In der Schweiz implodiert der Verschwörungsmythos vom „satanistisch-rituellen Missbrauch“ – und erstmals tangieren die Enthüllungen dort auch die deutsche Szene der „Satanic Panic“-Protagonisten.
Nachdem in der vergangenen Woche die pseudotherapeutischen Umtriebe am Psychiatriezentrum Münsingen (Kanton Bern) bekannt wurden, steht jetzt die Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Clienia Littenheid AG im Fokus. Der Kanton Thurgau veröffentlichte gestern einen Untersuchungsbericht, der aufzeigt, dass
… vor allem einer der Ärzte [an dieser Klinik] ein besonderes Interesse am Thema rituelle Gewalt bis hin zu einer Faszination für satanistische rituelle Gewalt und Mind Control entwickelt und die Kultur der beiden Traumastationen beeinflusst hat.
Das Departement für Finanzen und Soziales habe aufgrund der Ergebnisse des Berichts gegen die Klinik aufsichtsrechtliche Maßnahmen eingeleitet, die sich an den Empfehlungen des Berichts orientieren. Zudem werde die Berufsausübungsbewilligung eines Arztes entzogen, ein disziplinarischer Verweis und diverse Bußen ausgesprochen. Außerdem seien verschiedene Strafanzeigen eingereicht worden, unter anderem gegen die Chefärztin und ärztliche Direktorin.
Die Klinik kündigte noch am selben Tag weitreichende Maßnahmen an. Einen TV-Beitrag gibt es hier.
Die Hintergründe:
Im Dezember 2021 berichtete der SRF-Journalist Robin Rehmann über eine „in der Schweiz kursierende Verschwörungserzählung“, nämlich die vom massenhaften, organisierten „satanistisch-rituellen Missbrauch“. Für den Beitrag interviewte Rebmann auch einen Oberarzt der Clienia Littenheid, der sich zutiefst überzeugt von diesem Konspirationsmythos zeigte und von „unvorstellbaren Gewalttaten […] und körperlichen Verletzungen mit allen nur vorstellbaren Instrumenten“ fabulierte:
Was wir aus dem Dritten Reich an Foltermethoden in den Konzentrationslagern kennen, wird alles dort angewendet. Das ist wie eine Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiß, sodass es sehr, sehr schwierig ist, dieser Menschen habhaft zu werden. Für einen Therapeuten ist es also schwierig, das zu entdecken.
Eine „Privatperson“ (laut Untersuchungsbericht) reichte daraufhin eine Aufsichtsbeschwerde gegen den Arzt und die Klinik beim Amt für Gesundheit des Kantons Thurgau ein. Zwei Wochen später stellte das Klinikum den Oberarzt frei und distanzierte sich öffentlich von dessen „persönlichen Aussagen“. Im April 2022 wurde der Psychiater entlassen.
Nach dem Jahreswechsel 20/21 förderte die Schweizer Wochenzeitung (WOZ) gravierende Fehlbehandlungen auf der Traumastation an der Clienia Littenheid zutage, die offenbar im Zusammenhang mit „vorgefassten Ideen […] zum Thema rituelle Gewalt und Programmierungen“ standen.
Das Departement für Finanzen und Soziales des Kantons ordnete im Frühjahr 2022 eine Administrativuntersuchung an. Federführend dabei waren die Züricher Anwaltskanzlei Lexperience sowie die renommierten psychologisch-psychiatrischen Experten Prof. Franz Caspar und Prof. Werner Strik.
In dem am Freitag vorgelegten Bericht heißt es, dass
… die Verschwörungserzählung „rituelle Gewalt/Mind Control“ in den Traumatherapie-Stationen der Klinik im untersuchten Zeitraum ein Thema war.
Die Verschwörungstheorie sei nicht nur in die Therapie eines einzelnen Arztes, sondern in weite Teile der Behandlungen in den Traumastationen eingeflossen. Das methodische Vorgehen bei einigen Patientinnen sei fachlich nicht korrekt und vermutlich sogar krankheitsfördernd gewesen. Es seien nicht evidenzbasierte Methoden angewendet worden, die auf dem Glaubensbekenntnis beruhten, dass satanistische rituelle Gewalt in der Schweiz existiere.
