Sollte man die Qualität einer Zeitung auch – unter anderem – am Niveau der Leser-Kommentare messen? Dann muss man sich um Die Welt beziehungsweise Welt-Online wirklich ernste Sorgen machen.

Zwei Menschen an Schweinegrippe gestorben“,

meldete das Blatt gestern. Und generierte damit bis zur Minute mehr als 140 zum Teil hasserfüllte Kommentare von Spinnern, Paranoikern und Hobby-Konspirologen, von denen dieser noch eher harmlos ist:

Die NWO [Neue Weltordnung] drängt. Schon am ersten Tag im neuen Jahr läuft die Hysterie-Maschine wieder an.“

Die paar wenigen Vernünftigen unter den Bewertern des Artikels müssen da schon recht drastisch werden, um in diesem Wust von geballtem Irrsinn überhaupt aufzufallen:

Seit der spanischen Grippe 1918/19 ist klar, wie gefährlich H1N1-Viren sind. Seit 2009 hat die Weltgemeinschaft alles Nötige unternommen, um diese traurige Ära nicht zu wiederholen. Aber gegen die Dummheit der impfmüden Menschen hilft wohl nur der eigene Grabstein – ultimativ. Jeder Tote ist einer zuviel. Daher pro Impfung!“

Ja – die Schweinegrippe-Impfung 2009 war eine „Konjunkturspritze für die Pharmaindustrie“, wie die Süddeutsche damals kommentierte. Und ja, den Bürgern wurden „halbfertige Impfpläne mit halbfertigen Impfstoffen“ präsentiert. Und ja, die Pandemie verlief weitaus glimpflicher als erwartet, ehe sie im August 2010 offiziell von der WHO für beendet erklärt wurde.

Aber dass Pharmakonzerne Gewinne machen wollen, das H1N1-Virus aber trotzdem gefährlich sein könnte (und nach wie vor da ist), kommt in der Gedankenwelt von Verschwörungstheoretikern nicht vor.

Warum die Schweinegrippe viele verschonte, ist erst Ende des gerade vergangenen Jahres aufgeklärt worden. Zu den Kollateralschäden des Verschwörungsglaubens aber gehört bis heute, dass völlig berechtigte Kritik – etwa an der Berichterstattung mancher Medien, der Wahl des Impfstoffes, am Verfahren der Zulassung, am Einfluss der Pharmaunternehmen – in diesem Quark untergerührt und trivialisiert wird.

Die aberwitzigen Stories vom tödlichen Impfstoff, von Gedankenkontrolle, Bevölkerungsreduktion, Aliens und Geheimbünden deckten weder Missstände auf noch erbrachten sie konkrete und spezifische Beweise. Sondern sie klickten so ziemlich alle Ängste an, die Menschen sich vorstellen können, und profitieren vom Reiz des Schrecklichen.

Und jetzt geht’s wieder los. Virenleugner …

Welches Virus soll es bitteschön geben, das einem Menschen gefährlich werden kann, wenn er nicht altersschwach ist, Medikamente oder Drogen nimmt? Alle laufen einemTeufel hinterher, der sich als Engel in Weiß gibt“,

… kriechen derzeit bei Welt-Online ebenso aus ihren Löchern wie Dumpfsinn jedweder Couleur:

Deswegen werden besonders alte Menschen oder Kinder zur Schmutz-Impfung eingeladen – die einen, weil sie ohnehin bald sterben, und die anderen, weil sie sonst noch im Laufe ihres Lebens den Schwindel erkennen könnten. GOTT schütze sie und uns alle!“

Sicher, „das Verständnis, dass öffentliche Gesundheitsvorsorge keine Kochbuchmedizin ist, konnte dem Volk nicht vermittelt werden“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem außerordentlich lesenswerten Rückblick auf die Schweinegrippe 2009/2010:

Die Massenimpfaktion, von der die Masse fernblieb, hält eine wichtige Lehre über Kommunikation im öffentlichen Raum bereit: Wenn Menschen den Sinn einer an sich guten Sache nicht verstehen, dann flüchten sie sich in Phantomängste. Als Katastrophe erwies sich bisher nicht die Pandemie, sondern die Impfaufklärung. Weil zu viele Köche einen ungenießbaren Faktenbrei zusammenrührten, den am Ende niemand schlucken wollte.“

Das ist wohl richtig. Aber nichtsdestotrotz ist auch „die gesellschaftliche Unfähigkeit, mit Risiken rational umzugehen, erschreckend“, wie Gerd Antes vom Deutsche Cochrane-Zentrum in Freiburg erklärte. Was ist z.B. so schwer daran zu verstehen, dass ein Impfstoff ohne Epidemie allemal besser ist als eine Epidemie ohne Impfstoff?

Und auch die zahllosen Konspirationsmythen rund um die Schweinegrippe haben längst nichts Aufklärerisches mehr. Sollte dem plötzlichen Auftauchen des H1N1-Virus im April 2009 tatsächlich eine Verschwörung zugrunde gelegen haben, dann wäre diese grandios gescheitert. Denn die Sterblichkeit war ebenso weitaus niedriger als bei der normalen saisonalen Grippe (von wegen „Eugenik-Pläne“, „Bevölkerungsreduktion“ und so weiter) wie auch die Impfraten (von wegen „Pharma-Profite“, „genetische Implantate“ etc.).

Und jetzt versuchen es die Verschwörer einfach unverdrossen ein zweites Mal? Nur wenige Monate nach dem ersten Debakel? Da müssen wir doch nochmal Dieter Nuhr zitieren:

Die Glaubensbereitschaft steigt proportional zum Trottelfaktor.“

Zum Weiterlesen:

• Bernd Harder: Die Schweinegrippe-Verschwörung. In: Elvis lebt! Lexikon der unterdrückten Wahrheiten. Herder-Verlag, Freiburg 2010
• Drei Viertel aller Grippekranken haben Schweinegrippe, Augsburger Allgemeine am 5. Januar 2011
• Warum die Schweinegrippe Spinner so fasziniert, Welt-Online am 27. November 2009
• Schweinegrippe-Impfung bot guten Schutz, Welt-Online am 11. Januar 2011
• Flu Vaccine Efficacy, Science-Based Medicine am 9. Oktober 2009