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Esoterik in der „Zeit“: Wenn das kritische Denken aussetzt

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Jenseits der Vernunft“

heißt das Titelthema der aktuellen Zeit (21/2013).

Auf vier Seiten beleuchtet das Wissens-Ressort den Esoterik-Boom.

Unter anderem schildert Bernd Kramer einen Selbstversuch als professioneller „Hellseher“.

Der Journalist bewirbt sich incognito bei einem Internetportal, das kostenpflichtige „Lebensberatung“ vermittelt:

Nicht dass ich medial begabt wäre. Ich will bloß verstehen, wie das System funktioniert.“

Mit verschiedenen Psychotechniken (die wir hier beschreiben) gelingt es Kramer tatsächlich, Klientinnen („Es melden sich ausschließlich Frauen bei mir“) zur vollsten Zufriedenheit zu beraten.

Google und Facebook erweisen sich dabei ebenfalls als hilfreich, wie auch in diesem bekannten Video demonstriert wird:

Wohl in seiner Rolle als „medialer Lebensberater“ fühlt Kramer sich indes nicht:

Silke (Name geändert) erschreckt mich mit ihrer Dankbarkeit […] Ich finde es beklemmend, wie sich große Fragen des Lebens mit einem Set gefühliger Floskeln abtun lassen.

Aber ich spüre auch die Versuchung, doch an mein Talent zu glauben. Ich unterdrücke sie und halte fest: Ein guter Wahrsager ist entweder skrupellos oder Opfer seiner eigenen Täuschung.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde.“

Der Hauptartikel „Was suchen die da?“ von Max Rauner fragt nach den Ursachen der gegenwärtigen „Renaissance der Unvernunft“.

Einer der Gründe seien „Individualisierungstendenzen“, konkret das Bedürfnis, sich …

… Elemente für ein selbst konstruiertes Weltbild zusammenzusuchen und danach zu handeln“,

wird der Bayreuther Religionssoziologe Christoph Bochinger zitiert.

Auch das Gefühl, „in einer von der empirischen Wissenschaft dominierten Welt festzustecken“, treibe die Leute massenhaft der Esoterik zu.

Die Zahl der Anbieter, also der esoterischen Dienstleister, sei um das Jahr 2005 herum sprunghaft angestiegen, will die Augsburger Volkskundlerin Sabine Doering-Manteuffel beobachtet haben.

Ihre Erklärung:

Viele Angestellte aus therapeutischen Berufen seien damals durch die Gesundheitsreform arbeitslos geworden, manche machten sich als Geistheiler oder Heilpraktiker selbständig.

Der Bericht endet mit dem Zitat eines Betroffenen, der sich fragt, wie …

… das kritische Denken bei normalen Menschen so aussetzen kann.“

Lesenswert ist auch die „Jargonkritik“ von Stefan Schmitt, der den Missbrauch von wissenschaftlichem Vokabular in der Esoterik seziert, etwa „Energie“ oder „Quanten“.

Zur Quantentheorie schreibt Schmitt:

Ihnen (den Esoterikern; Anm. d. Autors) kommt zugute, dass die meisten Menschen zwar eine gewisse Autorität der Physik anerkennen, aber nur wenig davon verstehen. So fällt leicht unter den Tisch, dass die Quantentheorie nur die Interaktion subatomarer Teilchen beschreibt – und keine Vorgänge in der Größenordnung von Menschen, Steinen oder Gestirnen. Erst recht ist sie keine Lizenz zur Aufstellung jeder beliebigen pseudophysikalischen Behauptung.“

Vervollständigt wird die Zeit-Titelgeschichte von einem Interview mit dem Religionssoziologen Detelf Pollack („Wie die Esoterik zum modernen Leben passt“) und einem Plädoyer für die Vernunft von Evelyn Finger:

Esoteriker ziehen sich lieber zurück in ihr Paradies auf Erden, bevölkert von erleuchteten Menschen, in die man sich verwandeln kann – mit kostspieliger Hilfe professioneller Engel, Medien und Jenseitscoachs. Deren Angebote zielen auf den Narzissmus des Einzelnen, sie locken ihn in eine Endlosschleife der Selbstbefragung und Selbstoptimierung.

Von dort ist es oft nur ein kleiner Schritt zum Selbstbetrug.“

Update: Alle Beiträge der Zeit-Strecke sind jetzt online.

Zum Weiterlesen:

  • Sind Hellseher sympathisch? GWUP-Blog am 30. September 2012
  • Sind Hellseher seriös? GWUP-Blog am 1. Oktober 2012
  • Sind Hellseher anerkannt? GWUP-Blog am 2. Oktober 2012
  • Sind Hellseher Schwindler? GWUP-Blog am 2. Dezember 2012
  • Barnum-Effekt und Geschlecht: Sind Frauen leichtgläubiger? Skeptiker 4/1999
  • Wie Esoterik die Köpfe leert und die Kassen füllt, GWUP-Blog am 15. April 2013
  • Esoterischer Selbstversuch: „Erleuchtung gefällig?“, GWUP-Blog am 13. April 2013
  • Esoterik: Jeder zweite Westdeutsche glaubt an Wunder, Die Welt am 16. Mai 2013
  • Die Verschwörungslobby und die Politik, Skeptics.de am 17. Mai 2013
  • Wie Esoterik funktioniert, Astrodicticum simplex am 6. April 2011
  • Wir Mediziner – weshalb viele von uns lieber nichts von Skeptikern wissen wollen, skeptiker.ch am 3. April 2013

4 Kommentare

  1. Nicht nur das KRITISCHE Denken setzt aus. Immer mehr ist festzustellem, dass bei einem großen Teil der Deutschen das GESAMTE Denken aussetzt. Viele überlassen das Denken lieber anderen.

    Wenn man das Denken anderen überlässt, macht man sich zu deren Opfer. Auf verschiedene Weise. Denn die anderen werden zu ihren eigenen Vorteilen die Nichtdenkenden manipulieren.

    Besonders bei jungen Menschen ärgere ich mich täglich aufs Neue über deren Gleichgültigkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Denn nicht Nachdenken wollen macht stumpf. Diese Nicht-Denkenden schaden nicht nur sich selbst (indem sie von „cleveren“ zwielichtigen Personen wie z. B. denen von der gesamten Esoterik-Branche) ausgenommen werden, sondern auch ihren Mitmenschen, denen sie oft rücksichtslos und abgestumpft gegenüber auftreten.

  2. Interessanterweise hört man in Skeptikerkreisen vermehrt davon, dass Homöopathiekritik in Printzeitschriften in letzter Minute nicht gedruckt wird, aus Angst vor dem Verlust von Abonnenten. Da in diesem Artikel Homöopathie und Esoterik in einem Atemzug genannt werden, erwarte ich eine schöne Flut von Leserbriefen, die nicht verstehen, wie man das in einen Topf werfen kann. Ich bin stolz, dass die ZEIT genug Mut hat auch unpopuläre Dinge zu erwähnen und dabei die Fahne der Wissenschaft hoch hält.

  3. Wo kann man denn die im Artikel angesprochene „Jargonkritik“ lesen?

  4. @Felix:

    In der aktuellen Zeit auf Seite 35. Sie umfasst allerdings nicht mehr als fünf Begriffe: Energie, feinstofflich, Erweitere Empirie, Quantentheorie und Paradigmenwechsel.

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