Aus deutscher Sicht wird der Untersuchungsbericht ab Seite 13 so richtig interessant.
Da geht es nämlich um die Bremer Traumatherapeutin Claudia Fliß, Koautorin eines „Handbuchs Rituelle Gewalt“ und laut WOZ „eine der dogmatischsten Verfechter:innen der Mind-Control-Theorie“.
Fliß hielt im August 2021 einen Workshop für die beiden Traumatherapie-Stationen an der Clienia Littenheid ab. Der Inhalt ihrer Präsentation, wie er auf Seite 14 des Berichts wiedergegeben wird, spiegelt praktisch das komplette Narrativ der „Satanic Panic“ wider.
Die Beurteilung dieser „Fortbildungs“-Veranstaltung durch die beiden Gutachter fällt verheerend aus.
Prof. Caspar schreibt, „sehr unplausible und nicht belegte Theorien“ würden dabei als Fakten dargestellt:
Es sei anzunehmen, dass Behandler, welche diese Theorien übernehmen würden, sehr leicht Gefahr laufen, bei Patientinnen „false memories“ zu erzeugen, welche für die Patientinnen zusätzlich zu dem, was sie wirklich erlebt hätten, eine unnötige Belastung und dadurch zusätzliches Leiden schaffen könnten.
Das könne auch für Angehörige, vor allem wenn sie als Täterinnen beschuldigt werden, und auch für Krankenkassen zusätzliche Belastungen schaffen. Auch vermeintlich nötige Maßnahmen zum Schutz vor erneutem Täterkontakt seien mit dem Risiko verbunden, unverhältnismäßig (da unnötig) und belastend zu sein.
Prof. Strik spricht von einer „esoterischen Parallelwelt“ und „grobem Unfug“:
Fliß benutze in ihrem Vortrag den Jargon einer kleinen Gruppe gleichgesinnter Therapeuten, die sich in einem geschlossenen Kommunikationssystem untereinander austauschen, bestätigen und zitieren. Der fehlende Bezug auf aktuell verfügbares Wissen über Gedächtnisfunktionen und organisierte Kriminalität fördere zudem „eine mystische statt einer wissenschaftlichen Wahrnehmung von Traumatisierungen und der Entstehung von Folgestörungen“.
Bei interessierten Fortbildungskandidaten und Patientinnen werde so das Faszinosum einer Geheimlehre generiert, die scheinbar über den Erkenntnissen der Wissenschaft und der Kontrolle der Justiz stehe.
Klarer ist die faktenfreie Hybris jener „kleinen Gruppe gleichgesinnter Therapeuten“ in Deutschland selten benannt worden.
Lesenswert sind auch die „Aussagen von Hinweisgeberinnen“ ab Seite 23, zum Beispiel:
Fliß habe erzählt, dass es seit Jahrtausenden okkulte Gruppen gebe, die Kinder programmieren und die hierarchisch strukturiert seien. Die Programmierer trügen graue Anzüge und kämen im Porsche vorgefahren.
Auf ihrer Homepage annonciert Fliß derweil schon die nächsten Fortbildungen zum Thema „Rituelle Gewalt“:
Ernsthaft, NIVT?
Update vom 8. September 2023
Die Clienia Littenheid AG hat in der Folge einen externen, unabhängigen Gutachter beauftragt, 422 Patientenakten von Patientinnen und Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS) zu überprüfen. Das Gutachten ergab bei 43 von 422 untersuchten Krankenakten der Traumastationen gravierende Hinweise auf Verschwörungserzählungen, bei 188 weiteren gab es angedeutete Hinweise.
Das Gutachten steht hier zum Download bereit.
