Martin Gommel leidet selbst an Depressionen, ist Reporter für psychische Gesundheit bei Krautreporter und reagiert bei Instagram auf zweifelhafte Videos der Coaching-Szene:
Auch in einem Interview mit Julian Aé von Spiegel+ warnt Gommel vor Online-Coaches – sowohl vor Businesscoaches als auch denjenigen, die sich auf Spiritualität oder Zwischenmenschliches spezialisiert haben:
Das Leben wird als ewiger Urlaub inszeniert, immer mit der Verheißung: „Das kannst du auch schaffen.“ Es geht im Wesentlichen darum, einen Lebensstil zu verkaufen, der bei rationaler Betrachtung völlig unrealistisch und für die meisten unerreichbar ist. Das eigene Ego steht im Vordergrund: Man soll reich, muskulös und immer gut drauf sein. Wer das nicht erreicht, dem wird Faulheit unterstellt.
Das unterschwellige Narrativ ist: Wenn du ein durchschnittliches Leben führst, bist du weniger wert. Das hat eine verheerende Wirkung auf Menschen, die sich vielleicht gerade in einer prekären Situation befinden und etwas an ihrer Lage ändern möchten.
Ein Coach hat mal gesagt, „Geld macht nicht glücklich“ sei ein Satz, den arme Menschen als Ausrede benutzen. Ich denke, das steht für sich.
Insbesondere kritisiert Gommel Scharlatane, die die Grenze zwischen Coaching und Therapie verwischen:
Menschen, die tatsächlich unter psychischen Problemen leiden, sind sehr verletzlich und manche besonders empfänglich für solche Botschaften. Wer schon einmal in so einer Situation war, weiß, dass es in Deutschland viele Monate dauern kann, bis man einen Platz bei einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten bekommt.
Viele Coaches haben keine Hemmungen, meist etwas verklausuliert Heilung von Ängsten oder gar Depressionen zu versprechen – natürlich in der Regel ohne eine fundierte psychotherapeutische Ausbildung. Das Narrativ ist dabei fast immer: „Du bist selbst für dein Elend verantwortlich“ und „Ich zeige dir, wie du reich, glücklich und gesund wirst“.
Kranken Menschen wird das falsche Mindset unterstellt. Das ist nicht nur perfide, sondern kann auch gefährlich werden.
Spiegel: Inwiefern?
Gommel: Wenigen Menschen ist bewusst, wie bedrohlich etwa eine Depression sein kann. Oft werden die Symptome als Traurigkeit oder Melancholie bagatellisiert. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, die ohne eine wissenschaftlich fundierte Behandlung tödlich enden kann. In meinem Fall kann ich zum Beispiel sagen, dass mir die Psychiatrie das Leben gerettet hat.
Richtig wütend macht mich deshalb, dass manche Coaches sogar die Psychotherapie diskreditieren. Ein häufiges Symptom bei Depressionen sind Schuldgefühle. Wenn dann ein Influencer daherkommt und dir erzählt, dass alles nur an deiner falschen Einstellung liegt, kann das die Situation verschlimmern.
Ähnlich ist es bei Problemen wie Armut, Ausgrenzung oder Mobbing: Laut vielen Coaches sind diese Probleme allein die Folge von falschen Gedanken. Dabei gibt es selbstverständlich viele Aspekte, auf die man eben keinen direkten Einfluss hat. Durch diese „Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst“-Mentalität werden auch gesellschaftliche Missstände verleugnet.
Auch esoterischer Nonsens wie das „Gesetz der Anziehung“ empört Gommel:
Schwere Traumata oder Krankheiten kann man nicht einfach „wegmanifestieren“ […] Wenn man Betroffenen vermittelt, dass sie nur nicht hart genug an sich gearbeitet hätten, treibt man sie eher in Richtung Suizid als auf den Weg der Heilung.
Zum Weiterlesen:
- Das gefährliche Wunschdenken der Online-Gurus, spiegel+ am 23. Juli 2023
- Warum mich Laura Melina Seiler traurig und wütend macht, krautreporter am 17. Mai 2023
- SkepKon-Video: „Coaching auf Abwegen“ mit Uwe Kanning, GWUP-Blog am 5. Juli 2023
- „Erleuchtet oder abgezockt?“ ZDF-Doku zum Thema Coaching, GWUP-Blog am 27. April 2023
- Geburtsdatenalgorithmen und Lichtsprache: Coaching-Methoden unter der Lupe, GWUP-Blog am 15. März 2023
- Wenn Coaching gefährlich wird: Aussteigerin berichtet über die dunklen Seiten der Szene, watson am 15. März 2023
- Video: „Die Money-Machine der Coaches“, GWUP-Blog am 25. Februar 2023
- Neu im „Nachgefragt“-Podcast: Mythen, Irrtümer und Bullshit in Coachings und Trainings, GWUP-Blog am 14. August 2019
- Armut als Charakterschwäche: Der alte neue Hype um das „Manifestieren“ von Geld, GWUP-Blog am 2. Mai 2023
27. August 2023 um 17:07
Spiegel+: Boom der Lebensberater. Das Geschäft mit dem Glück
Sie nennen sich Beziehungsberater, Moneymentoren oder Lebenslehrerinnen: In Deutschland boomt die Coaching-Szene, längst sind die Pfadfinder zum besseren Ich zu einer Industrie geworden. Wer profitiert davon?
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