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Querdenker vor Gericht: Der Staat schlägt zurück ­ „wie ein Blinder, ziellos“

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In der Zeit am Wochenende (47/2022) ist eine Reportage von Philipp Daum zum Thema „Querdenker vor Gericht“ erschienen:

Der Staat schlägt zurück

Daum schildert zunächst verschiedene Prozessszenen und unterlegt diese mit Sachinformationen, zum Beispiel:

Seit Monaten laufen Hunderte Verfahren gegen Querdenker. Oft kriegt die Öffentlichkeit nichts davon mit, weil die Angeklagten Strafbefehle akzeptieren und es nie zu einer Hauptverhandlung kommt. Woche für Woche arbeitet die Justiz auf, was die Pandemie ihr hinterlassen hat.

Genaue Zahlen zu den Prozessen gibt es nicht, denn die Justiz führt ihre Statistik nicht nach dem politischen Hintergrund der Angeklagten. Doch allein in Bayern wurden seit Beginn der Pandemie mehrere Hundert Verfahren gegen Querdenker geführt.

Außerdem besucht Daum die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internet- und Computerkriminalität (ZIT) in Frankfurt und spricht dort mit dem stellvertretenden Leiter, Oberstaatsanwalt Benjamin Krause.

Jeder Internetnutzer kann der Meldestelle Hessen gegen Hetze Inhalte melden, die er für strafbar hält. Diese sortiert vor und leitet die Fälle weiter an Krause und die ZIT. Krause muss dann entscheiden, ob eine Aussage strafbar sein könnte.

Die Aufklärungsquote der ZIT liege bei 30 Prozent und schwanke je nach sozialem Netzwerk. Bei Facebook liege sie bei mehr als 70 Prozent, bei Telegram bei weniger als zehn.

Was Online-Delikte angeht („Beleidigungen, üble Nachrede, Verleumdung, Volksverhetzung, Billigung von Straftaten und noch ein gutes Dutzend anderer Straftatbestände, die man landläufig unter einem Begriff zusammenfasst: Hatespeech“) zieht der Zeit-Autor denn auch ein pessimistisches Fazit.

Die Aussage von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht – „Wer hetzt und droht, muss mit Anklagen und Verurteilungen rechnen“ – sei schlicht gesagt falsch:

Auch wenn es um Ladendiebstähle geht, oder Körperverletzung – die Justiz wird nie alle Täter erwischen. Das ist strafrechtlicher Alltag.

Bei der Aufarbeitung der Pandemie aber scheint es, als gäbe es den Staat in mehreren Versionen: einen wehrhaften Staat, der das, was er kennt, hart bestraft. Und einen überforderten Staat, für den das Internet noch immer Neuland ist.

Der Staat schlägt zurück, wie ein Blinder, mal hart, mal weich, ziellos.

Schließlich geht Daum drei Stunden lang mit Anwalt Jun spazieren, der einige Vorschläge unterbreitet, wie etwa ein Ordnungswidrigkeitenrecht im Internet zu etablieren:

Man könnte eine Bußgeldbehörde eröffnen. Und einen Bußgeldkatalog für mildere Delikte, die nicht mit Strafrecht verfolgt werden müssen. In schwierigen Fällen könnten Staatsanwälte bei der Grundrechtsabwägung helfen […]

Bei Beleidigungen im Netz soll der Haupttäter nach wie vor strafrechtlich verfolgt werden. Aber einer, der die Beleidigung teilt, also weiterverbreitet? Solche Delikte kommen häufig vor und für sie hat die Justiz momentan kein sanfteres Mittel als das Strafrecht. Das bedeutet: sehr viel Aufwand. Also ignorieren Behörden solche Delikte oft.

Mit Juns Vorschlag würde jemand, der eine Beleidigung teilt, ein Bußgeld bekommen. Fertig.

