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Die AfD, die KBV-Daten, die unklaren Todesfälle seit 2021, die Übersterblichkeit – und nicht zuletzt der Islamismus

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Das Aufreger-Thema der vergangenen zwei Wochen:

Eine Analyse von KBV-Daten durch die AfD soll einen dramatischen Anstieg von Todesfällen in 2021 belegen.

Ist das so? Gehen wir der Reihe nach.

Bei einer Expertenanhörung vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestags am 21. März wollte der AfD-Abgeordnete Martin Sichert vom Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, wissen, wie viele Patienten sich aufgrund von Beschwerden nach einer Corona-Impfung in ärztliche Behandlung begeben hätten.

Daraufhin veröffentlichte die KBV am 16. Juni diese Tabelle:

Damit ging Sichert am 23. Juni an die Öffentlichkeit.

In seiner Pressemitteilung rekurrierte der gesundheitspolitische Sprecher der AfD auf einen Anstieg der erfassten Impfnebenwirkungen „um das mehr als 30-fache gegenüber den Vorjahren“ – nämlich von 67.065 (2016) und 76.332 (2020) auf 2.487.526 im Jahr 2021.

Die KBV widersprach nur einen Tag später Sicherts Lesart und stellte klar:

Zu den codierten Impfnebenwirkungen gehören vor allem auch die für alle Impfungen typischen Begleiterscheinungen wie Rötungen an der Impfstelle oder leichte lokale Schmerzen an der Einstichstelle. Sie bilden den mit Abstand größten Anteil der registrierten Unverträglichkeiten und Komplikationen.

Über die Plattform „Frag den Staat“ forderte Sichert dann im September und noch einmal detaillierter im Oktober „die Diagnosecodes zu den 2.478.526 Kassenpatienten mit Impfnebenwirkungen (Bezugsjahr 2021)“ von der KBV an.

Dieses Datenpaket von mehr als 80 Seiten ließ die AfD von dem Programmierer Tom Lausen auswerten, laut Focus online ein „in der Querdenker-Szene gefragter Interviewpartner, [der] dort schon mehrfach mit fragwürdigen Methoden und vor allem stimmungsanheizenden Analysen auffiel“ – etwa im Zusammenhang mit der umstrittenen Impfnebenwirkungen-Bilanz der BKK ProVita im Februar.

Die AfD präsentiert Lausens Datenauswertung auf ihrer Homepage und veranstaltete am 12. Dezember eine Pressekonferenz in Berlin, bei der Sichert unter anderem die „sofortige Aussetzung der Corona-Impfungen“ forderte, da es „seit Beginn der Corona-Impfungen einen sprunghaften Anstieg von Todes- und Krankheitsfällen“ gebe:

Etwa bei plötzlichen und unerwarteten Todesfällen (Diagnosecodes R96-R99), deren Zahl von durchschnittlich 1.800 (2016 bis 2020) auf rund 9.000 pro Quartal (seit 2021) angestiegen ist.

Was hat es nun damit auf sich?

  • Wie schon bei seiner Analyse der BKK ProVita-Daten stellt Lausen aus Abrechnungsdaten einen (wenn auch vorsichtigen) Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfungen und Todesfällen her.

Das funktioniert aber nicht.

Darauf weisen sowohl der KBV-Vorstand als auch das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland hin.

Abrechnungsanlässe sind nicht identisch mit tatsächlichen Todesursachen.

Oder, wie Dr. Joseph Kuhn im Science-Blog Gesundheits-Check erklärt:

Die KBV hat keine Zahlen zu „Toten“ geliefert, sondern Zahlen über Abrechnungsfälle. Ein Personenbezug besteht nicht ohne Weiteres […]

Die Kassenärztlichen Vereinigungen erhalten nicht systematisch Sterbefallinformationen. Sie haben nur Daten von den niedergelassenen Ärzt/innen, die aus irgendwelchen Gründen bei Sterbenden oder gerade Verstorbenen abrechnungsfähige Leistungen erbracht haben.

Die dokumentierten ICD-Ziffern sind in der Regel vermutlich auch keine Ergebnisse der Leichenschau, weil die Leichenschau zur Feststellung der Todesursachen keine Kassenleistung ist. Leichen sind nicht krankenversichert.

  • Die Todesursachenstatistik 2021 stützt die Lausen-Analyse nicht.

