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Wie Herr Reimann zum Verschwörungsgläubigen wurde

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Der Tagesspiegel zeichnet heute die Geschichte eines Mannes namens „Paul Reimann“ nach, der …

… sich plötzlich auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen vor dem Reichstag wiederfindet. Inmitten von Rechtsextremen, Reichsflaggen, Esoterikern, Verschwörungsideologen.

Wie konnte es dazu kommen? Nun ja – „plötzlich“ war daran natürlich gar nichts.

Der Artikel bestätigt anschaulich alle bisherigen Erkenntnisse zum Thema.

Genau wie bei Attila Hildmann stand auch bei Paul Reimann am Anfang ein starker Kontrollverlust:

Über die Tagesschau, den Tagesspiegel, jene Medien, die er damals noch regelmäßig verfolgt. Von den ersten Covid-19-Fällen in Deutschland ist da die Rede. Von Toten – und von viel Ungewissheit. Reimann erinnert sich, dass er seine Tochter anruft. Er weiß, sie will an jenem Tag mit dem Enkel etwas unternehmen. Er habe, sagt er seiner Tochter, so viel Gefährliches gehört und so viel sei noch unklar […]

Die Angst vor dem Virus lässt Paul Reimann nicht mehr los. Angst um seine Kinder, um die Enkel, um sich selbst. Sie wird größer mit jeder Meldung, mit den vielen Zahlen, die er längst nicht mehr einordnen kann. Er lernt neue Vokabeln. R-Zahl, Inzidenzwert, FFP 3, Mund-Nasen-Schutz. Lockdown […]

Wuhan, Bergamo, New York City. Krankenschwestern, die zusammenbrechen, Särge über Särge in den Nachrichten. Reimann zieht sich alles rein. Er füttert die Angst, bis sie stärker ist als er selbst. Es sei, sagt Reimann, ein Zustand totaler Erschöpfung gewesen.

Darauf folgte das, was die Sozialpsychologin Pia Lamberty in einem Interview so erklärt:

„Es ist erstmal so, dass immer dann, wenn Menschen einen Kontrollverlust erleben – die Coronapandemie ist quasi ein Prototyp von Kontrollverlust –, dass sie dann mehr an Verschwörungstheorien glauben. Das heißt, in dem Moment, wo ich das Gefühl habe, ich kann keinen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen, versuche ich das psychologisch zu machen, indem ich Muster sehe, wo vielleicht auch keine sind.“

Die ganze Bandbreite an Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zum Coronavirus findet sich im Netz.

Und dort findet sie auch Reimann:

Paul Reimann geht ins Internet. Recherchieren, sagt er. Er guckt bei den „etablierten Medien“, wie er sie jetzt nennt. Aber da sitzen nur wieder die in den Talkshows, die immer da sitzen. Die Minister und die Kanzlerin und die Herren Professoren und Virologen und alle, so sieht er das, sind sich so sicher und haben nur diese eine Botschaft, die ihn so müde macht: Das Virus ist gefährlich […]

Bei seiner Recherche stolpert er über Videos von KenFM und RT-Deutschland. Dort kommen Leute zu Wort, denen es geht wie ihm. Sie leiden unter der Pandemie, sie teilen seinen Schmerz. Und sie haben keine Antworten. Sie haben Zweifel.

Zweifel, ob nicht die Maßnahmen viel gefährlicher sind als das Virus. Zweifel, ob wirklich so viele Menschen sterben. Zweifel, ob man überhaupt Angst haben muss. Wer Zweifel hat, muss nichts beweisen. Wo Zweifel ist, wird eine andere Wirklichkeit denkbar. Wie schön die jetzt wäre […]

Die Mosaikstücke, die er im Netz findet, werden immer dringlicher. Von Corona-Diktatur ist da nun die Rede, von Unterdrückung und Mächtigen, die im Hintergrund arbeiten. Hatten nicht sein ganzes Leben lang immer Mächtige auf Kosten von Menschen wie ihm Profite gemacht?

Im Kern zeigt sich im Verschwörungsglauben von Paul Reimann die bekannte Kombination von Kontrollverlust und Mustersuche – sowie als additive Persönlichkeitsmerkmale eine geringe Ambiguitätstoleranz (die Unfähigkeit, Widersprüche zu ertragen und mit ihnen produktiv umzugehen) und die Überzeugung, dass das eigene Bauchgefühl ausreiche, um ein hochkomplexes Geschehen zu verstehen.

Darüber hinaus wirft der Artikel aber auch Fragen zum Umgang mit Verschwörungsgläubigen auf. Auch hier zeigt sich, dass unsere Tipps vom Mai wohl im Großen und Ganzen richtig sind.