Abschließend besucht Philipp Daum den Prozess gegen den Passauer Arzt Roland Weikl, der zahlreiche Masken-Befreiungsatteste ausgestellt hatte. Das Verfahren ging Mitte November mit einer einjährigen Gefängnisstrafe auf Bewährung zuende – ohne Berufsverbot und Geldstrafen:

Das ist die Sache mit den Querdenkern und der Justiz: Für den Schaden, den sie angerichtet haben, werden sie nicht verurteilt. Das Verbreiten von Falschinformationen, das in der Pandemie Menschenleben gekostet hat, ist per se nicht strafbar,

kommentiert Daum.

Weikl verlor den Prozess, weil er ärztliche Standards nicht einhielt und Atteste „ins Blaue hinein“ ausstellte. Michael Ballweg sitzt wegen des Verdachts des versuchten gewerbsmäßigen Betruges und der Geldwäsche in Untersuchungshaft – „nicht weil er gutgläubige Menschen in den Kaninchenbau gelockt hat“.

Der Artikel endet mit Fragen, statt mit Antworten, etwa:

Wie können wir die Grenze zwischen Hatespeech und Polemik so ziehen, dass nicht alles, was unliebsam ist, zu Hass erklärt wird?

Und mit einer lapidaren Feststellung:

Unsere gesellschaftlichen Probleme löst die Justiz nicht.

Weiterlesen:

  • Querdenker: Der Staat schlägt zurück, Zeit+ am 19. November 2022
  • In Telegram-Gruppe von „Querdenkern“: Todesdrohung gegen Ministerpräsidentin Schwesig – Strafbefehl erlassen, spiegel.de am 23. November 2022
  • Mehr Verfahren gegen Querdenker und Reichsbürger, swr am 18. November 2022
  • Querdenker-Urteile der Woche (KW 46), volksverpetzer am 20. November 2022
  • Querdenker-Urteile der Woche (KW 45), volksverpetzer am 13. November 2022
  • Lehrer aus Querdenker-Umfeld verliert Prozess gegen Schüler, welt.de am 7. November 2022
  • „Querdenken“-Gründer Ballweg muss weiter in Untersuchungshaft bleiben, swr am 14. November 2022
  • Generalstaatsanwaltschaft klagt Bhakdi wegen Verdachts der Volksverhetzung an, GWUP-Blog am 12. Mai 2022
  • Staatsanwaltschaft Heidelberg klagt Bodo Schiffmann an, GWUP-Blog am 13. April 2022
  • „In den Tod gehasst“: Der Spiegel zum Fall Lisa-Maria Kellermayr, GWUP-Blog am 10. Oktober 2022
  • Die Lieblingsvokabel des „Liebe, Glück und Frieden“-Heilers ist „Dreckspack“ – wenn es um impfende Kinderärzte geht, GWUP-Blog am 24. November 2022

27 Kommentare

  1. Michael Blume nach der mündlich Verhandlung gegen Twitter

    https://www.youtube.com/watch?v=17KY_lyHIXs

    Es ist ziemlich gut gelaufen.

  2. @Bernd Harder / Video Blume/Jun

    Min 9:30 „…Hast du eine pädophile Neigung…“

    Auf solche und ähnliche miesen Versuche reagiert man allerbestens mit stoischer Gelassenheit und sportlichem Ehrgeiz, etwa so:

    „Richtig, richtig, die Chef-Ideologin der AfD, Ellen Kositza (daselbst in Schnellroda, wo Björn Höcke sein „geistiges Manna“ empfängt), preist in ihrem Eigenvideo sadistische Rituale an Kindern an. Sollen wir uns das einmal genauer anschauen? Wann hätten Sie Zeit, wann wäre es Ihnen recht?“. –

    Wenn man sie nur wittern lässt, dass es in eine für sie entlarvende Richtung geht, lassen sich diese Viecher wie mit einem hochwirksamen Mückenspray vertreiben. Es lassen sich selbstverständlich auch entsprechende Kindesmißhandlungs-Zitate von Ivo Sasek anführen oder die Aushebelung des Schutzes vor innerfamiliärer Gewalt unter Putin etc etc.

