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Impfgegner, Corona-Leugner und Radikalisierung: Die Wut wächst – auf allen Seiten

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Welt-Online zeigt sich besorgt über die Radikalisierung der Corona-Leugner und ruft dazu auf, dieser Entwicklung „auf allen Ebenen, in allen Ausformungen [entgegenzutreten]: im Internet, bei Familienfeiern, in der Schlange vor der Supermarktkasse“.

Aber wie? Und wie verläuft überhaupt eine Radikalisierung?

Zu dieser Frage sind in den vergangenen Wochen wieder einige Artikel erschienen, die partiell Einblicke in die Befindlichkeiten von „Querdenkern“ und Verschwörungsgläubigen geben.

Das Online-Magazin Republik porträtiert den Schweizer „Freiheitskämpfer“ Nicolas Rimoldi, der von einem Volksaufstand gegen die „faschistischen Zwangsmaßnahmen“ träumt:

Die Autoren sehen in Rimoldis Radikalisierung „weniger aufopfernde Selbst­losigkeit als Narzissmus“:

„Seine Meinungen sind eigentlich irrelevant. Er orientiert sich danach, was am meisten Aufmerksamkeit generiert“, sagt ein ehemaliger politischer Weggefährte aus Luzern […]

Je länger die Pandemie dauert, desto schriller wird Rimoldis Ton – als wolle er damit, so ein ehemaliger Jungfreisinn-Weggefährte, gegen den drohenden Bedeutungs­verlust antreten. Gegen das drohende Nichts, in das er sich selbst manövriert habe, wenn die Pandemie vorbei sei.

In der Tat sind zwei internationale Forschungsteams unabhängig voneinander zu dem Ergebnis gekommen, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen mit dem tief verankerten Wunsch nach Einzigartigkeit zusammenhängt, schreiben Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem Buch „Fake Facts“. Für Menschen, die sich gerne besonders und einzigartig fühlen wollen und auch bewusst „gegen den Strom schwimmen“ möchten, seien solche Ideen besonders attraktiv.

Das ist – nach Lamberty/Nocun – einer von zwei Hauptgründen, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben.

Der zweite: Kontrollverlust, „beispielsweise, wenn sie den Job verlieren oder das Gefühl haben, politisch unsichere Zeiten zu erleben“.

Das wird bei der Spurensuche der Süddeutschen Zeitung in Idar-Oberstein deutlich:

In seiner Vernehmung sagt Mario N.: Er habe sich seit 2015 nicht mehr sicher gefühlt in Deutschland. Das ist das Jahr, in dem im Stadtteil Oberstein einige leer stehende Wohnungen neue Bewohner bekamen, Flüchtlinge aus dem Nahen Osten wurden einquartiert […]

Mario N. beginnt spätestens 2015 abzudriften, davon gehen die Ermittler aus. Bei Twitter nennt er sich „Twinturbo206“, schreibt hin und wieder Kommentare wie: Europa sei dekadent geworden, „die momentane Situation wird im Krieg enden“ […]

Da verliert einer der Beamten der Mordkommission Trier, die ihn vernehmen, die Geduld, er geht dazwischen. Was denn bitte Alexander W. damit zu tun habe, der Student [der als Kassierer an der Tankstelle arbeitete], der trage doch keine Verantwortung für die Regeln zur Bekämpfung dieser Pandemie.

Mario N. antwortet: „Es ist doch so: Jeder trägt Mitverantwortung, der diesen Kram mitmacht.“

Allerdings bleibt die 70-minütige Vernehmung nach seiner Festnahe am 19. September vorerst der einzige tiefere Einblick in die Gedankenwelt des 49-Jährigen.

Zeit-Online erzählt die Geschichte von Harry, einem ehemaligen „Querdenker“, und dessen Kumpel Dieter, der ihn schließlich ins Zweifeln brachte.

Zunächst ist Harrys Biografie untypisch, da er suchtkrank (polytoximan) und bioplar war. Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist in der Regel aber kein Produkt einer gestörten Psyche, schreiben Lamberty/Nocun.

Zwar bezeichnet Harry selbst sein „Querdenken“ zunächst als „Suchtersatz“:

Querdenken, das ist für Harry ein Kick. Sein Leben ab dem Sommer 2020 kennt Hochs: die Demos, den Kampf, Bambule machen. Dann hat er so viel Energie, er kann es gar nicht glauben.