Die AfD hat für ihre Analyse vor allem diese ausgewählten ICD-Codes betrachtet:

  • I46.1 Plötzlicher Herztod
  • I46.9 Herzstillstand, nicht näher bezeichnet
  • R96.0 Plötzlich eingetretener Tod
  • R96.1 Todeseintritt innerhalb von weniger als 24 Stunden nach Beginn der Symptome, ohne anderweitige Angabe 
  • R98.0 Tod ohne Anwesenheit anderer Personen
  • R99.0 Sonstige ungenau oder nicht näher bezeichnete Todesursachen 

Am 16. Dezember veröffentlichte das Statistische Bundesamt die Todesursachenstatistik für das Jahr 2021.

Eine Erhöhung unbekannter Todesursachen (R96 bis R99) ist darin nicht zu erkennen.

Exakt aufgeschlüsselt (von Joseph Kuhn):

  • I46.1 Plötzlicher Herztod: 2021 im langfristig rückläufigen Trend, ein paar Fälle mehr als 2020, ein paar weniger als 2019.
  • I46.9 Herzstillstand: Garbage-Code, seit 2019 nicht mehr ausgewiesen.
  • R96.0 Plötzlich eingetretener Tod: sehr kleine und schwankende Fallzahlen, 2021 vier mehr als 2020, 30 mehr als 2019.
  • R96.1 Tod innerhalb 24 Stunden: noch kleinere Fallzahlen, 2 mehr als 2020, 2 weniger als 2019.
  • R98: Tod ohne Anwesenheit anderer: 1 Fall mehr als 2020, ca. 600 Fälle weniger als 2019, bei langfristig steigendem Trend.
  • R99: Ungenau bezeichnete Todesursachen: ca. 3.000 Fälle mehr als 2020, gut 1.000 Fälle mehr als 2019, bei steigendem Trend mit stark schwankenden Fallzahlen.

Könnten die letztgenannten 3000 Fälle unklarer Todesursachen mehr als 2020 möglicherweise versteckte Impftote sein? Unwahrscheinlich, denn 2019 sind diese Fälle ebenfalls bereits um mehr als 4000 gegenüber 2018 gestiegen.

Auf der Basis eigener Versichertendaten stellt die AOK sogar einen Rückgang der ICD-Codes R96.0, R96.1, R99 unter allen Verstorbenen fest:

  • Der sprunghafte Anstieg von Todesfällen im Jahr 2021 existiert gar nicht.

Dieses Säulendiagramm, das die addierten Zahlen mehrerer ICD-Codes zeigt, soll eine dramatische Steigerung der Sterberate ab dem ersten Quartal 2021 belegen:

Tatsächlich aber verbirgt sich hinter dieser Darstellung ein Kohorten-Effekt.

Wie gesagt: Die Zahlen über den vier Quartalsbalken 2021 (15.198 usw.) sind keine verstorbenen Menschen, sondern abgerechnete Diagnosen. Und selbst wenn man großzügig Fälle und Personen gleichsetzen würde, kommt man insgesamt auf 57.069.

Gestorben sind in Deutschland 2021 insgesamt 1.023.687 Menschen. Die Grafik zeigt also – als Personen gezählt – 5,6 Prozent der Sterbefälle im vergangenen Jahr. Nämlich die mit den Todesfallursachen ICD I46 und R96 bis R99.

Diese Zahl ist aber keineswegs drastisch angestiegen, zeigt Gesundheits-Check mit dieser Verlaufsgrafik aus der Todesursachenstatistik (bis auf die besagte Kurve bei den „nicht näher bezeichneten Todesursachen“, die aber schon seit 2010 sichtbar ist):

Wieso aber weicht die Lausen-Analyse so stark davon ab?

Die AfD hat nur bestimmte Daten bei der KBV angefordert – und nur bestimmte Daten erhalten. Welche genau, erkärt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) hier oder kann man im Antwortschreiben der KBV an Martin Sichert nachlesen.

Kurz gesagt ging es

  • zunächst um alle gesetzlich Krankenversicherten, bei denen 2021 eine Impfnebenwirkung codiert wurde (ICD T88.1, T88.0, U12.9 und Y59.9),
  • im zweiten Schritt um eine Auflistung aller Diagnosekodierungen zu allen möglichen Krankheiten in dieser Gruppe im Zeitraum 2016 bis 2021. Darin sind auch die Codes zu den Todesursachen (I46, R96, R98, R99) enthalten
  • und schließlich um die Abrechnungsziffern aller anderen Versicherten von 2016 bis 2021, ohne das unter Schritt 1 fallende Versichertenkollektiv.

Vereinfacht: Menschen, die 2021 eine Impfnebenwirkung hatten und Menschen, die keine hatten, dazu noch Menschen, die 2021 wegen irgendwas beim Arzt waren.

Der entscheidende Punkt dabei ist das Auswahlkriterium „Versicherte, die im Jahr 2021 einen Arzt besucht haben“.