  3. „Im Netz kursieren Feindeslisten mit privaten Daten von Politikern. Obwohl das Verbreiten mittlerweile strafbar ist, wird es oft nicht verfolgt. Dabei haben die Drohungen gegen Politiker stark zugenommen.“

    https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/adressen-politiker-bedrohung-doxing-e911649/

    https://www.youtube.com/watch?v=VCPp-W2u6mM

  4. Sorry, hatte die Verlinkung zu Kositza/Schnellroda vergessen, gefährliche Schwarzpädagogik aus baunen Zeiten, schnoddrig hingerotzt, ab Min 1:00

    https://youtu.be/6UkTcmDOqBA

  5. Völlig klar: Gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Probleme können kaum bis nicht von der Justiz „aufgearbeitet“ werden. Allenfalls nach der „Al Capone-Methode“ über „Begleitstraftaten“ wie bei Ballweg.

    Warum? Ein wesentlicher Grund ist die elementare Garantie der Meinungsfreiheit, obwohl diese ja nicht grenzenlos ist hierzulande wie in den USA. Gleichwohl gibt es nur wenige rechtlich definierte Grenzen der Meinungsfreiheit wie z.B. Volksverhetzung oder Holocaustleugnung. Bekanntlich wird auch darüber gestritten.

    Immerhin tragen sie das Problem mit sich, dass sie – als explizite Regelung – die Argumentation ermöglichen, was nicht verboten sei, sei erlaubt, denn sonst mache ja die Aufnahme dezidierter und definierter Verbotsregelungen ins Strafrecht keinen Sinn (viele Grüße an alle, die juristisch „um die Ecke“ denken können).

    Zwei Gedanken dazu:

    Immerhin denkbar wäre eine eher allgemein gefasste Beschränkung von Meinungsfreiheit durch eine „Gemeinschädlichkeit“ von deren Ausübung. Das ist keineswegs neu in der Diskussion.

    Vor einigen Jahren hat einmal Boris Pistorius in Niedersachsen eine solche Idee in die Diskussion gebracht. Das Echo war nicht so groß und – zugegeben – das ist wahrlich nicht einfach zu konkretisieren. Aber trotzdem sollte die Rechtswissenschaft das mal zu Ende denken.

    Des Weiteren geht es ja eigentlich um etwas anderes: nämlich um die „säkulare Lesart“ des Böckenförde-Diktums, das (erstaunlicherweise) immer mit dem Fokus auf Religion und Religionsgemeinschaften ausgelegt wird. M.E. geht es aber dabei um etwas grundlegend anderes:

    Die „Voraussetzungen, die der Staat nicht selbst garantieren kann“, aufgrund deren er aber existiert, sind nicht als Transzendierungen des Staatsgedankens ins Blaue hinein zu verstehen. Sondern diese Voraussetzungen sind der republikanische Konsens aller Bürger guten Willens, die gegenseitige Achtung gleicher Partizipationsrechte der Mitbürger und die allgemeine Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an der Gestaltung von Staat und Gesellschaft.

    Dies kann – um auf den Anfang zurückzukommen – nur sehr begrenzt „juristisch bearbeitet“ werden. Wie sonst?

    Nun, ideell, dadurch, dass die staatliche Gemeinschaft sozusagen die entsprechende „Gegenleistung“ bietet, die einen Zusammenhalt einer „Bürger guten Willens“ erst ermöglicht und deren Identifikation mit der staatlichen Gemeinschaft sichert und damit das „Abdriften“ größerer Teile der Bevölkerung in eine destruktiv-ablehnende Haltung verhindert.

    Das ist in erster Linie Aufgabe von Politik, aber auch zivilgesellschaftliche Aufgabe von Menschen, die sich über diese Zusammenhänge klar sind.

    Skeptiker zum Beispiel.

  6. Anwalt Jun:

    Hier erkläre ich laienverständlich, was beim Prozess rauskam und was das für Twitter bedeuten wird.

    https://www.youtube.com/watch?v=HxvLeJGUNVs

  7. @ Udo Endruscheit:

    Dem ist nur zuzustimmen.