Reimann recherchiert weiter, wochenlang. Verschickt nun seinerseits Links zu Artikeln von den Medien, denen er jetzt vertraut. Spricht auch Freunde und Bekannte darauf an. Die Reaktionen seien aggressiv gewesen.

Papa, das sind doch Verschwörungstheorien. Ihm ist, als formuliere jeder schon das Gegenargument, während er noch spricht. Papa, wenn du jetzt nicht aufhörst, lege ich auf. Sie hätten ihn beschimpft, sagt Reimann. Er sei fassungslos gewesen.

Irgendwann werden die Antworten seiner Kinder seltener. Bekannte sagen Verabredungen mit ihm ab, als man sich im Sommer wieder treffen darf. Keine Eskalation. Sie wollen einfach nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Das brachte ihn schließlich „bis vor den Reichstag. Inmitten von Rechtsextremen, Reichsflaggen, Esoterikern, Verschwörungsideologen.“

Im Mai hatten wir diesen Thread geteilt:

Zum Weiterlesen:

  • Zwischen Reichsbürgern und Esoterikern : Wie ein Mann über die Angst vor Corona zum Skeptiker wurde, tagesspiegel am 25. November 2020
  • Corona: Was tun, wenn Freunde Verschwörungstheorien verbreiten? mads am 24. November 2020
  • Reden mit Coronaleugnern, rbb am 22. November 2020
  • Warum Menschen an eine Corona-Verschwörung glauben, derStandard am 25. November 2020
  • Wie wird man eigentlich zum Verschwörungsgläubigen? GWUP-Blog am 3. Juni 2020
  • „Auf dem Schlachtfeld“: Umgang mit Verschwörungsgläubigen, GWUP-Blog am 7. September 2020
  • Der schwierige Umgang mit Verschwörungsgläubigen, GWUP-Blog am 15. Mai 2020
  • Video: Verschwörungsgläubige und Leistungsindividualisten, GWUP-Blog am 14. November 2020
  • Verschwörungstheorien: Die Heimwerker der alternativen Wissenskonstrukte, GWUP-Blog am 5. November 2020
  • Video: Uwe Kanning über Hamsterkäufe und Kontrollverlust, GWUP-Blog am 15. August 2020

3 Kommentare

  1. Ein Kumpel ist auch zum Verschwörungsgläubigen geworden. Und das nur weil seine engeren Freunde ihn mit dem Müll per WhatsApp zutoasten.

    Mein Kumpel selbst ist weit weg von einem Kontrollverlust und generell eher desinteressiert, schaut sich nach der Arbeit den Rest des Tages DMAX u.ä. an. Tja, mittlerweile steckt er mental so tief drin, da erreiche ich ihn nicht mehr. Wenn ich ihm beispielsweise die Statistiken zu Todesfällen zeige und erkläre, dann kommt als Antwort nur „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“. Der hat keine Ahnung wie Wissenschaft funktioniert.

    Da gibt es dann auch keine Argumente mehr, die Helfen. Da ist echt frustrierend. Er ist jetzt Team „Schwurbler“, genau wie er Team „Dynamo Dresden ist“, rein emotional ohne Verstand und schreit für sein Team, wie im Fußballstadion.

  2. Ehrlich gesagt, ist das größte Leid dieser Pandemie für mich tatsächlich die qualvolle Entdeckung, dass offenbar einige meiner Freunde nicht (mehr?) in der Lage sind differenziert zu denken und zu argumentieren und einige davon darüber hinaus auch noch schonungslos offenbaren, wie egozentrisch ihr Verständnis von Demokratie und gesellschaftlicher Sozialität ist.

    Mit so völlig abgefahrenen Theorien (Reptiloiden usw.) bin ich zwar glücklicherweise nicht konfrontiert aber es reicht ja, (oder vielleicht ist das sogar schlimmer, gefährlicher) wenn studierte und/oder eigentlich geerdete Leute nicht mehr zwischen einer berechtigten oder zumindest sachlich, auf Fakten basierenden, argumentierten Kritik und emotionsgesteuerter,hohler, widersinniger, populistischer Phrasendrescherei unterscheiden können.

    Das erschreckt mich regelrecht.

