) und „Geburt des Ich“ nennt man bzw. nannte man bis vor einigen Jahren „Volljährigkeit“. Hat mit Esoterik“ nicht viel zu tun. Im übrigen danke ich Frau Kaberta für ihre Arbeit im Hinblick auf Scientology, ich habe sie mal in einer Waldorfschule darüber rden hören.

  15. @Arfst Wagner:

    << Hat mit Esoterik" nicht viel zu tun. << Dann würde ich auch keine esoterischen Begriffe dafür verwenden. Außerdem meinen die Anthros eben mitnichten dasselbe mit diesen Wörtern wie das, was Sie schreiben.

  16. die Waldorfschule hat genauso wenig mit Esoterik zu tun, wie Arfst Wagner … prust !

    Ich habe vor langer, langer Zeit mal e-mails ausgetauscht mit dem Esoteriker / Okkultisten / „…“ Arfst Wagner – Lesetipp (freak-show):

    Arfst Wagner, „Das Geheimnis der 8. Sphäre.“ In: Die Hintergründe von 666, Flensburger Hefte 61, Flensburg 1998, ISBN 3-926841-85-0

  17. @Arfst Wagner

    Mit 7 Jahren Geburt des Ätherleibes nennt man in deutscher Sprache “Zahnwechsel” …

    Hmm, ich hätte schwören können, dass „Geburt des Ätherleibes“ schon deutsche Sprache ist! Wie nennt man denn diese Sprache, die aussieht, riecht und schmeckt wie die deutsche Sprache, aber für den Ottonormalbürger erst in ebendiese übersetzt werden muss?

  18. @ Vicky

    ein bisschen mehr Respekt !

    du sprichst mit einem leibhaftigen „Eurythmisten“ … das ist knapp, aber wirklich nur ganz knapp, vor der vollkommenen Erleuchtung à la Rudolf Steiner:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Arfst_Wagner

    „Arfst Wagner studierte von 1977 bis 1978 am Institut für Waldorf-Pädagogik in Witten-Annen, von 1978 bis 1980 Eurythmie an der Schule für Eurythmische Kunst bei Heinz Schimmel in Hannover und von 1979 bis 1981 Schauspiel und Sprachgestaltung an der Schule für Sprachgestaltung und dramatische Kunst bei J. W. Ernst in Muttenz bei Basel. Seit 1981 ist er Lehrer für Eurythmie und freichristliche Religion an der Freien Waldorfschule in Rendsburg (…)“

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