    Böckenförde ist noch unter einem anderen Aspekt zu relativieren: Die „Voraussetzungen“ für ein zivilisiertes Miteinander in Freiheit kann der Staat durchaus ein Stück weit schaffen, durch eine „Politik der Würde“ (Avishai Margalit).

    Wenn sich viele Menschen unter prekären Arbeitsbedingungen verdingen müssen, ihre Wohnverhältnisse heikel sind und in der Pflege unwürdige Zustände an der Tagesordnung, bleibt das nicht ohne Folgen für den common sense, für das Vertrauen in die anderen und den Staat.

  8. @Udo Endruscheit, Joseph Kuhn

    Ich bin juristisch keineswegs so beschlagen wie Sie, daher die naive Frage:

    Wenn die „Bürger und Bürgerinnen guten Willens“ die Vorbedingung eines funktionierenden demokratischen und liberalen Rechtsstaates sind, wie lässt sich dann juristisch legitim gegen Teile der Gesellschaft vorgehen, in denen es an „Bürger und Bürgerinnen guten Willens“ (z. B. Twitter) mangelt.

    Es gibt außer einer „Politik der Würde“ meiner bescheidenen Meinung noch eine weitere Möglichkeit für ein zivilisiertes Miteinander – die Erziehung.

  9. @ Carsten Ramsel:

    Mit der Juristerei kennt sich Udo Endruscheit besser aus als ich. Mein Argument kam eher vom gesunden Menschenverstand her.

    Böckenförde ging es damals, nicht lange nach dem Krieg, darum, was dem Staat nach der Säkularisation, also dem Ende verbindlicher religiöser Werte, und nach dem Abwirtschaften auch der „Nation“, eine vergemeinschaftende Grundlage geben kann (er spricht kurz vor dem berühmten Zitat von einer „neuen Homogenitätsgrundlage“).

    Die Erziehung sah er natürlich auch als eine Quelle des Miteinanders. Seine Frage dazu: Kann ein säkularer Staat den Erziehungsinstanzen vergemeinschaftende „Werte“ oder Erziehungsziele vorgeben? Das hat Böckenförde zumindest damals explizit verneint.

    Man muss diesen Topos einerseits vor dem Hintergrund der damaligen Zeit sehen. Böckenförde wurde von konservativen Juristen wie Ernst Forsthoff oder Carl Schmitt geprägt, die dem freien Individuum und der Selbstorganisation der Gesellschaft grundsätzlich misstraut haben.

    Andererseits hat die Frage danach, wie Freiheit und ein gutes Miteinander zusammenfinden, durch die Querdenkerei wieder hohe Aktualität erhalten, daher hat Udo Endruscheit zu Recht auf Böckenförde Bezug genommen.

    Ein paar eigene Überlegungen dazu:

    https://scienceblogs.de/gesundheits-check/2021/12/29/die-spaltungen-und-das-gemeinsame/

  10. @Joseph Kuhn

    Böckenförde hat es verneint. Dies geschah vermutlich vor dem historischen Hintergrund staatlicher Indoktrination. Eine neuere Dissertation möchte allerdings zeigen, dass ein weltanschaulich-neutraler Staat in der Lage ist freiheitlich-demokratische Werte zu erzieherisch zu vermitteln, wenn sie als ein „Angebot“ verstanden werden.

    Julia Palm, Berechtigung und Aktualität des Böckenförde-Diktums: Eine Überprüfung vor dem Hintergrund der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, 2013.

  11. @ Carstel Ramsel:

    Überzeugt die Dissertation?

  12. Ja, und sie ist auch für interessierte Nicht-Juristen verständlich.

    Palm problematisiert, dass es in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft und in einem weltanschaulich-neutralen Staat keine gemeinsamen Überzeugungen (mehr) gibt, welche die Voraussetzungen begründen, die der Staat sich selbst nicht geben kann. Diese Voraussetzungen sind aber für einen freiheitlich-demokratischen Staat notwendig.

