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Kreuzigung und Kannibalismus? Psychologen-Fachverband in der Schweiz positioniert sich gegen RG-MC-Verschwörungstheorie

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Bei unserem Skeptical-Programmteil zum Thema Rituelle Gewalt-Mind Control (RG-MC) am 9. Mai in Augsburg war der deutsch-schweizerische forensische Psychiater Frank Urbaniok mit einer Video-Botschaft vertreten:

Darin erklärte er unter anderem, dass es keinen einzigen belegten Fall von „ritueller Gewalt“ gibt, denn:

Sexuelle Missbrauchshandlungen an Kindern haben entweder etwas zu tun mit Macht, mit Sex oder mit Geld. Aber es gibt eben nicht die ideologisch motivierte Tat, dass es aus satanistischen oder anderen Motiven zu sexuellen Handlungen kommt, aus irgendwelchen rituellen Gründen. Dafür gibt es nicht einen einzigen Beleg.

Hier das Skeptical-Video in einer aktualisierten Version:

Ausführlicher behandelt Urbaniok diesen Punkt in einem Fachaufsatz für das Journal Der Nervenarzt:

Es gibt trotz zahlreicher Ermittlungsverfahren bislang keinen einzigen Fall, in dem sexuelle Missbrauchshandlungen aus ideologischen Motiven durch eine mächtige subversiv arbeitende Organisation nachgewiesen wären […]

Es existiert eine große Zahl an Betroffenenberichten und aufgedeckten Taten schwerster Formen der Gewalt, in denen manipulative und instrumentalisierte Strategien von Täterschaften beschrieben werden. Kommt die spezielle Täter:innenstrategie der scheinbar ideologischen Einbettung hinzu, können zwar Glaubenselemente zur ideologischen Rechtfertigung also zur instrumentalisiert ideologischen Begründung genutzt werden.

Es handelt sich aber bei der verübten Gewalt nicht um ein Glaubensritual wie bei angeblich satanistischen Handlungen sog. ritueller Gewalt.

Machtmissbrauch als Täterstrategie ist bei allen Arten sexuellen Missbrauchs zu sehen und u. E. ist eine solche ideologische Rahmung als Rationalisierung oder scheinbar ideologische Begründung des Machtmissbrauchs einzuordnen.

Auch wenn die Täterschaft einer tatsächlichen Ideologie folgt, besteht die Primärmotivation nicht in der Ideologie, sondern im Rahmen der Ideologie werden Sexualstraftaten aus den bekannten Motiven von Macht, sexuellen und finanziellen Interessen verübt, wie z. B. in Sektenkontexten der Colonia Dignidad.

Der Begriff rituelle Gewalt ist somit zu hinterfragen, ebenso seine „Sonderstellung“.

Dass auch das immer wieder angeführte Beispiel der Colonia Dignidad (etwa von Bergmann et al. oder dem Betroffenenrat bei der UBSKM) mitnichten als „rituelle Gewalt“ im Sinne der RG-MC-Verschwörungstheorie betrachtet werden kann, erläuterte beim Skeptical die angehende Psychologin Jasmina Eifert (3.v.r.):

Und das sind keine Einzelmeinungen.

Die Föderation der Schweizer Psycholog:innen (der größte Berufsverband von Psychologen in der Schweiz) hat jetzt ein Faktenblatt zum Thema

Wissensstand dissoziative Identitätsstörung und Psycho-Traumatologie

veröffentlicht.

Darin heißt es:

Wenn ausgesagt wird, dass keine Fälle von ritueller Gewalt je bestätigt wurden, wird dadurch das Vorhandensein von organisierter Kriminalität nicht verleugnet. Schlichtweg gibt es aber keine Beweise für die Existenz einer Gruppe, die rituelle Gewalt ausübt, und dies obwohl seit den 80er Jahren immer wieder entsprechende Ermittlungen laufen.

(Sexualisierte) Gewalt in religiösen Gruppierungen wie auch Institutionen tritt immer wieder – wenn auch mit großer zeitlicher Verzögerung – ans Tageslicht. Meist gibt es in diesen Kontexten mehrere Opfer und oft auch mehrere Täter:innen.

Wenngleich davon auszugehen ist, dass die Täter:innen bisweilen voneinander wissen und sich untereinander decken, so steht hier dennoch die Befriedigung individueller (sexueller) Bedürfnisse im Vordergrund. Es bestehen in der Regel keine institutionalisierten Absprachen im Sinne von organisierten oder koordinierten Handlungen.

Erst vor kurzem hat sich einer der (bisherigen) prominenten RG-MC-Vertreter in Deutschland, der Hamburger Sexualwissenschaftler Peer Briken, dafür ausgesprochen, die „Begriffsverwendung“ im Zusammenhang mit „ritueller Gewalt“ kritisch zu hinterfragen beziehungsweise „an den zu verwendenden Begriffen künftig interdisziplinär“ weiterzuarbeiten, um endlich Klarheit darüber zu schaffen, was „genau unter rituelle Gewalt gefasst [wird] und wie sie von anderen organisierten Gewaltformen abzugrenzen“ ist.

