Zum ersten Mal wurden wir 2019 auf „QAnon“ aufmerksam, als die Report-Redaktion in einen Beitrag über meine Schulvorträge einen kurzen Exkurs zu diesem neuen Verschwörungsmythos hineinschnitt – und bei Twitter Kommentare wie „Danke für die Werbung“ oder „Danke das ihr zum Aufwachen beitragt“ aufschlugen.

Vor allem durch Xavier Naidoo und die „Corona-Demos“ erlangte „QAnon“ in diesem Jahr größere Bekanntheit, etwa im Allgäu und dieser Tage in Mannheim:

Mittlerweile berichten auch die großen Medien darüber.

Worum es überhaupt geht, beschreibt die FAZ:

„QAnon“ steht für einen Anonymus, der Ende Oktober 2017 auf dem Message-Board 4Chan die bevorstehende Festnahme von Hillary Clinton und massive Ausschreitungen prophezeite.

Die Posts enthielten ein militärisch anmutendes Stakkato voller Abkürzungen. Ihr Verfasser suggerierte, er sei ein hochrangiger Geheimoffizier mit sogenannter „Q“-Freigabe, die Zugang zu Hochsicherheitsinformationen im Energieministerium, darunter auch Nuklearwissen, gewähre. „Der Tonfall ist verschwörerisch bis hin zum Klischee“, schrieb die Zeitschrift The Atlantic.

Zu den Erkennungsphrasen der Bewegung zählen „Nichts kann stoppen, was kommt“, oder „Vertraue dem Plan“, oder „Gott gewinnt“.

Clinton wurde nicht verhaftet, aber die kryptischen Botschaften („Wo ist Huma?“ „Was ist der militärische Kodex?“) wurden von zwei 4Chan-Moderatoren und einer Youtuberin aufgegriffen, die das Ganze zu einer umfassenden Mythologie (und einem Geschäftsmodell mit weitreichendem Merchandise) ausbauten und dem Phänomen aus einer dunklen Ecke des Internets via Reddit und Facebook Resonanz verschafften – vor allem bei Trump-Anhängern.

In der QAnon-Welt geht es um zentrale Themen der Trump-Rhetorik: die Medien als Lügen-Apparat, deren eigentliches Bestreben es ist, die Wahrheit zu verschleiern; die amerikanischen Sicherheitsbehörden als sogenannter „Deep State“, in dem sich die wahren Strippenzieher verschanzen; Experten und Wissenschaftler als dubiose Interessenvertreter und Erfüllungsgehilfen dunkler Mächte; gegnerische Politiker, ganz besonders Hillary Clinton, als Kriminelle, hier: Betreiber von Kinderpornoringen.

Fieberhaft deuten die Anhänger Qs sogenannte „Drops“, also neue Posts, aus. Man interpretiert Gesten von Prominenten, Buchstaben- und Zahlenfolgen von Tweets und Facebook-Posts, verknüpft Ereignisse in Politik, Wirtschaft und Unterhaltung zu immer neuen atemberaubenden Bestätigungen des bereits Vorausgesetzten (erstaunlicherweise ist hier der Verweis auf Mainstream-Medien unproblematisch).

Focus schreibt von der „gefährlichsten Verschwörung Amerikas“, einem …

… rasant wachsenden Kult aus den rechten Ecken des Internets, der sich aus den Posts der Figur Q ein ganzes Universum von miteinander verwobenen Verschwörungstheorien gezimmert hat […]

QAnon geht längst über eine Spinnerei einzelner Fanatiker hinaus. Die Bewegung hat sich zu einer politischen Ideologie verfestigt, mit dem Ziel, Donald Trumps Macht zu erhalten.

Und wenn Trump die Wahl im November verliert?

Für seine Anhänger bei QAnon steht damit das ganze apokalyptische Weltbild auf dem Spiel,

reportiert der Spiegel (30/2020).

Und dann? Käme es zu Gewalt, erklärt Miro Dittrich von der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) am Ende des Beitrags.

Weiter heißt es in dem Artikel:

Früher waren Paranoiker oft fleißige Ermittler. Tausende von ihnen gingen etwa über Monate und Jahre dem Verdacht nach, der Anschlag auf das World Trade Center sei nur inszeniert worden. Viele glaubten, die US-Regierung selbst habe die Zwillingstürme sprengen lassen, als Vorwand für den Irakkrieg. Um das nachzuweisen, plagten die Amateure sich mit Gebäudestatik, den Bahnen von Flugkörpern, dem Schmelzpunkt von Stahlträgern.

Ihr Ziel war noch eine halbwegs plausible Theorie der Verschwörung, der Streit fand auf dem Boden der Evidenz statt. Die QAnon-Bewegung hingegen schert sich nicht mehr um Belege. Die Anhänger lesen einfach überall verborgene Botschaften hinein, über die sie sich dann gemeinschaftlich ereifern können.