Die AfD übersah dabei wohl, dass für jemanden, der 2021 noch im System der gesetzlichen Krankenversicherung war, in den Jahren davor keine Todesdiagnose gestellt worden sein kann. Mit dieser Datenauswahl ist also eine Vergleichbarkeit mit den Jahren 2016 bis 2020 hinsichtlich der Todesfälle/Impfungen oder auch nur von „Risikosignalen“ beziehungsweise „Alarmsignalen“ nicht gegeben.

Das ZI hat diese eigene Auswertung der ICD-10-Kodierungen R96-R98, I46.1, I46.9 je gesetzlich Versichertem publiziert.

Denn die Diagnosen beziehungsweise die ICD-Codes, die mit dem Versterben zu tun haben, können [eigentlich] erst 2021 im Datensatz enthalten sein. Deshalb sind Lausens Sterbezahlen vor 2021 so niedrig und in 2021 so hoch.

Der scheinbare Anstieg der Kodierungen für Todesfälle ist mithin

… eine logische Konsequenz der Datenauswahl,

schreibt das ZI.

Nichtsdestotrotz (und darauf bezieht sich unser eigentlich) wirft das natürlich die Frage auf, wieso der KBV-Datensatz dann überhaupt Todesfälle aus den Jahren vor 2021 enthält?

Das erklärt das ZI dem zdf.de gegenüber mit „Eingabefehlern oder Fehlern bei der Übertragung der Daten“.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass der Informatiker Tom Lausen die Datenfehler vor 2021 (falsche Sterbefälle beziehungsweise Fehlcodierungen) mit den echten Sterbefällen ab 2021 verglichen hat.

Dabei hätte ihn „der sprunghafte Anstieg eigentlich stutzig machen müssen, denn solche Sprünge haben meist methodische Gründe“, sagt Joseph Kuhn. Zudem hätten weder er noch die AfD darüber nachgedacht, ob die KBV überhaupt repräsentative Daten zu Sterbefällen haben kann – was das ZI ausdrücklich verneint. KBV-Daten könnten in keinem Fall „die Mortalität innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung“ abbilden.

Lausens Daten sind falsch,

kommentiert sogar Welt-Online.

Was davon übrig bleibt, sei allenfalls Kritik an der „mangelhaften Datenlage“ beziehungsweise an der „deutschen Unfähigkeit, relevante Daten zu ermitteln“ (Welt+).

Das gilt in diesem konkreten Fall wohl gleichermaßen für die KBV (es sei bis jetzt nicht klar, ob „die Daten, die die KBV an die AfD lieferte, unvollständig oder fehlerhaft waren“, schreibt correctiv) als auch für die AfD und ihren Datenanalysten, denen Joseph Kuhn „multiple Fahrlässigkeit im Umgang mit den angefragten Daten“ bescheinigt.

Denn:

Es ist das Grundgesetz jeder Datenanalyse, Daten erst einmal auf Plausibilität zu prüfen.

Mithin sagen die Zahlen der AfD auch zur – realen – Übersterblichkeit nichts aus (was nach der Pressekonferenz am 12. Dezember hier und da anklang).

Im November 2022 lag die Übersterblichkeit um sieben Prozent über dem mittleren Wert der Vorjahre, im Oktober waren es 19 Prozent. Dabei kann es sich um eine kurzzeitige statistische Schwankung handeln, um Spätfolgen einer Corona-Erkrankung oder um indirekte Pandemiefolgen, wie etwa versäumte Vorsorge-Untersuchungen oder verschobene Operationen.

Bemerkenswert an der ganzen Geschichte sind eigentlich nur noch die Allianzen, die sich in diesem Zusammenhang auftun.

Schon 2020 wurde Tom Lausen zu seinem Buch „Die Intensiv-Mafia – Von den Hirten der Pandemie und ihren Profiten“ von der laut Wikipedia „islamistischen“ Webseite Muslim-Markt interviewt, die vom Verfassungsschutz beoachtet wird, weil sie „antiwestliche, antiisrealische Propaganda“ betreibe.

Der Sohn eines der beiden Muslim-Markt-Verantwortlichen, Huseyin Özoguz, springt jetzt in seinem Youtube-Channel Actuarium Lausen bei, was wiederum von der islamkritischen Achse des Guten beziehungsweise dem Autor Thomas Maul wohlwollend annonciert wird.

Also eine „Studie“, die von der AfD initiiert wurde, die sich erst kürzlich mal wieder „konsequent gegen den politischen Islam“ positionierte und als „engagierteste Partei gegen den Islamismus“ gilt, wird von einem Videokanal verteidigt, der neuerdings über „eine Basis für Zusammenarbeit in Deutschland von Religiösen und Rechten“ sinniert.

