Mitten in der Corona-Krise: eine herrlich eskapistische Zeitreise in die frühen 1990er-Jahre:
Die Brigitte (3/2020) beglückt uns mit dem „neuen Trend zum Übersinnlichen“.
Und was genau ist daran jetzt „neu“?
Eigentlich gar nichts – außer dass die Autorin des Aufmachers sich offenbar für eine „aufgeklärte“ Esoterikerin hält.
Zumindest hat sie schon mal die eine oder andere skeptische Webseite gelesen. Völlig zu Recht schreibt Kibermanis, dass die Konsultation einer Wahrsagerin im Grunde wie ein Gespräch mit der besten Freundin ist:
Es geht mir darum, anders auf Dinge zu blicken und meine Haltung zu verändern […] Ob es Karten sind, Pendel oder das Firmament – es sind ja nur Übersetzungen eigener Ängste, Wünsche und Zweifel, die bei so einer Sitzung sichtbar werden
Auch auf die Gefahren und engen Grenzen von esoterischen Praktiken weist sie hin:
Vor allem Angst ist eine ausgesprochen einträgliche Geschäftsgrundlage. Es gehen ja vor allem diejenigen zu Wahrsagern und Geistheilern, bei denen es gerade nicht rundläuft. Dagegen ist erst mal nichts einzuwenden – nur ist das eben auch ein Stoff, der süchtig machen kann […] Aber ohne eigenes Bemühen wird sich nichts ändern. Niemals
Nun ist gegen einen Besuch beim „Geistheiler“ durchaus eine Menge einzuwenden, vor allem das Problem der möglichen Unterlassung einer wirksamen Behandlung bei der Suche nach einer „Alternative“.
Und das ist nicht die einzige Inkonsequenz der Brigitte-Autorin, die sich eingangs ihres „rationalen Denkens“ rühmt:
Ich gebe zu: Ich will gar nicht alles erklären. Ich staune gern und fühle mich wohlig aufgehoben in einer Welt, in der möglich ist, was weder ich noch die Wissenschaft erklären können.
Und was kann die Wissenschaft nicht erklären? Laut Kibermanis Banalitäten wie „das Phänomen, dass jemand in dem Moment anruft, in dem man gerade verstärkt an ihn denkt“ oder die Vorhersage „konkreter Ereignisse, die mir unglaublich schienen – und die tatsächlich eingetroffen sind“.
Nun ja. Darüber „staunen“ kann man ja. Aber „unerklärlich“? Wohl kaum (zum Beispiel hier und hier). Aber um echte kritische Reflexion geht es gar nicht:
Natürlich könnte man sich die Mühe machen, jeden scheinbar metaphysischen Vorgang in rationalste Einzelkomponenten zu tranchieren – aber was hab ich davon?
Tja, was hat man davon?
Möglicherweise wird man vor falschen Lösungen für echte Probleme bewahrt. Möglicherweise trifft man fundiertere Entscheidungen. Möglicherweise spart man einfach Geld. Möglicherweise kann man den heutigen Herausforderungen damit besser begegnen als mit der befindlichkeitsgesteuerten Pseudo-Skepsis der Brigitte.
Immerhin kommt das im zweiten Artikel des Dossiers gut zum Ausdruck.
Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die sich in einer Lebenskrise von Kartenlegern, Geisteraustreibern, Hexen und Magierinnen einwickeln lässt:
Das Problem ist – so sehe ich es jetzt im Nachhinein – , dass du durch den ganzen Humbug viel Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommst. Du bist außerdem ziemlich beschäftigt mit den ganzen Zaubergeschichten, das lenkt wunderbar von deinen wirklichen Problemen ab. Deshalb hast du das Gefühl, es ginge dir besser.
Allerdings bleibt es dabei nicht, sondern danach wird es ganz wild:
Eine Biologin, die trotz Promotion nicht mal im Ansatz verstanden hat, was Wissenschaft ist, und davon ausgeht, dass „die Energien des Mondes auf uns wirken“ („wie sie auch Ebbe und Flut der Meere beeinflussen“) und dass man einer Person „energetisch“ aufzwingen kann, verliebt zu sein – was die Naturspiritualistin mit Doktorhut aber natürlich strikt ablehnt.
Schade eigentlich, dafür hätte ich versuchshalber mal fünf Euro springen lassen.
Eher unfreiwillig komisch ist dann der Beitrag über die obligatorische „Heilerin“, die über das Warzen besprechen zu ihrer Berufung fand.
Wenigstens hat die Autorin des Textes schon mal was vom Placebo-Effekt gehört. Aber:
Wie hingegen das Immunsystem bei Gürtelrose und Warzen beeinflusst werden kann, ist auch für Wissenschaftler nicht eindeutig geklärt.