Im Verlauf des Artikels wird indes deutlich, dass es ganz andere Gründe waren, die ihn in den Verschwörungsglauben trieben:

Und das begann folgendermaßen:

Harrys Situation im Jahr 2020 muss man sich so vorstellen:

Erwerbsunfähig, viel Zeit, andauernd Streit mit seiner Frau. Er muss seinem Leben Struktur geben: Da ist die Selbsthilfegruppe, ein monatlicher Termin beim Psychiater, da sind die Treffen mit Freunden, da ist der Schützenverein, gelegentlich hilft er Kumpels bei Computerproblemen, Harry hat IT-Fachmann gelernt.

In diese mühsam selbst gezimmerte Ordnung schlägt die Pandemie ein. Als er im Fernsehen einen Bericht über den Corona-Ausbruch beim Automobilzulieferer Webasto sieht, denkt er: „Was ist denn das für ein Scheiß?“

Als er davon hört, dass das Virus vielleicht durch Zoogenese von Wildtieren auf den Menschen übersprang, sagt er sich: „Von Viechern! Ihr seid wohl ned ganz knusper da oben!“

Er ist ein trotziger Junge, der auf den Boden stampft: Das mag ich nicht! Das gibt’s nicht!

Komplexitätsreduktion, Selbstaufwertung und Entlastung durch Sündenböcke – das sind genau die Gründe, die Psychologen seit langem als Ursache für den Glauben an Verschwörungstheorien identifiziert haben.

Harry Freund Dieter bestätigt das:

Und wie Dieter seinen Kumpel Harry Stück für Stück aus dem Sumpf zog, ist nahezu identisch mit dem, was uns der Verschwörungsaussteiger „Ascendancer“ im neuen Skeptiker (4/2021) sagt:

Ich glaube, viele Leute, die einen Verschwörungsgläubigen in ihrem Umfeld erleben und sich darüber Sorgen machen, versuchen etwas zu tun. Aber meistens mit der Vorstellung, dass man diesem Menschen einfach nur mal in einem langen Gespräch alle Fakten erklären muss. Und dann ist es gut. Das funktioniert aber nicht.

Wenn ich so zurückdenke: Von 100 Leuten, die mit mir über meine Verschwörungstheorien geredet haben, sind vielleicht fünf partiell durchgedrungen und haben einen Treffer erzielt, der mich zum Nachdenken brachte.

Und das nicht mit Fakten, sondern mit ehrlichem Interesse und Fragen wie „Warum glaubst du das?“ oder „Wieso ist das wichtig für dich?“ Es sind diese kleinen Nadelstiche, die etwas bewirken – nicht das große, vermeintlich klärende Gespräch.

Genau so ist Dieter vorgegangen:

„Ich wusste, dass so etwas nicht von heute auf morgen heilen kann. Ich habe mir klargemacht: Dieter, du brauchst Geduld mit dem Harry.“ Das heißt für ihn erst mal: Zuhören. Zuhören. Zuhören.

Und hin und wieder ein kleines sachliches Argument, ein Stupser in eine andere Richtung, eine andere Perspektive auf die Dinge.

Der Zeit-Artikel endet damit, dass Harry sich gegen Corona impfen lässt:

Harry war Querdenker und hat mühsam gelernt, wieder geradeauszudenken. Wenn er es geschafft hat, schaffen es auch andere. Nicht jeder hat einen Dieter an seiner Seite. Aber wenn man Harry fragt, was er Freunden und Angehörigen von Querdenkern rät, sagt er: Verurteilt sie nicht. Gebt sie nicht auf. Steht zu ihnen, egal, was passiert.

Und redet nicht nur über Corona. Es gibt so schöne Dinge im Leben.

Wie schwierig das ist, berichten vier junge Erwachsene bei Zeit Campus:

Da heißt es zum Beispiel:

Ronja: Meine Mutter hat sich schon immer für Homöopathie interessiert, ich wurde als Kind nie geimpft. Ganz am Anfang der Pandemie schrieb sie mir aber noch, dass sie Angst vor dem Virus habe und ich bitte zu Hause bleiben solle, um mich nicht anzustecken.

Nach Ausbruch der Pandemie hat sie einen neuen Job bei einer Heilpraktikervereinigung angefangen. Dort herrscht die Meinung, dass Corona wie eine Grippe sei. Mit gutem Immunsystem brauche man keine Maske zu tragen. Wie gesagt, meine Mutter war der Schulmedizin gegenüber immer kritisch eingestellt, aber das macht einen ja noch lange nicht zur Querdenkerin.

Dieser Job in einem radikalisierten Umfeld hat sie beeinflusst.

