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„Undifferenzierte Schwurbelei“: Angebliche Impfnebenwirkungen als Marketinginstrument einer gesetzlichen Krankenkasse?

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Diese Woche lief im Ersten die Doku

Impfen, nein danke – spaltet Corona unsere Gesellschaft?

Vor allem in den letzten zehn Minuten geht es um die Frage, ob die Corona-Demos unsere Gesellschaft wirklich „spalten“ – und ob gutmeinende Teilnehmer es sich nicht zu leicht machen, wenn sie rechtsextreme und verschwörungsideologische Mobilisierungen gänzlich ignorieren.

Den jüngsten Aufreger in Sachen Corona-Impfung gab es gestern, als die Welt von „mehr Impf-Nebenwirkungen als bisher bekannt“ schrieb.

Der Artikel basiert auf auf einem Brief des BKK ProVita-Vorstands Andreas Schöfbeck an das Paul-Ehrlich-Institut. Darin schreibt der Krankenkassenbetriebswirt, dass die Gesamtzahl der Impf-Nebenwirkungen um ein Vielfaches höher sei, als vom PEI kommuniziert werde.

Darauf gekommen will Schöfbeck sein, als er „die Daten von Millionen Versicherten der BKK-Gruppe“ (Welt) analysiert habe.

Diese Behauptung wurde vom BKK-Dachverband umgehend dementiert:

Welche Daten Schöfbeck verwendet hat (die BKK ProVita selbst zählt nur 125.000 Versicherte), bleibt also offen.

Jedenfalls habe der Kassenfunktionär seinen Datenpool nach den Diagnose-Kodierungen

  • 88.0 (Infektion nach Impfung/Sepsis nach Impfung)
  • T88.1 (Sonstige Komplikationen nach Impfung, Hautausschlag nach Impfung)
  • Y59.9 (Komplikationen durch Impfstoffe oder biologisch aktive Substanzen)
  • U12.9 (Unerwünschte Nebenwirkungen bei der Anwendung von Covid‐19‐Impfstoffen)

durchforstet und sei dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass „400.000 Arztbesuche unserer Versicherten wegen Impfkomplikationen bis zum heutigen Tag realistisch“ seien. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung läge dieser Wert bei etwa drei Millionen.

Demgegenüber verzeichnet das PEI lediglich 244.576 Verdachtsfälle von Impfkomplikationen und Impfnebenwirkungen.

Wie Welt+ heute berichtet, findet in der kommenden Woche ein Treffen zwischen führenden PEI-Mitarbeitern und Kassenvorstand Schöfbeck statt. Dabei soll es auch darum gehen, wie man künftig die Abrechnungsdaten der Krankenkassen mit den Impfdaten des Digitalen Impfquoten-Monitorings verknüpfen kann.

Allerdings gibt es auch scharfe Kritik an Schöfbecks Datensammlung – dessen Schlussfolgerungen daraus seien „kompletter Unfug“, schreibt der Bundesvorsitzende des Verbandes der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte (Virchowbund), Dr. Dirk Heinrich, und wirft dem Kassenbetriebswirt gar „peinliches Unwissen oder hinterlistige Täuschungsabsicht“ vor:

Die BKK ProVita vermischt dabei zwei völlig unterschiedliche Bereiche: die ärztliche Diagnose-Codierung mit ICD-Codes und die Meldung an das PEI.

Der ICD-Code U12.9, der zur Dokumentation empfohlen ist, soll etwa bei „Unerwünschten Nebenwirkungen bei der Anwendung von COVID-19-Impfstoffen, nicht näher bezeichnet“ angegeben werden. „Unerwünscht“ und „nicht näher bezeichnet“ umfasst jedoch die gesamte Bandbreite der erwartbaren, milden und vorübergehenden Folgen einer Impfung, z. B. eine leichte Schwellung an der Einstichstelle oder erhöhte Temperatur durch die Immunantwort.

Von einer „Gefahr für das Leben von Menschen“, wie die Kasse sich ausdrückt, kann dabei also keine Rede sein. Die ICD-Codes dienen auch vor allem dem Zweck der Abrechnung ärztlicher Leistungen.

Handelt es sich dagegen um einen Verdacht auf „über das übliche Maß hinausgehende“ Nebenwirkungen, sind Ärzte verpflichtet, diese an das PEI zu melden. „Das ist ein eklatanter Unterschied, den die Kasse hier unter den Tisch fallen lässt. Genauso wie man die Zahl der Verdachtsfälle nicht einfach mit der Zahl der bestätigten Nebenwirkungen gleichsetzen kann“, erklärt Dr. Heinrich.