Äh, doch:
Suggestion und Placebo-Effekt stärken das Immunsystem und die körpereigene Abwehr behandelt die Warzen quasi selbst,
kann man sogar bei einer Allerwelts-Quelle wie Focus-Online nachlesen.
Und dass es nicht nur den Placebo-Effekt gibt, sondern zum Beispiel auch die Verwechslung von Korrelation und Kausalität, muss man eigentlich auch nicht groß erklären.
Die unvermeidliche Brigitte-Hausastrologin (die natürlich auch Heilpraktikerin und Homöopathin ist) schenken wir uns besser. Allenfalls ein Satz darin ist es wert, zitiert zu werden:
Viele kommen jetzt in einer Situation, die sie psychisch sehr belastet. Ich denke, es hat damit zu tun, dass die Zeiten rauer geworden sind. Und viele das Gefühl haben, dass sie an dem Ort, wo sie jetzt sind, nicht bleiben können.
Das ist sogar überaus nachvollziehbar. Nur eben nichts „Neues“ und sollte schon gar nicht einer Frauenzeitschrift als Alibi dafür dienen, trivialen und hochkommerzialisierten Hokuspokus schon wieder zum „Trend“ zu adeln.
Zum Weiterlesen:
- Häppchen für den Hai, GWUP-Blog am 23. November 2010
- „Mädchen, warum seid ihr so esoterisch?“ im jetzt-Podcast, GWUP-Blog am 9. September 2019
- „Mädchen, warum wollt ihr Hexen sein?“, GWUP-Blog am 13. März 2010
- „Mein Horoskop stimmt immer!“ – Ja und? (Mit vielen Links zum Thema Wahrsagen/Cold Reading), GWUP-Blog am 4. Mai 2013
- Vortragsvideo: Voll der Mond – die Mythen im Check, GWUP-Blog am 20. Mai 2019
19. März 2020 um 17:32
Dr. Daniela Dick – Geschäftsführerin Pagan GmbH
„Wir bieten eine alternative Betrachtungsweise, naturbezogene Work-Life-Balance, Achtsamkeit und innere Stärke.“
https://de.linkedin.com/in/daniela-dick-698a19168
Dr. Daniela Dick – Spirituelles Coaching
„Coaching für Achtsamkeit, Orientierung und natürliche Work-Life-Balance“
https://donotlink.it/ZGGQK
Sorry, aber bei der Frau genügt ein Facepalm nicht.
19. März 2020 um 18:04
Seit jeher ist mir die Brigitte als Diät-Blättchen mit Astrologie-Ecke bekannt. Frisör- und Wartezimmerlektüre eben; Auto, Motor und Sport für Damen. Hochintelligenter Journalismus sollte daher von niemandem erwartet werden.
19. März 2020 um 22:10
Wenn ich etwas hasse, dann ist es dieses pseudokritische Daherkommen mit einem scheinrationalen „anything goes“. Mit so etwas macht man die schiefe Ebene in die Abgründe des Esoterisch-Irrationalen gleitfähig.
Das Thema „Abzocke“, das in diesem Zusammenhang nicht naheliegt, sondern sozusagen gleich obendrauf, fehlt seltsamerweise…
19. März 2020 um 22:26
Also für mich ist dieser Schmarren vor allem eines: frauenfeindlich.
Was für ein Bild der Frau transportiert dieses Blatt eigentlich? Bedeutet weiblich dort wirklich leichtgläubig und leichtbescheuert? Hat die Brigittefrau wirklich keinen lieberen Aufenthaltsort als die Wohlfühlwellnesskuschelblase?
An so einem Machwerk könnt ihr sie erkennen, die neuen Misogynen!
19. März 2020 um 22:44
@Udo Endruscheit:
Die Hausastrologin lässt sich kurz über „Astro-TV“ aus – die Abzocker und Scharlatane sind natürlich immer die anderen.
19. März 2020 um 23:04
Das „Beste“ ist diese unsägliche Behauptung von Brigitte-Autorin Tanja Kibermanis in ihrem Artikel „Zwischen Schamanen und Scharlatanen“:
„Und wie es eben in jedem Berufszweig so ist: Es gibt echte Meister genauso wie unsägliche Dilettanten.“
Nein! Seriöse Scharlatane gibt’s genauso wenig wie ein richtiges Leben im falschen.
19. März 2020 um 23:07
@Sylvia F.:
Stimmt, dazu auch:
https://blog.gwup.net/2012/10/01/sind-hellseher-serios/
20. März 2020 um 07:54
@klauszwingenberger
„frauenfeindlich“
Von dieser Seite aus habe ich es noch gar nicht gesehen. Aber es stimmt absolut. Die Frauenzeitschrift Brigitte offenbart ein Frauenbild, welches den 50er Jahren entstammen könnte.