Oder:

Melanie: Meine Mutter hat zu Beginn der Pandemie gerade eine langjährige Beziehung beendet. Plötzlich hat sie das erste Mal als erwachsene Frau allein gelebt. Dann wurde sie auch noch arbeitslos. Sie hatte in der Veranstaltungsbranche gearbeitet.

Ihre neue Lebensaufgabe bestand dann darin, sich diese Videos anzuschauen. Und durch die querdenkende Freundin und die Menschen auf den Demos hatte sie plötzlich eine neue, kleine Community.

Das unterstreicht, dass es keine genuine „Verschwörungspersönlichkeit“ gibt, sondern die aktuellen Lebensumstände die größte Rolle spielen.

Und wie es dann – sehr wahrscheinlich – weitergeht, haben wir hier im Blog auch schon vorausgesagt:

Umgekehrt scheint sich aber auch die Klimabewegung zu radikalisieren.

Und es wächst die „Wut auf Ungeimpfte“, wie zwei weitere Zeit-Artikel zeigen:

Natürlich darf man wütend sein auf die, die sich der Vernunft und der Aufklärung verweigern, die uns alle in eine unangenehme Situation katapultieren.

Aber:

Wenn man einmal wütend sei, sagt [die Psychiaterin Heidi] Kastner, sei es nicht so einfach, wieder zur Vernunft zu kommen. Denn Gefühle sind stärker als Gedanken und statistische Wahrheiten, sie drängen sich in den Vordergrund. Wut sei ein besonders präsentes Gefühl: Wer wütend ist, kann weder klar denken noch nebenher etwas anderes fühlen.

Abwägen, differenzieren, Dinge hinnehmen ist anstrengend. Je länger die Pandemie andauert, desto verlockender erscheinen einfache Wege. So ein Weg ist die Wut. Und immerhin, wer wütend ist, fühlt überhaupt noch etwas, hat noch nicht resigniert.

Auch ein anonymisierter Intensivmediziner berichtet von seinem Unverständnis gegenüber einem ungeimpften (und mittlerweile gestorbenen) Patienten, schränkt aber ein:

Den ersten Punkt werden Sie leugnen, aber ich bin mir sicher, dass Sie bezüglich Ihrer Impfentscheidung falsch beraten worden sind und falsche Schlüsse gezogen haben. Dieser Punkt bestärkt mich in meiner Haltung, dass man im persönlichen Gespräch überzeugen kann und mit mehr Menschen darüber sprechen sollte, wie sie zu ihren Urteilen kommen.

Der zweite Punkt hängt mit dem ersten zusammen und verstärkt diesen. Ich glaube, Herr M., dass Sie sich von der Politik, von der Gesellschaft und von vielen nicht mehr mitgenommen gefühlt haben. Der Common Sense unserer Gesellschaft über diese Pandemie und den Umgang mit ihr, der ist weg.

Statt gemeinsam gegen Covid kämpfen wir mit Covid gegeneinander.

Aber was folgt daraus?

Eindeutig kann das derzeit wohl niemand beantworten. Naheliegend scheinen erst mal zwei parallele Szenarien zu sein:

Aber: Radikale Impfgegner und Verschwörungsgläubige zurückzuholen, sei

… für die Gesellschaft schwer. „Da ist es dann wichtiger, eine klare Linie zu ziehen.“

Zum Weiterlesen:

  • Sozialpsychologin Lamberty: Impfgegner-Szene hat sich „radikalisiert“, zdf am 4. Dezember 2021
  • Sorge um Radikalisierung von Querdenkern bei Impfpflicht, Zeit-Online am 7. Dezember 2021
  • Innenminister warnen vor weiterer Radikalisierung der Corona-Proteste, rnd am 7. Dezember 2021
  • Querdenker-Proteste : Latent gewaltbereit, FAZ am 5. Dezember 2021
  • Wenn die Wut in die Provinz wandert, tagesspiegel am 5. Dezember 2021
  • Radikalisierung von Corona-Leugnern – Und hinterher wird wieder gefragt: Wie konnte das passieren? Welt+ am 6. Dezember 2021
  • Nicolas A. Rimoldi gefällt das, republik.ch am 17. September 2021
  • Idar-Oberstein: Bis es knallt, Süddeutsche am 23. November 2021
  • Querdenker-Aussteiger: Da wächst ein Pflänzlein, Zeit+ am 11. November 2021
  • Querdenker in der Familie: „Ich habe mir nicht ausgesucht, dass meine Eltern durchdrehen“, Zeit+ am 9. November 2021
  • Wut auf Ungeimpfte: Meine innere Radikalisierung, Zeit+ am 4. Dezember 2021
  • Intensivmediziner: Ich war wütend auf Sie, Herr M., Zeit+ am 5. Dezember 2021
  • Verschwörungstheorien und Radikalisierung: Die Motive der Leugner, Dtsch Arztebl 2021; 118(25): A-1257 / B-1038
  • „Epistemische Laster“ machen anfällig für den Glauben an Verschwörungstheorien, GWUP-Blog am 18. Juli 2021
  • Wie Herr Reimann zum Verschwörungsgläubigen wurde, GWUP-Blog am 25. November 2020
  • Mit Verschwörungsgläubigen reden: Street Epistemology, GWUP-Blog am 5. Dezember 2021
  • Die fatale Nachsicht mit der „Mobilisierung der Irrationalität“, GWUP-Blog am 4. Dezember 2021
  • Kampf gegen ein feindliches System: Die Radikalisierung von „Querdenkern“, Impfgegnern und Verschwörungsgläubigen, GWUP-Blog am 7. Oktober 2021
  • Nach „Corona-„Querdenkern“ die Klima-„Querdenker“? GWUP-Blog am 26. Mai 2021