    Es sei daher die Aufgabe des Staates ein Angebot an seine Bevölkerung zu machen, ohne die Neutralität zu verletzen und die Freiheit des Einzelnen einzuschränken.

  13. Diskussion bei LibMod mit Pia Lamberty etc

    https://www.youtube.com/watch?v=D9hAaaumtjM

  14. @ Carsten Ramsel:

    Ist das Buch online? Kaufen will ich es mir nicht, es gibt ja viele Texte, die sich kritisch mit Böckenfördes „Diktum“ auseinandersetzen, gute und weniger gute, bis hin zu solchen, die eine staatliche „Leitkultur“ wünschen.

    Falls nicht online: Lassen die Kernargumente Palms hier kurz wiedergeben?

    Davon abgesehen, will ich noch einmal betonen, dass man den Menschen gar nicht so sehr „freiheitlich-demokratische Werte“ anerziehen muss, wenn ein respektvoller Umgang miteinander gesellschaftliche Normalität ist, Menschen nicht ausgebeutet werden oder im Alter in Heimen verrotten.

    Umgekehrt wird jede Werteerziehung unehrlich, wenn Menschen in ihrem Alltag systematisch entwürdigende Erfahrungen zugemutet werden.

  15. @Joseph Kuhn

    Wenn Sie einen Zugang zu einer Universitätsbibliothek haben, finden Sie das Buch vielleicht auch online.

    Ich versuche mal die Kernidee in aller Kürze wiederzugeben.

    Das Böckenförde-Diktum war eine „Einladung“ an die Katholische Kirche sich an der jungen Demokratie der Bundesrepublik zu beteiligen. Gemeinsame christliche Überzeugungen und eine christliche Ethik sollten diesem Staat zugrunde liegen.

    60 Jahre später ist aus der ehemals christlich geprägten Gesellschaft eine weltanschaulich plurale Gesellschaft geworden.

    Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.

    Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.

    Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

    Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112 f. (Hervorhebung im Original)

    Wenn nun die gemeinsamen, vorstaatlichen Überzeugungen und Werte wegfallen, kann der Staat diese selbst um der Freiheit willen nicht vorgeben. Die Idee Palmers ist nun, dass er sie zwar nicht erzwingen, aber sehr wohl ein Angebot an seine Bürgerinnen und Bürger machen kann.

    Ich kann an dieser Stelle keine Argumente rekonstruieren. Vielmehr ist es ein Lösungsvorschlag für ein Problem, dass wir in realiter nicht hätten, wenn Alle eine freiheitlich-demokratische Grundhaltung besäßen.

    Die pädagogischen Fragen, die dieser Vorschlag aufwirft, bleiben in der Dissertation selbstverständlich unbeantwortet.

    Ihr Vorschlag ist es hingegen, dass es vorstaatlich soziale Bedingungen geben muss, aus denen notwendigerweise (?) freiheitlich-demokratische Werte folgen. Ich möchte zu bedenken geben, 1. dass diese sozialen Bedingungen aber erst in und von einem Staat geschaffen werden und mit seiner Hilfe gegenüber der Gesellschaft eingefordert werden können.

    2. Der respektvolle Umgang bedarf unter der Bedingung des Böckenförde-Diktums ebenfalls eine Legitimation, die der Staat selbst nicht mit den Mitteln des Rechtszwangs und autoritativen Gebots garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben.

    Woher kommt also dieser – zurecht geforderte – respektvolle Umgang?

    Meine Antwort wäre: Erziehung als Angebot der Eltern an ihre Kinder aber auch als ein ausdrücklicher Wunsch der Gesellschaft und – nach seiner Konstitution – des Staates an seine Bürgerinnen und Bürger.

  16. @ Carsten Ramsel:

    Sie haben Böckenförde zusammengefasst, aber den habe ich selbst im Regal stehen.

    Mich würde die Argumentation von Frau Palm interessieren, wie sie sich das mit dem „Angebot“ konkret vorstellt. Wenn nur das Wort fällt, bleibt das frommes Wunschdenken.