Zum Weiterlesen:
- Satanistische Verschwörungen: Strafanzeigen im Fall Littenheid, SRF am 2. Dezember 2022
- Kanton greift bei Psychiatrischer Klinik durch wegen Verschwörungstheorien, 20min.ch am 2. Dezember 2022
- Satanistische Verschwörungstheorien in Littenheid? Jetzt ergreift der Kanton Thurgau aufsichtsrechtliche Massnahmen gegen die Clienia, Appenzeller Zeitung am 2. Dezember 2022
- Bericht bestätigt Vorfälle in Clienia Littenheid, SRF am 2. Dezember 2022
- Video: Die „Satanic Panic“ hat jetzt die Schweiz erreicht, GWUP-Blog am 15. Dezember 2021
- „Sektenhafte Züge“: Kritische Doku über die Satanic Panic in der Schweiz zieht weiter Kreise, GWUP-Blog am 26. Februar 2022
- Satanic Panic: Der Teufel im Therapiezimmer, WOZ am 24. Februar 2022
- Unfassbar: Drei Suizide von Patientinnen an psychiatrischer Klinik wegen „Satanic Panic“? GWUP-Blog am 24. November 2022
- Was man aus der Schweizer Klinik lernen muss, dissoziationen am 28. November 2022
- Gutachten beweist: Satanic Panic ist eine Verschwörung, dissoziationen am 3. Dezember 2022
- Frank Urbaniok: Ein Untersuchungsbericht als Meilenstein für die Aufarbeitung in der Schweiz
3. Dezember 2022 um 08:57
Claudia Fliß: „Sie verfügt über den Titel der Biosynthese-Supervisorin.“
(https://www.claudia-fliss.de/Vita/)
Biosynthese: „In ihrem naturwissenschaftlichen Konzept bezieht sich die Biosynthese u .a. auf die Erkenntnisse des Quantenphysikers David Bohm zur Soma-Signifikanz und des Biologen Rupert Sheldrake zu den morphogenetischen Feldern (…)“.
(http://www.biosynthesis.org/html/wasistbios.html)
Der Glaube an unwirkliche Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit ist oft ganzheitlicher Natur.
3. Dezember 2022 um 10:21
Ich hoffe sehr, dass die Redaktionen u.a. von taz und ZEIT das zur Kenntnis nehmen und künftig kritisch und fundiert darüber berichten, waren doch in beiden Zeitungen höchst fragwürdige, einseitige Texte erschienen. Für die Spektrum-Redaktion gilt Gleiches.
3. Dezember 2022 um 18:36
Claudia Fliß wird auch von der/den Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten als Quelle angegeben.
Siehe Abschnitt „Rituelle Gewalt“ auf https://beauftragte-missbrauch.de/service/literatur
Sehr spannend, was alles vom Familienministerium gefördert wird :-)
Vielen Dank für den lesenswerten Artikel!
3. Dezember 2022 um 22:02
Die „Vertuscher“ verlinken und finanzieren ihre eigenen „Aufklärer“. Perfide.
@Magda Eckstein
Ist es nicht möglich, die (genannten) Redaktionen darauf hinzuweisen?
4. Dezember 2022 um 05:26
@Carsten Ramsel:
Ist möglich, ich hoffe, dass die „richtigen Leute“ die Mails lesen.
4. Dezember 2022 um 12:35
Der Untersuchungsbericht liegt nun vor und ist ein erster Meilenstein. Ich bin froh, dass damit endlich einmal die Probleme in einem Bericht festgestellt worden sind und Empfehlungen für die Aufarbeitung der jahrelangen Fehler und Missstände gemacht wurden.
https://www.frankurbaniok.com/post/die-dunkle-seite-der-psychologie
4. Dezember 2022 um 19:05
Dazu:
https://dissoziationen.de/2022/12/03/gutachten-beweist-satanic-panic-ist-eine-verschwoerung/
Pingback: Gutachten beweist: Satanic Panic ist eine Verschwörung - Debunking SRA
7. Dezember 2022 um 10:13
Wie es aussieht, hüllen sich alle, die für das Thema zuständig sind, in Deutschland in Schweigen. Sie wollen es aussitzen. Nirgendwo ein Vermerk, dass man sich damit befassen wird.
Ich denke mal, dass wir mit Hilfe des Gutachtens anfangen werden, bestimmte Institutionen und Stellen anzuschreiben. Auf keinen Fall werde ich abwarten, bis das Thema wieder im Sande verläuft, damit die Treiber weiter machen können, wie eh und je.
Ich bin noch immer überwältigt von diesem Meilenstein und ich bin allen dankbar (inklusive Nora), die sich damit unmittelbar und zeitnah befassen konnten. Ich selbst war völlig platt.