20. März 2020 um 09:04
Auch wenn es lange bekannt ist, ist es doch wiederum nicht immer bewußt/präsent:
Publikumsverlage wissen seit langem (auch schon lange vor breiter Datenaufarbeitung durch das „Netz“) ganz genau, wer ihre Käufer sind, welche Themen und Aufmachungen sie „bewegen“, was sie genau von „ihrem“ Blatt (also dem gekauften Produkt) erwarten und ob noch irgendwo auf dem extrem ausspartiertem und -tariertem Verkaufsmarkt ein paar Promille Käuferzugewinn zu erreichen sind (oder eben „heutzutags“ eher nicht).
Es geht mir hier nicht um „Schuld“verlagerung von den Verlagen/Redaktionen zu den Käufern – oder generell um eine „Schuldentlastung“. Es geht mir nur darum darauf (eben auf das lang Bekannte) hinzuweisen, dass kommerzielle Angebote wie etwa Verlagsprodukte für eine ziemlich exakt definierte Zielgruppe designt werden (was übrigens auf diesem Markt/in dieser Sparte u.a. bedeutet, dass eigentlich ALLE Inhalte irgendwo/irgendwie lupenreine Fakes sind).
Eine der Folgen aus diesem Sachstand wäre es beispielsweise, dass solange es Käufer gibt, die Produkte mit bestimmten Inhalten (meist zur selbstbestätigenden Absicherung) nachfragen, es im Grunde ziemlich sinnlos ist, einem konkreten Verlagsprodukt (hier also „Brigitte“) Vorhaltungen irgendwelcher Art zu machen.
Es gibt auf dem austarierten Markt keine alternative Käufergruppe für das Produkt „Brigitte“. Sie könnten bestenfalls einfach dichtmachen – aber das würde absolut gar nichts bringen, weil dann entweder Konkurrenzprodukte oder Neugründungen die paar Prozent Käufergeld absorbieren würden (mit eben den nachgefragten Inhalten des dichtgemachten Verlagsprodukts).
Leider hilft es auch nicht besonders, wenn man weiß/darauf baut, dass ALLE Verlagsprodukte seit langer Zeit kontinuierlich im Abstieg sind. Käufer finden IMMER Ersatz für ihre Interessen und verlagern dann z.B. den medialen Fokus.
20. März 2020 um 15:47
Diese Aufweichung von Standards der realistätsbezogenen und fundierten Einordnung von Phänomen (ist katastrophal.
Das kann dann folgen:
https://www.medical-tribune.de/meinung-und-dialog/artikel/globuli-gegen-corona-hausaerztin-wegen-homoeopathie-empfehlungen-angezeigt/
29. Juli 2020 um 13:21
„RTL-West“ (eine tägliche News-Sendung, die jeweils um 18.00 Uhr bei RTL live ausgestrahlt wird) sendet aufgrund des mittlerweile 30-jährigen Bestehen dieses Formats momentan täglich einen alten Beitrag von damals vor 30 Jahren zwischen den News.
So lief in der gestrigen Sendung ein Beitrag über die Geistheilerin Marita Lautenschläger von 1990. Wie gesagt, in der gestrigen Live-Sendung eingespielt.
Da die Dame schon damals wohl nicht die Jüngste war, dachte ich: Jetzt schau mal bei Google (ich hatte ihren Namen noch nie zuvor gehört) und lies mal, was die früher so getrieben hat.
Ich traute meinen Augen nicht, als ich dann sah, dass sie scheinbar noch immer aktiv ist (zumindest lässt das ihre Homepage vermuten).
Ihr jetziges Alter dürfte meiner Schätzung nach ca. 80-90 Jahre sein.
https://www.rtl-west.de/beitrag/artikel/30-jahre-rtl-west-68/
(Dauer 2,44 min)
29. Juli 2020 um 14:02
Dass die Moderatorin in der Anmoderation auch heute keine Kritik an dieser Frau übt, finde ich schlimm.
Lediglich zur Ernsthaftigkeit ihrer eigenen DAMALIGEN Anmoderation äußert sie sich kurz.
29. Juli 2020 um 16:35
Entsetzlich, was ich über die Frau gerade bei Psiram gelesen habe!
1. August 2020 um 16:29
„…Respekt vor Ihrer Arbeit…Sie haben mich sehr überzeugt…!“
Das sagte Vera Int-Veen vor Jahren in der Sendung „Vera am Mittag“ zu Marita Lautenschläger. Ich könnte k….n, wenn ich das sehe:
https://www.youtube.com/watch?v=a5ImMOGhT9E
2. August 2020 um 03:37
Entschuldigung, ich höre gerade die Gymnopédies von Satie… Tiefe Nacht, der Aldebaran blinkt mich lockend an und ich lese diesen Artikel. Es ist verrückt. In welch schmutzige Loch führen mich die abartigen Menschen im Blogbeitrag? Welches Jahr haben wir? 1920? 1420? Gibt es Computer, Impfung gegen Kinderlähmung? Hat mal jemand „Alle Menschen werden Brüder“ gedichtet und ein anderer vertont? Waren welche von uns auf dem Mond?
