gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

„Der Fall Nathalie“: Wie sich ein angeblicher ritueller Missbrauch als Satanic Panic herausstellte

| 7 Kommentare

Diese Aussendung auf pressetext.com von 2020 ist immer noch online:

Sie stammt von dem gemeinnützigen Verein „Victims Mission“ und betrifft den Fall der damals achtjährigen Nathalie. Der Vater des Mädchens wurde beschuldigt, seine Tochter rituell zu missbrauchen:

Zuletzt ist in den „Gesprächsprotokollen“, die von der Mutter des Mädchens sowie weiteren Familienangehörigen verfasst werden, die Rede von Kannibalismus, Folter und satanistischen Messen. Nathalie habe dabei zuschauen müssen, wie Satanisten Babys getötet und ihr Blut getrunken hätten oder wie ihr Vater im Wald Wildtiere gefangen und vergewaltigt habe,

schreibt die Basler Zeitung (BaZ) in einem aktuellen Beitrag über „die Geschichte hinter dem Fall Nathalie“.

Bereits im Mai dieses Jahres hatte sich die BaZ für ihre „unrühmliche Rolle“ im Fall Nathalie entschuldigt. Auch die Solothurner Zeitung veröffentlichte im Juni den „Versuch einer Aufarbeitung“ des „vermeintlichen Skandals“:

Denn: Es gab keinen Fall Nathalie.

Der Vater ist vollumfänglich entlastet. Und die KESB [Schweizer Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde] hat nichts falsch gemacht – jedenfalls nichts, was justiziabel wäre,

hieß es in der BaZ-Abbitte.

Was es stattdessen gab: die typischen Elemente

… einer international verbreiteten Verschwörungstheorie, der sogenannten Satanic Panic. Therapeutinnen oder andere Vertrauenspersonen reden dabei Betroffenen ein, dass sie als Kind von Anhängern Satans rituell missbraucht worden seien.

Dadurch werden Pseudoerinnerungen kreiert, die so stark sind, dass die Betroffenen überzeugt sind, diesen Missbrauch wirklich überlebt zu haben. Bis heute konnte weltweit kein Fall von satanistisch-rituellem Missbrauch, wie er im Rahmen der Satanic Panic behauptet wird, bewiesen werden.

Heute ist das den BaZ-Journalisten völlig klar. Mittlerweile beleuchten sie kritisch die Rolle eines Schweizer Psychiaters, der „als Koryphäe der Psychotraumatologie mit grossem Einfluss“ gilt.

Und auch die von Nathalies Umfeld, wo „wieder ein Element der Satanic Panic“ zum Vorschein komme, „demzufolge alle, die die Erzählungen anzweifeln, mit den Tätern unter einer Decke stecken und die einflussreichen Kinderschänder sich gegenseitig schützen“.

Zu der Umfokussierung beigetragen haben nach BaZ-Angaben auch die „Recherchen von SRF“, also der Kollegen vom Schweizer Fernsehen, die seit Dezember 2021 für Aufsehen sorgen.

In Deutschland sickern diese rationalen Erkenntnisse nur langsam in die Medien ein, zum Beispiel hier und hier. Noch dominiert hierzulande „ein vernetzter Kreis, der Auszeichnungen, Preise und Bundesverdienstkreuze bekommt“ (dissoziationen.de).

Dabei taugt die „Satanic Panic“ bloß noch für politische Propaganda, wie etwa in Russland und in den USA.

Vermeintlich echte Fälle entpuppen sich regelmäßig als Verschwörungstheorie, sobald näher hingeschaut wird.

Der Schweizer Tagesanzeiger und die Süddeutsche Zeitung berichten unisono über die 35.000-Einwohner-Gemeinde Bodegraven-Reeuwijk in den Niederlanden, wo ein ortsbekannter „Hooligan“ und „Tunichtgut“ in den sozialen Medien Falschbehauptungen über pädophile Satanisten verbreitete. Anfang Februar eskalierte die Angelegenheit, als „immer mehr vermeintliche Täter und Vertuscher Botschaften mit Drohungen“ erhielten, bis hinauf zum Bürgermeister und zu Politikern in Den Haag.