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Ich habe nun das verfasst, was mich persönlich antreibt. Angefangen vom Video im Mai von Frank Urbaniok bis hin zu dem Gutachten jetzt wurde in mir ganz viel frei gesetzt:
https://dissoziationen.de/news/vorwort/
Ich werde einigen von der GWUP das Passwort vom Bericht die Tage zusenden. Es kann gerne an Personen weiter gegeben werden, die vertraut sind. Muss aber natürlich nicht. Es ist nicht Euer, sondern im Grunde einzig MEIN Thema, was ich für mich persönlich klären musste und muss.
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Was ich als nächstes tun möchte:
Ich möchte an Hand einer historischen Skizze beweisen (so weit wie möglich) dass es die Dissoziative Identitätsstörung, wie sie in Verschwörungskreisen publiziert wird, nicht gibt. Ich werde beweisen, dass das Gesicht der Dissoziativen Identitätsstörung – identisch mit der Hysterie – wandelbar ist.
Um Veith zu zitieren, der das Folgende über die Hysterie schrieb:
„… mit Ausnahme der Tatsache, dass sie [die Hysterie] eine funktionelle Störung ohne begleitende organisch-pathologische Veränderungen ist, gelingt es nicht, sie zu definieren oder sie konkret zu porträtieren. Wie ein Quecksilberkügelchen lässt sie sich nicht fangen. Wo immer sie auftaucht, übernimmt sie die Färbung der umgebenden Kultur und der Sitten; und somit zeigt sie sich im Laufe der Jahrhunderte als ein ständig sich verstellendes, sich veränderndes, im Nebel verhülltes Phänomen, welches trotzdem so behandelt wird, wie wenn es definierbar und greifbar wäre.“ (Veith 1965, S. 1)
Laut Mentzos Stravros (Hysterie-Forscher) gibt es in der Hysterie drei komplexe Phänomene:
1. Körperlichen Funktionsstörungen
2. Psychische Funktionsstörungen
3. Hysterische Verhaltensmuster und hysterische Charakterzüge
Die Dissoziative Identitätsstörung (Ich-Spaltung) gehört – neben vielen anderen Symptomen – zu den hysterisch-psychischen Funktionsstörungen. Und natürlich zeigen auch fast alle Betroffenen Konversions-Symptome (Punkt 1) und Verhaltensauffälligkeiten (Punkt 3)
Ein großes Thema, was mir persönlich genauso am Herzen liegt, wie die Satanic Panic und die malignen Regression, weil all das (und natürlich noch viel mehr) Bestandteil der heutigen hysterischen Kultur ist.
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Von Nora liebe Grüße, sie sagt allen danke!
8. September 2023 um 12:08
Artikel vom 08.09.2023,
KLINIK LITTENHEID – «Das Ausmass macht uns tief betroffen»: Gutachter findet in dutzenden Patientenakten «gravierende» Hinweise auf satanistische Verschwörungserzählungen
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/klinik-littenheid-das-ausmass-macht-uns-tief-betroffen-gutachter-findet-in-dutzenden-patientenakten-gravierende-hinweise-auf-satanistische-verschwoerungserzaehlungen-ld.2511482
12. September 2023 um 10:25
https://www.thurgauerzeitung.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/satanic-panic-klinik-soll-hinweise-ignoriert-haben-ein-psychiater-ueber-verschwoerungstheorien-und-falsche-diagnosen-in-littenheid-ld.2512476?reduced=true
Sind Sie von den Ergebnissen des Gutachtens überrascht?
Frank Urbaniok: Ich bin seit zwei Jahren tief in dieser sehr vielschichtigen Thematik drin und war am Anfang überrascht vom Ausmass. Mittlerweile aber nicht mehr – es hat sich abgezeichnet, dass das Problem auch in Littenheid umfassend ist.
Wie kann sich eine Verschwörungserzählung wie jene des rituellen satanistischen Missbrauchs derart etablieren?
So wie unser Gehirn evolutionär gestrickt ist, besteht die Tendenz, dass gefühlte Wahrheiten eine Eigendynamik annehmen und die Realität verdrängen können. Es entstehen falsche Theorien, die gegen Fakten immun sind. Manche Menschen sind hierfür anfällig, andere weniger. 50 Prozent der amerikanischen und 30 Prozent der europäischen Bevölkerung neigen dazu, solche Theorien auf Gedeih und Verderb zu verteidigen.
Und wie schafft es eine solche Theorie in die Psychiatrie?