Hier stimmt etwas grundlegendes nicht.
24. August 2020 um 06:55
Das Horoskop wird 90!
„Man muss dran glauben wollen!“
Ich habe nie an solchen Unfug geglaubt!
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/man-muss-dran-glauben-wollen-horoskop-zeitung-sunday-express-richard-harold-naylor-prinzessin-margaret-sternzeichen-zukunft-glueck-astrologie-li.99872
24. August 2020 um 12:15
@ Lisa-Marie_
„Ich habe nie an solchen Unfug geglaubt!“
Das liegt aber nur daran, dass Du noch nie Dein gaaanz persönliches Horrorskop von mir bekommen hast. Wird sofort nachgeholt:
Dir wird ein grosser Mann begegnen. Oder auch ein Kleiner. Denn über den grossen sollten wir auch nie die kleinen Dinge, die das Leben besonders machen, vergessen. Ein Gänseblümchen am Wegesrand, einen Kartoffelchip in der Gestalt des Allerliebsten, ein Kondom, welches gerissen ist und Ihnen zum grossen Elternglück verholfen hat.
Jaja, sowas passiert, wenn Venus sich mal wieder bei Bacchus im 11. Hinterhaus des Jupiter besoffen und danach mit Pan vergnügt hat, anstatt Eros seine Tagesaufträge zu übergeben. Die Putten wenden sich jedes Mal mit Grausen ab.
Das Grausen kommt Ihnen auch jedes Mal, wenn Sie auf ihren Kontostand schauen. Ihnen kann geholfen werden – merken Sie sich die Zahlen 5, 8, 16, 21, 38 und 46. Irgendwann werden die mal im Lotto gezogen; nicht notwendigerweise in derselben Ziehung, aber immerhin. „Hauptsache, ein Treffer“, sagte sich schon Jupiter, als er eigentlich mit ein paar Blitzen Nero wieder auf den Pfad der Tugend zurückbringen wollte, aber weil er leider seine Brille vergessen hatte, stattdessen ganz Rom angezündet hatte.
Als die Asche allmählich erkaltet war, hob der Obergott schulterzuckend den Teppich der Geschichte in seinem 2. Haus an und wischte die Bescherung darunter. Schwamm drüber.
Schwamm drunter ist hingegen gar nicht gut, vor allem nicht im Kühlschrank. Dann sollten Sie da mal gründlich ausmisten, einen Neuanfang wagen, ein paar mutige Entscheidungen treffen. Brauchen Sie wirklich 27 verschiedene Sorten Käse, nur weil Sie im Supermarkt an keinem Angebot vorbeigehen können? Selbst wenn alle Milchprodukte zu Super-Duper-Sonderpreisen rausgeworfen werden, weil die Kühltruhe übers Wochenende nicht richtig gearbeitet hat?
Das Zeug frisst doch nicht mal mehr Pluto, das vergräbt er hinter der 5. Hundehütte. Ansonsten bekommt er nämlich Dünnschiss, und Sie dürfen dann 43x am Tag mit ihm Gassi gehen.
Was Ihnen andererseits aber auch mal ganz gut tun würde. Also aufauf: jetzt müssen Pilzkulturen gezüchtet werden, als gäbe es kein Morgen. Was sowieso nicht der Fall ist. Aber was würden Sie tun, wenn sie wüssten, dass morgen die Welt untergeht? Die Zeit richtig und bedacht nutzen? Und wovon träumen sie Nachts?
Rischtisch, Sie träumen gar nicht. Schon vergessen – Elternglück, siehe oben. Wenn Sie da mal zu 11.6 Minuten Schlaf am Stück kommen, haben Sie ein Riesenglück gehabt, nur für Traumschlaf reicht das beileibe nicht. Also seien Sie zufrieden damit und glücklich, es könnte alles noch schlimmer kommen.
Nicht wirklich viel schlimmer, aber wir wollen hier ja keine Haare spalten. Höchstens Atome… sie wissen schon… Weltuntergang… ;)
24. August 2020 um 15:40
@ noch’n Flo
Und die Quelle für den herrlichen Kommentar?
:-)))
24. August 2020 um 16:03
@ Lisa-Marie:
„Und die Quelle für den herrlichen Kommentar?“
Wieso Quelle? Das habe ich eigens für Dich geschrieben. :)
(Von Zeit zu Zeit, wenn ich Muse und Musse habe, haue ich sowas mal spontan raus…)