Die SZ-Redakteurin und SkepKon-Referentin Kathrin Zinkant hat am Wochenende in der Süddeutschen Zeitung (26./27. Oktober) beschrieben, „warum wir unvernünftige Entscheidungen treffen, obwohl wir es eigentlich besser wissten müssten“:
Ob es nun um Klimaschutz geht, um die Zuwanderung, um neue Technologien oder auch nur etablierte Medizin: Es gibt Fakten, sie liegen auf dem Tisch. Sie sagen einem zwar nicht direkt, was man zu tun hat, aber sie stecken einen Rahmen ab, innerhalb dessen man bleiben sollte. Und trotzdem, das Gefühl weiß es besser. Und so kapern Ängste, Trotz und Bedürfnisse das Denken. Sie produzieren eigene Wahrheiten, suchen einander in sozialen Gemeinschaften und werden stärker […] Und weil man sich in dieser Kirche stets vertraut und sich gegenseitig in seinem Glauben und in seinen Gefühlen bestätigt, kommt dagegen auch keiner mehr an. Man nehme nur einmal das Beispiel der Impfung.
Die Autorin gibt im Weiteren ihre Eindrücke von der kürzlichen Anti-Impf-Veranstaltung in Berlin wieder (über die Dr. Jan Oude-Aost hier berichtet) und tendiert aufgrund dieser Erfahrung eher zu einer Impfpflicht, denn:
Der Kopf der Zweifelnden soll gestärkt werden durch Information, durch Aufklärung und schließlich durch den leichteren Zugang zu Impfungen – dann wird der Kopf schon siegen. Was erst mal vernünftig erscheint, respektvoll sogar, und deshalb gut. Allerdings geht dieser Plan etwas an der Realität vorbei.
Zumindest in Deutschland sind es schließlich die bildungsnahen, gut informierten, wohlhabenden Familien, die ihre Kinder gar nicht, unvollständig oder viel zu spät impfen, einfach weil sie sich damit besser fühlen. Und selbst wenn mit Informationen hier noch Wissenslücken zu schließen wären, ist es dafür zu spät. Überzeugungsarbeit leisten nämlich längst andere. Die Anthroposophen, zum Beispiel […]
Und wenn all jene Eltern, die sich hier Erkenntnis erhofften, aus diesem Abend etwas mitgenommen haben, dann die Botschaft, Impfungen machten unfrei – und seien derart kompliziert und risikobehaftet, dass man besser auf sein Gefühl hört und damit noch eine Weile wartet.
Das Problem verortet Zinkant ähnlich wie ihr Zeit-Kollege Jan Schweitzer:
Rationalität gilt als kalt und unmenschlich […] Die häufig empfundene Kälte der seriösen Naturwissenschaft mit ihren Daten, schwer verständlichen Details und ungeschminkten Feststellungen […], diese Kälte kommt in serviceverwöhnten Wohlstandsgesellschaften nicht sehr gut an. Und das, obwohl man alle anderen, als bequem empfundenen Errungenschaften der kalten Wissenschaft gern weiter genießt.
Eine Patentlösung gibt es dafür nicht, und auch Kommunikationstipps (wie etwa in „Gefühlte Wahrheit“ von SZ-Kollege Sebastian Herrmann) sind nicht Zinkants Anliegen.
Am Ende verweist die Biochemikerin darauf, dass auch das „faktisch denkende Hirn“ durchaus ein Herz habe, sprich: dass auch Wissenschaftler Gefühle kennen und mitunter „Trauer, Schock und Schmerz“ bei ihrer Arbeit durchleben (die Welt nennt das heute in einem Artikel zum Klimawandel „ökologische Trauer“).
Als Fazit bietet sich mithin der Slogan von Mai Thi an:
Trust me I’m a scientist
Den Artikel „Das Diktat der Gefühle“ gibt es kostenpflichtig auch bei SZ+.
Zum Weiterlesen:
- Wie der Klimawandel die Psyche beeinträchtigt, Welt+ am 28. Oktober 2019
- Homöopathie in der Zeit: „Wissenschaft erfordert Konsequenz“, GWUP-Blog am 28. Oktober 2019
- Warum kluge Menschen dumme Dinge tun, hpd am 25. November 2013
- Warum auch kluge Menschen dumme Entscheidungen fällen, Welt-Online am 28. Juli 2017
- Impfverweigerer: „Wenn Zureden nicht hilft, dann Strafe vielleicht“, GWUP-Blog am 21. August 2017
- Warum wir nicht glauben, was uns nicht passt, GWUP-Blog am 8. August 2017
- Weltuntergang als Tagesjob: Die Ballade vom traurigen Klimaforscher, GWUP-Blog am 23. November 2015
29. Oktober 2019 um 10:17
Eine polemische Analyse des Problems der ‘eigenen Meinung’.
https://medium.com/@skt_johann/ich-mein-ja-nur-4d3d410a833f
31. Oktober 2019 um 07:15
An dem SZ-Beitrag ist vieles richtig, aber man muss aufpassen, dass man nicht einen platten Gegensatz „Gefühl-Vernunft“ aufmacht. Das wäre Küchenpsychologie.
Gefühle sind nicht das Gegenüber des Bemühens, die Welt zu verstehen, sondern Teil dieses Bemühens und so muss es nicht verwundern, dass sie genauso in die Irre führen können wie der Rest unseres Denkens – oder uns genauso auf die richtige Spur bringen können.