Die Psychiatrie ist mit ihrem Denkmodell des Unbewussten besonders anfällig: Wenn ein Therapeut vermeintlich das Unbewusste seiner Patientin kennt, weiss er aus ihrer Sicht Dinge, die sie gar nicht wissen kann. So kann er etwas in sie hineinprojizieren, das sie nicht hinterfragt, weil er der Therapeut ist und es wohl wissen wird.
Erst recht, wenn die Patientin eine dissoziative Identitätsstörung hat?
Die DIS ist das doppelte Einfallstor für diese Problematik. Wenn der Therapeut seiner Patientin erzählt, sie habe Persönlichkeitsanteile, von der sie nichts weiss, ist es für ihn umso einfacher, ihr seine Überzeugungen überzustülpen.
12. September 2023 um 11:55
Bezieht man auch die Fälle mit ein, wo nur „leichte“ verschwörungstheoretische Anteile erkennbar sind, ist von bis zu 50% Fehltherapie auszugehen … das finde ich so krass.
Wie weit bei uns dieser Murks verbreitet ist kann man ja aktuell wieder merken.
So langsam kann ich nachvollziehen, warum manche gegenüber der Diagnose DIS kritisch sind. In einem Video der Techniker wird die DIS fast schon „romantisch“ dargestellt:
https://www.youtube.com/watch?v=qcm2BJb8Okk
Auf Nachfrage, warum bei den Teilnehmern die Anteile so gut miteinander kommunizieren können und voneinander wissen, kam folgende Antwort:
„@technikerkrankenkasse
Es hat leider aufgrund des Urlaubs von Dr. Wirtz so lange gedauert bis wir eine entsprechende Antwort bekommen haben. Aber hier die entsprechende Antwort: Die Situation betroffener Menschen ist sehr unterschiedlich: Manche betroffene hören Stimmen, die dann im Sinne innere Dialoge verstanden werden können, manche nicht. Manche Betroffene können über Stimmen/innere Dialoge sehr frei sprechen, viele aber auch nicht. Ebenso ist die Amnesie für dissoziierte Persönlichkeitsanteile unterschiedlich ausgeprägt, so besteht bei manchen Betroffenen eine vollständige Amnesie für dissoziierte Persönlichkeitsanteile, während diese Amnesie bei anderen nicht vollständig ist (vor allem bei der pDIS). Nach der Diagnosestellung einer DIS ist ein wichtiger Schritt eine innere Kommunikation herzustellen, um ein sicheres Verhalten im Alltag zu unterstützen. Innere Kommunikation kann dann teilweise dialogisch erfolgen, oft ist aber auch der Einsatz schriftlicher Kommunikation sinnvoll und notwendig, beides kann auch parallel laufen.“
Auf den ersten Blick ist es für mich stimmig zu dem, was im ICD-11 steht. Wobei Dr. Wirtz wohl auch schon seinen Ruf weg haben dürfte.
Alles kann und nichts muss – wie will man das vernünftig in einer Differentialdiagnose berücksichtigen, ohne es an Willkür grenzen zu lassen?
12. September 2023 um 14:43
@Sebastian:
So langsam kann ich nachvollziehen, warum manche gegenüber der Diagnose DIS kritisch sind.
Auch Herr Urbaniok mittlerweile:
Die DIS ist hip und gnadenlos überdiagnostiziert. Vor zwei Jahren habe ich noch die Position vertreten, dass sie in seltenen Fällen als Überlebensmechanismus bei Traumata vorkommt. Mittlerweile frage ich mich, ob es die DIS als Diagnose überhaupt geben sollte.
Woher kommen die Zweifel?
In allen Fällen, die ich kenne, war die DIS falsch diagnostiziert. Ich habe selbst Patientinnen und Patienten, die rückblickend sagen, sie hätten sich etwas einreden lassen. Das einzige Argument jener, die nicht an der DIS zweifeln, ist der Fakt, dass sie so oft diagnostiziert wird. Dabei mehren sich für mich die Hinweise, dass das ganze Konstrukt problematisch und erfunden ist.