14 Kommentare

  1. dabei könnte es doch so einfach sein die Impfgegner zu „88 % Impfquote“ zu bringen:

    ACHTUNG SPASSVIDEO gegen RECHTS/Antiimpf:

    https://www.youtube.com/watch?v=ZazRLzbnRh0

    zumindest in Unterhinteracker :-)

  2. Von beiden Seiten in der Zange

    Der deutsche Rechtsextremismus – insbesondere in Form der AfD – nutzt soweit wie möglich das emotionale Chaos, mit dem die Corona-Naturkatastrophe die AfD beschenkt. Dabei wird das Augenmerk allgemein etwas einseitig auf die positiven staatlichen Schutzmaßnahmen gelegt. Ich halte aber die Unterstellung für angemessen, dass die Rechtsextremisten in all der pandemischen Zeit jede Gelegenheit aufgegriffen hätten, einen nur irgendwie vorstellbaren Vorwurf wegen zu geringer Schutzmaßnahmen nach Kräften zu skandalisieren.

    Dann könnte man den Querdenk-Mob auf der Straße schreien lassen „Merkel lässt die Deutschen sterben“ / „Andere Länder beschützen ihr Volk, Deutschland lässt es sterben“ etc. Tatsächlich hatte ja in den ersten Wochen der Pandemie die AfD begonnen, sich genau in diese Richtung einzuschießen.

    In der gesellschaftspolitischen Diskussion sollte m. E. diese Zangentaktik der AfD stärker thematisiert werden. Es geht ja ausschließlich um den Angriff auf lösungsorientierte Politik und Demokratie.

  3. @peter

    danke, sie können sehr schön meine Gedanken in Worte fassen!

  4. @do

    Danke, freut mich!

  5. Also ich muss gestehen, Hofreiter war mir eigentlich noch nie so sympathisch wie in diesem kurzen Ausschnitt im Bundestag.
    (soll heißen er war mir bisher überhaupt nicht sympathisch, aber wer sich so eindeutig gegen Rechts positioniert Hut ab!!!)

    Passt genau zu Peter Friedrichs Ausführungen (und gehört stärker thematisiert):

    https://www.youtube.com/watch?v=0zinqR_KhPA

    Wenn ich Hofreiter gewesen wäre, ich glaube ich hätte den AFDler vom Podium gejagt..

  6. @ Martina Rheken

    „Es gibt keine Spaltung: …

    Dazu habe ich vor einiger Zeit einen passenden Cartoon gefunden:

    https://abload.de/img/spaltung_der_gesellsc7ik66.jpg

  7. LOL ein Fundstück

    Schweiz, mit Kuhglocken gegen die Impfpflicht:

    https://youtu.be/H0Sure3UdhU

  8. Ach ja, der Kuh-Glocks-Klan, von denen hört man auch nicht mehr viel. Leiden wohl inzwischen alle an Tinnitus. Das würde auch erklären, warum die ständig gegen eine Impfpflicht protestiert haben die nie zur Diskussion stand.

    Ich denke, die schweizerischen Überpatrioten sind ihren deutschen Kollegen gegenüber dadurch im Nachteil, dass ein Grossteil ihrer Klientel Volksabstimmungen mit einer gewissen Verklärung betrachtet.

    Wenn man dabei gleich zweimal hintereinander krachend verliert, dann wird es doch ziemlich schwierig zu behaupten man repräsentiere „das Volk“. Da verfangen dann offenbar nicht einmal mehr Betrugsvorwürfe so richtig.

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