Warum zum Beispiel hält Trump auf einem Foto ein Footballtrikot mit der Nummer 17 in die Kamera? Eine Offenbarung, denn der 17. Buchstabe des Alphabets ist Q!

Ein geschlossenes, selbstheilendes Wahnsystem, dem kein Einwand mehr etwas anhaben kann: Für Laien ist das schwer zu fassen. Der wohl bösartigste Verschwörungsglaube der Gegenwart beruht nur auf ein paar Horrorgeschichten, frei erfunden und fast wahllos zusammengereimt – das ergibt keinen Sinn. Wie kann sich jemand einem derartigen Humbug verschreiben?

Aber wie immer, wenn es um Glaubenssysteme geht, kommt es nicht auf Sinn und Logik an. QAnon bietet vor allem ein starkes Gemeinschaftserlebnis, wie es für Sekten typisch ist. Nicht von ungefähr lautet der Leitspruch der Bewegung »Where we go one we go all«, kurz WWG1WGA. Frei übersetzt heißt das: einer für alle, alle für einen.

Dittrich hat auch an dem Bericht

QAnon and the Growing Conspiracy Theory Trend on Social Media

des Londoner Media Diversity Institute mitgewirkt, der zu dem Ergebnis kommt:

It is vital to increase public awareness of the problematic nature of QAnon not just as a tool for spreading misinformation, but also as a mechanism for perpetuating stereotypes and hate speech. Unfortunately, it is often those who act in hateful ways online who continue on to act in hateful and even violent ways offline.

In der Tat wandte sich auch der Täter von Halle mit einem kurzen „Hi Anon“ an die Gefolgschaft von QAnon, während er sein Vorgehen live streamte.

Auch der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, weist im Deutschlandfunk auf den inhärenten Judenhass der QAnon-Bewegung hin und warnt vor den „sich zunehmend radikalisierenden Anhängerinnen und Anhänger“, die erkennbar in einer anderen Realität lebten.

Twitter und TikTok haben angekündigt, gegen QAnon-Profile und -Hashtags auf ihren Plattformen vorzugehen.

In einem aktuellen Video-Talk – mit schlechter Tonqualität – berichtet die Sozialpsychologin und Autorin Pia Lamberty über ihre Erfahrungen mit QAnon-Anhängern (ab 7:04), die im Juni in einer ZDF-Doku über QAnon als Expertin aufgetreten war:

Das habe ich so noch nie erlebt. Irgendwann kam es dann dazu, dass es [in den sozialen Medien] hieß, auf Englisch, „Deutschland ruft“, und dann wurden die ganzen US-amerikanischen Profile auf diese Doku losgeschickt, um sie gezielt zu attackieren, auf Twitter. Ich konnte vier Tage lang meinen Account nicht mehr nutzen, ich musste mit mehreren Leuten da sitzen und alle angreifenden Profile blockieren. Ich befürchte, dass uns dieses Thema noch stärker beschäftigen wird.

Zum Weiterlesen:

• Woran glauben QAnon-Anhänger? zdf.de am 22. Juli 2020
• QAnon: Sie verehren Donald Trump wie einen Heiligen, FAZ am 25. Juli 2020
• Antisemitismusbeauftragter über QAnon: Der Rechtsstaat sollte stärker durchgreifen, Deutschlandfunk Kultur am 22. Juli 2020
• QAnon: Neue Märchen, alte Gefahren, Belltower News am 15. Juli 2020
• Halle-Prozess: Der imaginierte Austausch, Belltower News am 23. Juli 2020
• Die Bewegung „QAnon“ wird zur Religion, Deutschlandfunk am 10. Juni 2020
• QAnon, coronavirus and the conspiracy cult, BBC am 23. Juli 2020
• Gefährliche Mythen: QAnon und Adrenochrome, detektor.fm am 16. April 2020
• Die wirre Welt der QAnon-Anhänger, Spiegel+ am 17. Juli 2020
• Die gefährlichste Verschwörung Amerikas, Focus-Online am 29. Juni 2020
• Der Kult um Q und seine deutschen Jünger, Welt+ am 20. Mai 2020
• Die Sekte QAnon verbreitet gefährliche Verschwörungsmythen – und zerreißt damit Familien, BR am 18. Juni 2020
• Reddit’s QAnon Casualties is a home for survivors of the conspiracy, daily dot am 25. Mai 2020
• Facebook: Adornochrom – eine QAnon-Watchseite
• Video: QAnon – Wie gefährlich kann eine Verschwörungstheorie werden? GWUP-Blog am 18. Juni 2020