„Dazu kommt, dass bei der ‚Auswertung‘ eine ganze Reihe von ICD-Codes in einen Topf geworfen werden, nach dem Motto: Je mehr, desto besser.“

Auch Dr. Christian Kröner erklärt, wie das mit den Krankheitscodierungen funktioniert:

Und nicht ganz zu vergessen:

BKK ProVita-Vorstand Schöfbeck pflegt ohnehin ein eigenwilliges Verständnis von Medizin:

„Wir haben ein anderes Bild von Gesundheit als der Mainstream“, erzählt Andreas Schöfbeck unaufgeregt empathisch und mit bayerischer Färbung in der Stimme. „Unser Weltbild ist holistisch. Ganz im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild nach Descartes, das letztlich den Menschen zur Maschine reduziert; der Körper in der Hand von Pharmazie und Chirurgie und Geist und Seele in der Obhut der Kirchen.

Schwer zu sagen, ob der Kassenfunktionär das ernst meint – mit der Realität hat seine Aussage jedenfalls nicht viel zu tun (siehe auch hier und hier).

Daher:

Zum Weiterlesen:

  • Schwurbel-BKK gibt falschen Alarm bei Impfnebenwirkungen, virchowbund am 24. Februar 2022
  • Ärger um Kassenaussagen zu Impfnebenwirkungen, ärzteblatt am 24. Februar 2022
  • BKK verbreitet irreführende Zahlen zu Impfnebenwirkungen, BR am 25. Februar 2022
  • Impffolgen: Paul-Ehrlich-Institut will Zahlen der BKK analysieren, Berliner Zeitung am 25. Februar 2022
  • Esoterik, Impfskepsis, Demokratiekritik: Die lange Tradition des Querdenkens, Deutschlandfunk am 21. Februar 2022
  • Leichte Impfnebenwirkungen liegen oft am Nocebo-Effekt, spektrum am 19. Januar 2022

8 Kommentare

  1. Ein wirklich unfassbarer Vorgang, der mE Konsequenzen von Seiten der Versicherungsaufsicht haben müsste. Außerdem ein weiterer Anlass, jedes Schlupfloch im Sozialrecht zu stopfen, das den Kassen ermöglicht, mit nicht evidenzbasierten Kram aus dem Bauchladen sogenannten „Wettbewerb“ untereinander zu betreiben.

    Der Rahmen der Satzungsleistungen, der in § 11 Abs. 6 SGB V fixiert ist, muss stark eingeschränkt werden.

    Denn wir sehen hier, dass ganze Institutionen, hier in Person von Herrn Schöfböck, durch zu viel Beschäftigung mit Pseudomedizin den Boden unter den Füßen verlieren und sich regelrecht zu Propagandisten von Mitteln und Methoden machen, die den Menschen schaden statt nützen. ProVita ist nicht die einzige, bewahre.

    Selbst die gestandene Knappschaft hat als Satzungsleistung ein Probepäckchen von Herrn Grönemeyers „Mikrotherapie“ im Angebot (und führt ihm, nebenbei gesagt, damit direkt selbstzahlende Kundschaft zu).

    Sowohl der Leiter des Bundesversicherungsamtes (Jetzt: Bundesamt für Soziale Sicherung) als auch der Chef des AOK-Bundesverbandes haben sich längst dafür ausgesprochen, diesen Praktiken einen Riegel vorzuschieben.

    Allzu viele Kassenvorstände gebärden sich wie die Geschäftsführer eines Discounters, der ständig über Sonderangebote nachsinnt, vergessen dabei aber ihre Rolle als Teil des Solidarsystems „gesetzliche Krankenversicherung“, das nur sehr, sehr beschränkt ein „Markt“ ist (eigentlich gar keiner, weil die Regelleistungen überall gleich sind und eine Marktsituation nur „künstlich“ geschaffen wurde).

    Ich erinnere an die Geschäftsführerin einer BKK, die in einem Welt-Interview zum Besten gab, wenn es die Leute wünschen und der Gesetzgeber dies toleriere, würde sie auch Schokolade erstatten …

    Ich schrieb an anderer Stelle dazu:

    „Offenbar gerät tatsächlich in manchen Chefetagen von GKV-Kassen in Vergessenheit, dass man – bei aller Eigenständigkeit – Teil eines Solidarsystems ist. Anderen Kassen durch gezieltes Anwerben gutverdienender Klientel mittels Leistungen, die aus einer Reihe von Sachgründen nicht in ein KV-System gehören, das Wasser abzugraben, kann deshalb eigentlich im Grundsatz schon nur als eine Form der Kannibalisierung des Systems betrachtet werden.

    Man kann mit guten Gründen Verständnis dafür haben, dass die Politik den Weg zu einer Einheitskasse nicht in Erwagung zieht, wenn auch angesichts des grundsätzlich gleichen Leistungsspektrums Unterschiede (der “Wettbewerb”) nur über künstliche Eingriffe (wie das Spektrum der Satzungsleistungen) erreicht werden können. Als Wettbewerbsmittel aber unwirksame, der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung abträgliche Mittel und Methoden zuzulassen, geht zu weit.“

    https://keineahnungvongarnix.de/?p=7359

    Dieser Artikel befasst sich übrigens mit einer weiteren handverlesenen GKV-Kasse, der ich diese Aktion noch eher zugetraut hätte als der BKK ProVita.

