Gibt es eigentlich eine Meinungspflicht im Grundgesetz?
Natürlich nicht – was es gibt, ist die Freiheit, eine Meinung zu haben.
Das bedeutet entlastend im Umkehrschluss: Ich kann eine Meinung haben, ich muss das aber gar nicht,
erklärt der Kabarettist Florian Schroeder in seinem neuen Buch
Schluss mit der Meinungsfreiheit. Für mehr Hirn und weniger Hysterie
Schroeder wendet sich darin gegen einen „Haltungs- und Bekenntniszwang“, der wohl dem starken Wunsch nach Komplexitätsreduktion geschuldet ist:
Es ist das Gefühl einer überbordenden Unübersichtlichkeit der Welt, ihrer Ausdifferenzierung und Vielschichtigkeit, die uns zu zwingen scheint, ihr Eindeutigkeit entgegenzustellen.
Von Corona über Cancel Culture, Identitätspolitik, Rassismus, kulturelle Aneignung und Gendersternchen bis hin zu Fridays for Future, Lisa Eckhart, Woody Allen, Dieter Nuhr, Omagate, Charlie Hebdo, Annalena Baerbock, Don Alphonso und vieles mehr:
Mit „Schluss mit der Meinungsfreiheit“ hat Florian Schroeder ein kluges Buch vorgelegt, das kein verschriftliches Bühnenprogramm mit kabarettistischem Gag-Feuerwerk ist, sondern eine essayistisch-wissenschaftlich-journalistische Analyse, die sich beide Seiten anschaut, ohne sich mit einer gemein zu machen.
Sein Plädoyer für Ambivalenz und „Widersprüche, die wir aushalten müssen“, illustriert der Kabarettist, Autor und Kolumnist auch mit eigenen Erfahrungen.
Am 18. Juli 2020 trat Schroeder mit dem Comedy-Spezial „Ausnahmezustand“ beim NDR auf:
In diesen 60 Minuten gab Schroeder einen Verschwörungsideologen:
Ich vermischte journalistische Fakten und verschwörungsideologische Fiktionen. Ich wollte den schmalen Grat zeigen zwischen Recherchiertem, das zum Instrument von Mythen werden kann, und Mythen, die sich als Fakten verkleiden,
schreibt er im Buch.
Das brachte ihm einen Auftritt bei „Querdenken 711“ am 8. August 2020 in Stuttgart ein, wo er wiederum die Rollen tauschte:
Nach ein paar Minuten setze ich an zum entscheidenden Teil: Ich halte einen kleinen Vortrag über Meinungsfreiheit, denn hier, bei den Querdenkern, hält man sich für den letzten Ort, an dem diese noch lebendig ist. Das Refugium, in dem die Wahrheit noch einen Platz hat.
Ich konfrontiere die Demonstrierenden mit meiner Meinung: dass es Corona gibt, dass es eine gefährliche Krankheit ist, dass Maskentragen und Abstandhalten sinnvoll sind.
Es gibt Buhrufe. Ich versuche, den Zeitgenossen hier klarzumachen, wie eng die Grenzen ihrer Meinungsfreiheit sind, da sie meine nicht oder nur sehr bedingt hören wollen.
Nach zwölf Minuten endet der Auftritt mit einem 80:20-Verhältnis: 80 Prozent des Publikums buhen, 20 Prozent scheinen zu applaudieren.
Dass indes die Realität der Corona-Pandemie anzuerkennen nicht heißt, alle Regierungsmaßnahmen gutzuheißen, machte Schroeder kurz darauf in den sozialen Medien deutlich:
So zu tun, als seien Grundrechte ein Luxus, verkehrt das Verhältnis von Normalzustand und Ausnahmezustand. Die Einschränkung der Grundrechte ist der Ausnahmezustand, nicht die Rückerlangung alter Freiheiten, für die wir als angeblich neue Freiheiten dankbar sein müssen.
Als ich dies so ähnlich getwittert habe, war ich für die Hälfte der Kommentatoren unter dem Tweet in der Ecke der Verschwörungserzähler. „Das passt nicht so recht zur Rede in Stuttgart“, hieß es da überrascht. Oder von der anderen Seite: „Nun schau an: Jetzt fällt es auch dem Satiriker ein.“
Das ist das vorhersehbare, langweilige Muster: Ein Gedanke steht nicht für sich, wird angeschaut, gewendet und befragt, sondern sortiert nach der Frage: Gehört sein Urheber zum eigenen oder zum fremden Lager?