Ihr braucht Zusammenarbeit. Die Muslime sind eure einzige Chance,

ruft Özoguz in einem aktuellen Video der AfD beziehungsweise „institutionellen oder losen Gruppen in Deutschland, konservativen, rechten bis hin zu identitären“ zu.

Wenige Tage nach seiner „Analyse der KBV-Daten und der Kritiken“.

Interessant.

Zum Weiterlesen:

  • Tödliche Impfung oder tödliche Nichtimpfung? “Alarmsignale” und ihre selektive Wahrnehmung, Gesundheits-Check am 18. Dezember 2022
  • Und noch einmal: Zum Datensalat der AfD, Gesundheits-Check am 17. Dezember 2022
  • Noch einmal: KBV und AfD im Datennebel, Gesundheits-Check am 15. Dezember 2022
  • Datendesater bei AfD und KBV, Gesundheits-Check am 13. Dezember 2022
  • Warum die Analyse der KBV-Daten durch die AfD keinen Anstieg von Todesfällen in 2021 belegt, correctiv am 15. Dezember 2022
  • Logiklücke statt Impftote bei der AfD, zdf.de am 16. Dezember 2022
  • Übersterblichkeit: Die rätselhaften Corona-Toten, Süddeutsche am 28. November 2022
  • Die geheimnisvolle Herbst-Übersterblichkeit, Gesundheits-Check am 25. November 2022
  • Übersterblichkeit: Die unbekannten Toten, tagesspiegel am 16. Dezember 2022

10 Kommentare

  1. Der eigentliche Feind der heutigen deutschen faschistischen Bewegungen ist ja nicht der gewalttätige Islamismus, sondern „die Grünen“.
    „Grün“ bedeutet hier wesentlich allgemeingültige Menschenrechtsstandards, oder wie es die hochgeschätzten Altvorderen der heutigen Bewegungen ausdrückten: „Menschlichkeitsgedusel“ (Adolf Hitler).
    So gesehen ist es zum respektvollen Schulterschluss mit den blutrünstigen Islamisten nicht weit.

  2. Als allererstes hätte doch einem Computerspiele-Spezialisten auffallen müssen, daß es in seiner Klapperstorchstatistik nicht einmal eine einfache Korrelation zu den ärztlichen Abrechnungen gibt, die wenigstens eine Vermutung hätte vermuten lassen können.

    Die etwa 9.000 „überzähligen Fälle“ pro Quartal folgen nicht der Impfkurve, auch nicht zeitversetzt:

    Q1 = 10 Mio Geimpfte / 13 Mio Dosen … Q2 + 37 / 62 Mio … Q3 + 10 / 34 Mio … Q4 + 5 / 44 Mio

    Da hätte nach „AfD-Interpretation“ aber zwangsläufig ein Peak Richtung 3. Quartal sein müssen. Die Hobby-Epidemiologen müßten wenigstens eine Erklärung für das „konstante Impfsterben“ haben.

    Da gibt es noch’n (uff) Physiker archi.medes, der für die 5. Impfung oh 1,56% Tod „ausgerechnet“ hat.

  3. Danke, Herr Senf. Und an Weihnachten erklären wir allen Familienmitgliedern, was fishing for (statistical) significance ist.

    In diesem Sinne wünsche ich schöne Feiertage im Kreise der Lieben.

  4. Vermisse ich hier einen Hinweis auf eine Beratung durch Prof. Harald Walach oder war der diesmal tatsächlich nicht mit von der Partie?

  5. @ Udo Endruscheit:

    Ich vermute, die Skeptiker verweigern eine Beratung durch Herrn Walach und haben den Artikel ganz allein geschrieben ;-)

  6. Der aktuelle Beitrag von Huseyin Özoguz auf „actuarium“ dreht sich um die Geburtenentwicklung: „Die deutsche Katastrophe kommt“.

    1935 hat Friedrich Burgdörfer auch schon den Untergang Deutschlands aufgrund der Geburtenentwicklung vorhergesehen: „Deutsches Volk in Not“, war seine Überschrift.

    Der „Untergang Deutschlands“ hatte bekanntlich schon 1933 aus ganz anderen Gründen begonnen.

  7. 2006 starben das letzte Mal die Deutschen aus. Die sind aber auch ein zähes Pack.

    Interessant sind nur die „Erklärungen“, welche die Ideolog*innen jeglicher Couleur anbieten.

    Woran liegt es dieses Mal?

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