    Dass ich einen Vorschlag gemacht hätte, „dass es vorstaatlich soziale Bedingungen geben muss, aus denen notwendigerweise (?) freiheitlich-demokratische Werte folgen“, ist ein Missverständnis.

    Gute Arbeit, gutes Wohnen, gute Pflege usw. sind keine „vorstaatlichen sozialen Bedingungen“. Das wird es ohne Staat nicht geben.

    Und ohne dass diese Bedingungen ausreichend gewährleistet sind, wird man in der Erziehung nicht glaubwürdig vermitteln können, dass wir alle gleich sind, Respekt und Achtung verdienen und die Menschenwürde unantastbar ist.

  17. @Joseph Kuhn

    Julia Palm führt das „Angebot“ nicht näher aus. Sie ist Juristin, keine Pädagogin. Ich muss Sie enttäuschen.

  18. Noch ein paar Gedankensplitter_

    Böckenförde rückt ja gerade die Voraussetzungen, die der Staat nicht garantieren kann, mit eben dieser Formulierung davon ab, diese Voraussetzungen seien staatlicherseits „erzwingbar“, sei es durch „Erziehung“, sei es – das vor allem – mit juristischen Mitteln.

    Deshalb ist es ja gerade die Crux – und potenziell unlösbar – wenn sich eine Mehrheit bildet, die nicht bereit ist, im Sinne von „Bürgern guten Willens“ auf vernunftbetonte, intersubjektive und positiv wirkende Weise an der „res publica“ mitzuwirken.

    Dass der Staat hier moderierend wirken kann und soll, vor allem durch Bildung, ist natürlich evident. Erziehung? Eher nicht … ich erinnere dabei nur an die Kritik am „Nudging“, das bereits als unbotmäßiger Eingriff in Selbstbestimmungsrechte gesehen wird.

    Hieran wird deutlich, dass Böckenförde hier eine Grenze sieht, ab der der Staat – er sagts nicht so direkt – sich selbst nicht mehr garantieren kann. Das wird ja von Religiösen stets als Legitimation dafür gesehen, dass mit ihren Lehren eine „überstaatliche Transzendenz“ unbedingt notwendig – und von Böckenförde sozusagen legitimiert worden sei.

    Gegen diese Deutung pflege ich mich stets zu wenden.

    Juristisch zieht der Art. 20 GG mit seinem Widerstandsrecht die Grenze. Nach der Rechtsprechung des BVerfG setzt dies eine Situation der Funktionsunfähigkeit der Staatsorgane voraus, also eine Maximalsituation.

    Das ganze Problem mit den Bürgern nicht guten Willens wird ja grell beleuchtet dadurch, dass ausgerechnet die, die auf breiter Front als solche gesehen werden, sich in der Pandemie wieder und wieder gerade auf dieses Widerstandsrecht berufen haben …

    Warum sind diese Grenzen des Widerstandsrechts so weit gezogen? Weil das Grundgesetz im Kern keine bestimmte Gesellschaftsform vorschreibt, glücklicherweise. Es gibt einen Rahmen für eine republikanische Gemeinschaft vor, mit Institutionen, Funktionalitäten und ja, auch bestimmten Werten.

    Es lässt aber z.B. gesellschaftliche Daseinsformen in einem breiten Spektrum zu.

    Was es aber auch voraussetzt, das ist eine Entscheidungsfindung zu Angelegenheiten der res publica, der „allgemeinen Dinge“, in einem ständigen Aushandlungsprozess (den es als repräsentative Demokratie mit einer besonderen Rolle der politischen Parteien ausgestaltet) nach intersubjektiven Kriterien (!).

    Wir sehen an der Diskussion über mehr Bürgerbeteiligung und Elemente direkter Demokratie auch auf Bundesebene, dass dies als nicht mehr ausreichend empfunden wird (Stichwort Politikverdrossenheit).