Der Verschwörungserzähler und zwei Helfer sitzen inzwischen in Haft und sollen 215 000 Euro Schmerzensgeld an Bodegraven zahlen. Mit Twitter liegt die Gemeinde nach wie vor im Clinch, weil sie erreichen will, dass alle Lügen über das vermeintliche Pädophilen-Netz von der Plattform verschwinden. Das Haager Bezirksgericht hat diese Forderung allerdings fürs Erste zurückgewiesen:

Was die Gemeinde nun vorhat, ist offen. Vielleicht muss sie die Situation akzeptieren. Vielleicht bringt der bald in Kraft tretende Digital Services Act der EU, der die Plattformen etwas stärker in die Verantwortung nimmt, eine Wende.

Wir warten derweil weiter auf eine Wende in der Berichterstattung zum Thema „Satanic Panic“ in Deutschland. Vielleicht trägt die Gehirn & Geist-Sonderausgabe „Psyche am Limit“, die diesen Monat erscheint, etwas dazu bei.

Zum Weiterlesen:

  • Der „Fall Nathalie“ – die Hölle im Kopf, baz-online am 9. November 2022
  • Interview: „Es gibt Therapeuten, die Patienten Ideologien überstülpen“, tagesanzeiger.ch am 10. November 2022
  • Die BaZ bittet um Entschuldigung, baz-online am 19. Mai 2022
  • Mythos über Pädophilen-Netzwerk: Eine Gemeinde kämpft gegen den Verschwörungsirrsinn, tagesanzeiger.ch am 2. November 2022
  • Eine Gemeinde kämpft gegen den Verschwörungsirrsinn, Süddeutsche am 2. November 2022
  • „Manipulierte Erinnerungen“ an sexuellen Missbrauch im Podcast Deep Science vom DLF, GWUP-Blog am 5. November 2022
  • Satanic Panic: Wie Familien an Falscherinnerungen zerbrechen, GWUP-Blog am 21. Oktober 2022
  • Schweizer Psychiater warnen vor „Satanic Panic“ und induzierten Scheinerinnerungen, GWUP-Blog am 20. Juni 2022
  • Erschreckend: Die Wiederkehr der „Satanic Panic“ in den USA, GWUP-Blog am 17. September 2022
  • Why Satanic Panic never really ended, vox am 31. Mai 2021
  • Videovortrag mit Lydia Benecke: Ritueller Missbrauch, Satanic Panic, falsche Erinnerungen, GWUP-Blog am 1. November 2020

7 Kommentare

  1. Die Satanic-Panic-Fraktion holt zum Rundumschlag aus und zitiert als „Beweis“ so ziemlich jeden Obskuranten, von „Klagemauer TV“ bis Guido Grandt:

    https://www.pressetext.com/news/der-fall-nathalie-militaerische-spezialeinheit-ist-im-besitz-von-beweisen-aussagen-nathalies-bestaetigt.html

    Sogar vor solchen Sätzen schreckt man nicht zurück – sie zeigen aber immerhin, worum es diesen Leuten eigentlich geht:

    [Der Vater] wollte, dass Nathalie auch Menschen tötete. Als sie sich weigerte, wurde sie zur Strafe zu den Löwen in Käfige gesperrt, damit sie gefressen würde. Aber die Löwen taten ihr nichts. Nathalie sah und fühlte beinahe immer die Gegenwart unseres Schöpfers, der sie beschützte und ihr sagte, sie würde alles überleben und Zeugnis davon ablegen.

    Religiöse Fabeln statt Fakten.

  2. «Fall Nathalie» – Bundesgericht bestätigt: keine Beweise für Vergewaltigungen

    https://www.srf.ch/news/schweiz/fall-nathalie-bundesgericht-bestaetigt-keine-beweise-fuer-vergewaltigungen

  3. Die Geschichte ist ein Musterbeispiel dafür, wie sich Verschwörungsgeschichten verbreiten und was sie anrichten können.

    https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/die-reichsburger-und-der-schweizer-journalist

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.