Die neue FSP-Publikation bietet dafür hervorragende Ansatzpunkte.

Wir sind gespannt, wie ernst es Briken mit seiner Annäherung an die RG-MC-Kritiker wirklich ist – oder ob in der Szene weiterhin mit mindestens 20 verschiedenen Definitionen für „rituelle Gewalt“ hantiert wird (siehe Infoportal Rituelle Gewalt), die allesamt den Zweck haben, die Öffentlichkeit über die spezifischen Elemente der RG-MC-Verschwörungstheorie hinwegzutäuschen.

Außerdem geht es im „Faktenblatt“ der FSP um die neue „Satanic Panic“, um „Mind Control“ und um die Einordnung der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) „im Kontext von Satanic Panic“.

Das ist umso wichtiger, da gerade mal wieder eine selbstdefinierte Betroffene mit ihrem Buch durch die Medienlandschaft rauscht.

Darüber hinaus nimmt Frank Urbaniok im Beobachter zu einem aktuellen Fall (mit Video) von Falscherinnerungen Stellung:

Die ganze Geschichte lief wieder einmal genau so ab, wie wir es beim Skeptical mit einer Betroffenen diskutiert haben:

Zu Beginn der Therapie hatte die Patientin den Missbrauch noch verneint. So steht es in der Therapieakte […] Die Eltern sind sich sicher: Auslöser war die Psychotherapie von Bettina. Dort seien diese falschen Erinnerungen in ihrer Tochter hervorgerufen worden – mitsamt ihren deutlichen Anlehnungen an satanistische Rituale.

Tatsächlich tauchten mit praktisch jeder Therapiestunde mehr vermeintliche Erinnerungen und immer grässlichere Details im Kopf von Bettina auf. So dokumentiert es die Therapieakte. Nach und nach formte sich daraus das grausige, satanistisch gefärbte Horrorszenario.

Gewisse Therapeuten [glauben], dass vermeintliche Satanisten Menschen aufs Übelste missbrauchen und sogar töten. Diese Verschwörungstheorie heisst in Fachkreisen „Satanic Panic“. Sie machte sich in den vergangenen Jahren auch in mehreren psychiatrischen Kliniken der Schweiz breit.

Urbaniok dazu:

Zusätzlich verheerend an solch fehlgeleiteten Therapien ist, dass sie indirekt echte Opfer in Misskredit bringen.

Ein weiterer aktueller Bericht dieser Art findet sich bei False Memory Deutschland.

Und wir können in diesem Zusammenhang nur immer wieder auf das Fazit unserer Broschüre

Rituelle Gewalt – Mind Control: „Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?“

verweisen:

Sicher ist die Zahl dieser Therapieopfer viel geringer als die Zahl der sexuellen Missbrauchsopfer. Aber das ist kein Grund, diese kleine Opfergruppe sich selbst zu überlassen.

Zum Weiterlesen:

  • „Satanic Panic“: FSP sensibilisiert Mitglieder mit wissenschaftlicher Aufarbeitung, psychologie.ch am 20. Juni 2024
  • Rituelle Gewalt – Mind Control: „Elitenverschwörung oder Verschwörungstheorie?“ jetzt kostenlos zum Download, GWUP-Blog am 17. Juni 2024
  • Lesetipp: Neue Infobroschüre über RG-MC, dissoziationen am 18. Juni 2024
  • Massaker, Kriegsverbrecher und Netzwerke, dissoziationen am 28. Mai 2024
  • Falsche Erinnerungen: Ein grauenhaftes Hirngespinst fordert reale Opfer, beobachter am 19. Juni 2024
  • Falsche Erinnerungen: Ein grauenhaftes Hirngespinst fordert reale Opfer, srf am 19. Juni 2024
  • „Menschenfleisch essen – das ist extrem unwahrscheinlich“, beobachter am 19. Juni 2024
  • „Der Fall Nathalie“: Wie sich ein angeblicher ritueller Missbrauch als Satanic Panic herausstellte, GWUP-Blog am 12. November 2022
  • Wie Familien an Falscherinnerungen zerbrechen, GWUP-Blog am 21. Oktober 2022

3 Kommentare

  1. Was die Prävalenz dieser Fehltherapie betrifft:

    Beim Fonds Sexueller Missbrauch sind wohl in den letzten 10 Jahren ca. 5000 Fälle zu ritueller Gewalt gemeldet worden. Entspricht etwa 20 Prozent aller Fälle.

  2. The Inquisitive Mind – Ausgabe 02/2024

    Gibt es organisierten rituellen Kindesmissbrauch?
    von Roland Imhoff, Marcel Meuer, Andreas Mokros & Aileen Oebers

    https://de.in-mind.org/article/gibt-es-organisierten-rituellen-kindesmissbrauch

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