    Ob das nun wieder seinerseits die nicht gewollte Durchsetzung von Partikularinteressen nicht eher befördert, ist einer der Gründe, weshalb vor allem Verfassungsrechtler bei diesem Thema recht zurückhaltend sind.

    Wobei wir wieder bei den Einflussmöglichkeiten der „Bürger nicht guten Willens“ wären, die die Voraussetzungen negieren, die der republikanische Staat nicht selbst garantieren kann …

    Ein weites Feld. Das die Querdenker und ihre Flügelmannschaften in der Tat in den Fokus gerückt haben.

    Aber, wie gesagt, dies hier nur als Gedankensplitter zu dem, was Böckenförde letztlich sagt: die freiheitlich-demokratische Staatsform ist eine Idee, ein Ideal, die sich zwangsläufig nicht selbst garantieren kann, weil es einen Wertekanon ihrer Mitglieder nicht vorschreiben, sondern nur voraussetzen kann.

    In diesem Sinne eine ständige Gestaltungsvoraussetzung. Nichts aber, was man dazu nutzen kann, die Staatsidee ihrerseits mit Dingen wie angeblichen „christlichen Werten“ überhöhen zu wollen.

    Es ist wie bei den Pseudomedizinern, die ihre inhaltsleeren Angebote mit dem „Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde“ transzendieren wollen – eine Sphäre, die es geben mag, von der die Pseudomediziner allerdings ebensowenig wissen wie alle anderen.

  19. „Tote Briefkästen: Wie sich Verbreiter von Hass oder Desinformation der Justiz entziehen können“:

    https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2022/11/25/tote-briefkaesten-wie-sich-verbreiter-von-hass-oder-desinformation-der-justiz-entziehen-koennen/

  20. Der Prinz, die Richterin und ein geplatzter Staatsstreich

    Mit bundesweiten Razzien zerschlagen Ermittler eine Verschwörung im Reichsbüger-Milieu. Spuren führen in die Bundeswehr und zu einer Ex-Bundestagsabgeordneten.

    https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-12/razzien-rechtsextreme-verschwoerung-putsch-birgit-malsack-winkemann-afd/komplettansicht

  21. In der Pressemitteilung des Generalbundesanwalt wird noch deutlicher welch wirre Überzeugungen die Gruppe hat.

    Die Mitglieder der Gruppierung folgen einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen bestehend aus Narrativen der sog. Reichsbürger- sowie QAnon-Ideologie. Sie sind der festen Überzeugung, dass Deutschland derzeit von Angehörigen eines sog. „Deep State“ regiert wird. Befreiung verspricht nach Einschätzung der Mitglieder der Vereinigung das unmittelbar bevorstehende Einschreiten der „Allianz“, eines technisch überlegenen Geheimbundes von Regierungen, Nachrichtendiensten und Militärs verschiedener Staaten, einschließlich der Russischen Föderation sowie der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vereinigung ist der festen Überzeugung, dass sich Angehörige der „Allianz“ bereits in Deutschland aufhalten und deren Angriff auf den „Deep State“ zeitnah bevorstehe.

    siehe hier:

    https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/aktuelle/Pressemitteilung-vom-07-12-2022.html

  22. zeit.de: Ärztin wegen Ausstellung falscher Atteste verurteilt

    Geldstrafe und Berufsverbot: Weil eine Ärztin wohl über viertausend falsche Atteste zur Befreiung von der Corona-Maskenpflicht ausgab, hat ein Gericht sie verurteilt.

    https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-01/aerztin-verurteilung-corona-maskenpflicht-atteste

  23. Haftstrafe und Berufsverbot für Querdenker Ärztin Dr. Monika Jiang

    https://www.youtube.com/watch?v=rClxwlbcxQI

  24. Sucharit Bhakdi muss sich erneut vor Gericht veranworten, nachdem die Generalstaatsanwaltschaft Berufung beim Kieler Landgericht eingelegt hat.

    https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/neuer-prozess-gegen-querdenker-ikone-bhakdi/

  25. @ RPGNo1

    Für mich einer der schlimmsten Hetzer!

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