    Um noch einmal auf das konkrete Ausgangsthema zurückzukommen:

    Die Mängel des Briefes an das PEI sind so offensichtlich, dass einem die Haare zu Berge stehen. Der „Mut“, so etwas ans PEI zu schicken, lässt manchen Rückschluss zu.

    Ich fühle mich dabei nicht nur an manche Homöopathiestudie erinnert, sondern auch an die beiden Veröffentlichungen von Walach et al. aus dem letzten Jahr (zu Schäden durch Maskentragen bei Kindern und zum fehlenden Nutzen der Covid-Impfung), die sich auf ähnliche Fehlleistungen stützten wie die „Erkenntnisse“ der BKK ProVita.

    Dazu kommt noch die Unbekümmertheit, mit der eine kleine BKK der weiltweiten Studienlage zu widersprechen sich anschickt …

    Sorry, ist ein Rant geworden.

  2. @Udo Endruscheit:

    Sorry, ist ein Rant geworden.

    Nur zu.

  3. @Udo Endruscheit

    Mir gefällt der Rant. Daumen hoch.

  4. „Heftige Kritik an Krankenkassenstatistik zu Impfreaktionen“:

    https://www.zeit.de/gesundheit/2022-02/corona-impfung-impfreaktionen-krankenkasse

  5. @Udo Endruscheit: „Die Vernunft kann sich mit größerer Wucht dem Bösen entgegenstellen, wenn der Zorn ihr dienstbar ist“.

    Ich bin dem Virchowbund, vor allem hinsichtlich der Wortwahl, für seine doch schnelle Reaktion sehr dankbar – auch wenn diese mir noch zu dezent erscheint, besteht doch Herrn Schöfbecks Argumentation darin, aus der Verwendung der Diagnoseschlüssel zwingend das Vorhandensein eines meldepflichtigen Sachverhalt abzuleiten, woraus dann genau so zwingend zu schlußfolgern ist, dass eine nicht ganz geringe Anzahl der niedergelassenen Ärzte ihrer gesetzlichen Meldepflicht nach § 6 (1) Satz 1 Nr. 3 IfSG nicht nachkommen – sonst dürfte es die Diskrepanz zwischen den Zahlen des PEI und den Zahlen der Krankenkasse nicht geben.

    „Meldung nicht, nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig“ abzugeben, ist gem. § 73 (1a) Nr. 2 IfSG eine mit einer Geldbuße bis zu 25.000 € bewehrte Ordnungswidrigkeit.

    Geht man mal davon aus, dass die Hochrechnung Schöfbecks Realität abbilden, würde sich hier, im Hinblick auf die Zahl der deutschen Hausarztpraxen (etwa 45.000), die vermutlich den größten Teil der Diagnosen gestellt haben – und ihrer Meldepflicht nicht nachgekommen sein sollen – bei Ausnutzung des gesetzlichen Rahmens eine mindestens zweistellige Milliardensumme an Ordnungsgeldern addieren, zumal man von systematischer Mißachtung gesetzlicher Bestimmungen auszugehen hätte, da, im Durchschnitt, jeder Hausarzt in rund 90 Fällen seiner Pflicht nicht nachgekommen wäre.

    Mir ist nicht ganz klar, ob der Herr Schöfbeck seinen „Brandbrief“ zwar aus ernsthafter Besorgnis heraus, aber ohne sich allzu viele Gedanken über die Folgen zu machen, verfasst hat – und damit nicht nur in Kauf genommen hat, so wichtige Maßnahmen wie die Impfprophylaxe zu beschädigen, sondern auch das Vertrauen in die Ärzteschaft zu untergraben.

    Sollte sich, womit zu rechnen ist, herausstellen, dass Schöfbecks Schreiben nichts anderes als billiger Alarmismus ist, wohlmöglich nur gedacht, eine entsprechende Klientel zu triggern, oder, noch bedenklicher, „peinliches Unwissen oder hinterlistige Täuschungsabsicht“ darstellen, wie der Virchowbund formuliert, wird der Verwaltungsrat der BKK ProVita hoffentlich die nötigen personellen Konsequenzen ziehen.

  6. In der Tat, wow. Dass der Verwaltungsrat der BKK-ProVita so rasch und konsequent reagiert, ist nicht zu erwarten gewesen. Auch wenn es nicht das Ende ist, weil Schöfbeck gegen die Entlassung mit ziemlicher Sicherheit klagen wird, die mehr als deutliche Botschaft bleibt.

  7. Pingback: Meldedaten und Studiendaten: Zum Streit um die Matthes-Studie – Gesundheits-Check

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