    Wenn z.B. nicht erkannt wird, dass es schon ziemlich widersprüchlich ist, wenn ein Herr Hüther an den „gesunden Menschenverstand“ also Rationalität appelliert und gleichzeitig in fetten Buchstaben offenbart, wie tief er in Emotionen hängt (der Arme ist unglaublich wütend, weil so viele Menschen ARD und ZDF schauen und sich dort informieren) oder dass es schon ziemlich fragwürdig ist, wenn einer im österreischischen Parlament damit argumentiert das Herr Kurz die Reinkarnation von Macchiavelli wäre (selbst die Reinkarnationsgläubigen müssten doch protestieren, denn der Sinn von Reinkarnation ist doch nicht genauso auszusehen und zu handeln wie in vorhergehenden Reinkarnationen- schon da liegt der Schwachfug) oder dass es nicht sein kann, dass eine Schulanfängerin gestorben ist, weil sie den ganzen Tag eine Maske in der Schule tragen musste, wenn es zu dem Zeitpunkt gar keine Maskenpflicht für Grundschüler in Bayern gab usw.- die vielen, kleinen, harmlos wirkenden Beispiele sind so massenhaft geworden.

    Oder wie kann eine studierte Ärztin noch ernsthaft von Leuten wie Wodarg und Bhakdi als Wissenschaftler reden? Möglicherweise waren sie das mal (kann ich nix zu sagen) aber das, was sie zum Thema Corona verbreiten bzw. WIE sie das tun, ist zutiefst unwissenschaftlich.

    Herr Wodarg presst alle Argumentation in die Schublade der profit-und machtgeilen Politiker und eitlen Wissenschaftler und der Bhakdi hat doch eine sehr emotionale Motivationsgrundlage (die ich menschlich durchaus nachvollziehen kann aber das kann keine Grundlage naturwissenschaftlicher Argumentation sein) und mittlerweile ist er wohl auch vollends in die typischen Querdenkernarrative abgerutscht.

    Und am allerschlimmsten ist diese Verharmlosung und Duldung von Rechtspopulismus. Da wird ernsthaft argumentiert, dass es ja gerade wichtig ist mit solchen Leuten zu demonstrieren, damit man ihnen ja das Feld nicht überlässt. Wahnsinn und total verdreht.

    Erschreckend viel Ungebildetheit (z.B. darüber wie das politische und juristische System in Deutschland aufgebaut ist) und Leichtgläubigkeit – aber natürlich ist man ganz stolz auf das „eigenständige Denken“ ;)

    So richtig, weiß ich immer noch nicht damit umzugehen. Glücklicherweise gibt es mit diesen Menschen noch genug andere Themen über die wir uns austauschen können, so dass ich denke, die Freundschaften werden nicht komplett zerbrechen.

    Trotzdem, es sind schon so Einsichten, die man in die Denkweisen der anderen gewinnt, die mich nachdenklich machen, einen gewissen inneren Abstand herstellen und oft bin ich hin und hergerissen zwischen der inneren Aufforderung mich diesem unlogischen Quark zu stellen bzw. die Verteiler eines solchen mit meiner anderen Sichtweise zu konfrontieren, eben einfach im Gespräch zu bleiben in der Hoffnung, dass es irgenwie Denkprozesse anregt (ich lerne ja auch nie aus ;) ) und dem Widerwillen überhaupt Energie und Zeit dafür aufzuwenden.

    Ist es besser sich in Gelassenheit zu üben und auf solchen Quark einfach nicht zu reagieren und darauf zu bauen, dass es irgendwann auch wieder vorbei ist oder bringt es mehr, wenn man sich ins Gefecht wirft?

    Ich weiß es nicht, ich mach es mal so mal so…..ermüdend ist es allemal und die Gelassenheit es komplett zu ignorieren gelingt mir leider auch noch nicht.

    Aber das ist wohl Übungssache ;)

  3. Neues von der Verschwörerfront: Jetzt hat sich die Gruppe „Psychotherapeutinnen und
    Psychotherapeuten stehen auf“ gegründet. Nummer 3 neben den Ärzten und Rechtsanwälten.

    Diese Damen und Herren haben Pia Lamberty gar nicht gern:

    Die abschließende Bemerkung „Neueste Modellrechnungen mit unterschiedlichen Methoden konnten übereinstimmend einen außerordentlichen Erfolg der politisch veranlassten Verhaltensmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie zeigen” steht ohne Verweis auf Quellen. Folgt man der – in dieser Hinsicht korrekten – Einlassung der von etablierten Medien vielfältig gegen „Verschwörungstheoretiker” ins Feld geführten Pia Lamberty, müsste man spätestens hier aufhorchen und die ganze Argumentation in Zweifel ziehen.

    Impfgegner und pharmafeindlich scheinen sie auch zu sein:

    Ginge es um das Erarbeiten einer rational und empirisch begründeten Strategie zur Pandemiebewältigung, müssten auch die als absolut gesetzten Exit-Strategien (Impfung, Medikament) hinterfragt werden.

    https://www.nachdenkseiten.de/?p=67578

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