12. September 2023 um 15:56
@Bernd Harder
Dazu passend ein Auszug/Preview aus einer FAQ, an der ich mich gerade versuche …
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Zudem scheint selbst die DeGPT (Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie) eine gewisse Problematik in diesem Bereich zu sehen. So steht im Annex 1 – organisierte und rituelle Gewalt:
“Zu einer fachlich fundierten Diagnostik gehört auch das Erkennen von einzelnen Personen, die sich ein Narrativ von „organisierter und ritueller Gewalt“ oder von der Dissoziativen Identitätsstörung zu eigen machen, ohne die entsprechenden Symptome und Gewalterfahrungen zu haben.” (Seite 4)
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Quelle: Annex 1 – organisierte und rituelle Gewalt
https://www.degpt.de/archiv/upload/DeGPT-Dateien/QA%20Psychotraumatologie_annex1.pdf
Da wären wir auch ein wenig wieder bei der Diskussion zum Konsens.
Wenn zugunsten der Diagnose DIS auf eine Differentialdiagnostik zur Schizophrenie verzichtet würde, verliert man eventuell die Möglichkeit das Problem mit Antipsychotika in den Griff zu bekommen.
Besonders bei den ganzen „Traumaberater*innen“ kann ich mir nur schwer vorstellen, dass die andere Symptome ausschließen und die Menschen zum Arzt schicken um auch wirklich alles abzuklären.
Wenn ich ICD-11 richtig verstehe, haben die Symptome einen aufdrängenden Charakter, was auch für das Hören von Stimmen gelten soll. Inwieweit ist das noch gegeben, wenn man sich bewusst mit Persönlichkeitsanteilen unterhält … finde ich doch sehr zweifelhaft.
12. September 2023 um 21:13
Ich bin keine Expertin für DIS, aber trotzdem my 2 cents:
Die DIS ist eine seltene Erkrankung. Es müsste eigentlich mehr Forschung zur Psychopathogenese und dem Erscheinungsbild folgen. Aber dadurch, dass sie so selten ist, ist es bestimmt auch verglichen mit anderen häufigen psychischen Erkrankungen eher ein wissenschaftliches Nischenthema.
Betrachtet man auch die aktuelle Diskussion um den ideologischen Überbau bei der Diagnostik und diesem „Faszinationselement“ ergeben sich daraus sicherlich auch weitere Probleme bei einer objektiven Forschung. Deswegen ist die Diskussion darüber meiner MEinung nach nichts, was der Wissenschaft schadet, eher im Gegenteil.
Zum Thema Stimmenhören: dieses wird öfter fälschlicherweise gleichgesetzt mit Schizophrenie. Eine Schizophrenie hat jedoch relativ klar umfasste Diagnosekriterien, die weit über reine akustische Halluzinationen hinausgehen. Zudem kommt in vielen anderen Erkrankungen Stimmenhören vor, so zum Beispiel bei einer PTBS, schweren Depressionen, Borderline Störungen…dass es jedoch hierbei Fehldiagnosen geben kann ist leider auch traurige Wahrheit.
Also liegt meiner persönlichen Meinung nach wieder die Problematik in der korrekten Diagnostik und die ist, wie gesagt, schwierig, eben weil die Diagnose selten ist, die Mechanismen schwierig zu präzisieren, die Diagnostikkriterien deswegen auch eher verkürzt und tatsächlich bräuchte es dann mehr Forschung, Präzisierung oder Beschreibung des Krankheitsbildes und Behandlungsleitlinien. Da hilft aber auch der satanische Kontext wenig.
Zum Thema „Mind-Control“ und emotionale Manipulation und (organisierte) Gewaltstrukturen kann man auch sich erstmal den Wikipedia Artikel zu Traumabindung zu Gemüte führen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Traumabindung
Das hat aber mit „Programmierung“ im Sinne der satanistisch rituellen Gewalt nicht viel zu tun. Hierbei geht es um komplexe emotionale und Bindungsvorgänge, nicht um pawlowsche Konditionierung.
19. Dezember 2024 um 11:10
Nach satanistischen Verschwörungstheorien in Littenheid schließt der Kanton Thurgau seine Untersuchung ab
https://www.thurgauerzeitung.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/satanic-panic-mustergueltig-aufgearbeitet-nach-satanistischen-verschwoerungstheorien-in-littenheid-schliesst-der-kanton-thurgau-seine-untersuchung-ab-ld.2713318