Zwei Monate später lud Schroeder den „Querdenken“-Initiator Michael Ballweg in seine Satireshow beim rbb ein:
Auch darüber spricht Schroeder ausführlich in seinem Buch:
Selbst wenn seine Bewegung vom Verfassungsschutz beobachtet wird, sollten wir anhören, was er zu sagen hat.
Aber genau darum muss es dann im Gespräch gehen: ihn mit diesen Entscheidungen zu konfrontieren, ihn nicht von der Angel zu lassen – und zwar weniger mit dem missionarischen Eifer, ihn zu ändern und ihn am Ende als Geläuterten aus der Manege zu tragen –, sondern um einem Publikum vor den Notebooks, den iPads und den Fernsehern durch die richtigen Fragen zu zeigen, mit wem sie es hier zu tun haben.
Nur so bieten wir die Chance der Auseinandersetzung.
Und das ist zugleich der entscheidende Unterschied zu den „Faszination des Bösen-Porträts“, wie Schroeder sie nennt, mit denen beispielsweise Der Spiegel scheiterte (bei Attila Hildmann wie bei Naomi Seibt).
Apropos Hildmann:
Auch einige befremdliche Auftritte des ehemaligen veganen Kochbuchautors in Berlin beschreibt Schroeder, streift hernach „Impfgegner und Impfskeptiker und ihre unheimlichen Freunde“ (zum Beispiel „Waldorfschulen und die ihnen angeschlossene Eso-Blase“) und konstatiert schließlich – wiederum mit einem selbst erlebten Beispiel –, dass Verschwörungsgläubige „die Freiheit nicht aushalten, die sie postulieren“:
Sie brauchen dieses Konstrukt fast manischer Ordnung, die Einfachheit der Erklärungen, die ewig Schuldigen und Angeklagten, um komfortabel Opfer bleiben zu können und sich unterdrückt fühlen zu können.
Schon an diesen Passagen wird deutlich, dass Schroeder mitnichten Meinungsbeliebigkeit und Haltungslosigkeit predigt. Ganz im Gegenteil, aber:
Haltung, wie ich sie verstehe, ist beweglich, sie ist veränderbar. Sie erkennt die Welt an und verhält sich zu ihr. Meine Haltung kann eine nachdenkliche, vorsichtige und unsichere sein, sie kann aber auch eine harte, kompromisslose sein.
Und ich habe nur dann eine Haltung, wenn ich diese ändern kann. Wenn ich eingestehen kann, dass ich mich getäuscht habe, dass ich dazugelernt habe, dass ich vorsichtiger oder eben entschiedener, im Zweifel auch ambivalenter geworden bin.
Die Meinungsfreiheit sieht der Kabarettist am Ende nicht in Gefahr. Eher schon die Widerspruchsfreiheit. Wie Auseinandersetzung und lebendige Debattenkultur aussehen könnten – dazu leistet Florian Schroeders Buch einen lesenswerten Beitrag.
Ein Interview mit Florian Schroeder gibt es im nächsten Skeptiker, der im Dezember erscheint.
Zum Weiterlesen:
- Florian Schroeder: Schluss mit der Meinungsfreiheit. dtv 2021, 368 Seiten,
- ZDF-Video: „Florian Schroeder auf dem Blauen Sofa“ vom 20. Oktober 2021
- 3sat-Video: „Florian Schroeder – Schluss mit der Meinungsfreiheit“ vom 10. Oktober 2021
- Satiriker Florian Schroeder: Was an der Meinungsfreiheit nervt, Deutschlandfunk Kultur am 17. September 2021
- Ausgrenzen statt argumentieren – Geht uns die Streitkultur verloren? SWR2 am 2. November 2021
- Nicht immer recht haben müssen: Neue Streitkultur ist wichtig, SWR2 am 27. Oktober 2021
- #ferngespräch „Meinungsfreiheit“ jetzt auch als Hoaxilla-Podcast, GWUP-Blog am 10. Juni 2021
4. November 2021 um 13:07
Danke – hatte mir das Buch vor einer Weile auf einer längeren Autofahrt vorlesen lassen und wollte es meiner Bubble schon längst mal ans Herz gelegt haben.
Jetzt kann ich stattdessen hierauf verlinken.
28. November 2021 um 00:13
phoenix persönlich: Florian Schroeder zu Gast bei Michael Krons
https://www.youtube.com/watch?v=t9uj0M8BFSU