Sind Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, verrückt?
Diese Frage wird immer mal wieder – auch hier im Blog – gestellt.
Immerhin findet sich die Annahme einer „Paranoia“ schon in dem Essay „The Paranoid Style in American Politics“ von Richard Hofstadter, worunter der Autor auch „Verschwörungsfantasien“ (conspiratorial fantasy) subsummierte.
Dem widerspricht neben dem ungarischen Psychologen Péter Krekó („Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist kein Produkt einer gestörten Psyche.“) der Sozialpsychologe Roland Imhoff von der Uni Mainz.
In seiner Studie „How paranoid are conspiracy believers?“ fand Imhoff zwar Überschneidungen zwischen den beiden Phänomenen Paranoia und Verschwörungsüberzeugung – aber auch deutliche Unterschiede:
Während paranoide Menschen glauben, dass praktisch jeder hinter ihnen her ist, denken Verschwörungsideologen, dass ein paar mächtige Menschen hinter fast jedem her sind.
Gesellschaftliche Verschwörungserzählungen sind also von paranoiden Wahnvorstellungen klar unterscheidbar: Die wahrgenommene Handlung richtet sich gegen ein Kollektiv als Nation, Gruppe oder Kultur, während ein paranoider Mensch Angst vor Verschwörungen gegen die eigene Person hat und dabei sogar die eigene Familie als Bedrohung ansehen kann.
Paranoide Menschen misstrauen anderen grundsätzlich, während Verschwörungsideologen eher „dem System“ insgesamt argwöhnisch gegenüberstehen,
fassen Nocun/Lamberty die Arbeit von 2018 zusammen.
Eine neuere Studie zu diesem Thema ist jetzt mit dem Publikationspreis 2022/2023 der Stiftung für Forschung und Bildung der Frankfurt University of Applied Sciences (UAS) ausgezeichnet worden.
In ihrer Arbeit „Verschwörungstheorien und paranoider Wahn“ (2022) stimmt Stephanie Mehl, Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der UAS, Imhoff zu und benennt die qualitativen Unterschiede zwischen Verschwörungstheorien und paranoiden Wahnüberzeugungen.
Verschwörungstheorien seien
- eher unpersönlich formuliert; die Bedrohung ist auf eine Gruppe oder die Gesamtgesellschaft ausgerichtet.
- Die Theorie und ihre Realisierung bzw. die Gefahr, die von ihr ausgeht, lässt sich durch das Sammeln von Beweisen und die Aufklärungsarbeit abwenden [in der Vorstellung der Gläubigen].
- Die verschwörungsgläubige Subkultur bietet eine große soziale Vernetzung, soziale Aufwertung und Anerkennung und eine ausgeprägte Toleranz gegenüber sich widersprechenden Theorien, deren Anhänger trotzdem in die Gruppen aufgenommen werden.
Paranoider Wahn zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass
- man selbst als Person bedroht ist.
- Menschen, die unter paranoiden Wahnüberzeugungen leiden, gelingt es in den meisten Fällen nicht, andere Menschen von ihrem paranoiden Wahn zu überzeugen (außer in den seltenen Fällen, in denen Paare oder Lebensgemeinschaften eine „folie à deux“ ausbilden, einen geteilten gemeinsamen Wahn).
Der wichtigste Faktor sei jedoch, dass Personen mit paranoiden Wahnüberzeugungen meistens (nicht immer) unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Störung leiden, während eine solche bei Personen, die an Verschwörungstheorien glauben, meist nicht vorliegt.
Darüber hinaus zieht Mehl jedoch noch weitere Vergleiche zwischen den Denk- und Verhaltensmustern von Personen mit einer psychotischen Erkrankung und Anhängern von Verschwörungstheorien.
Neben belastenden Lebensereignissen und einem „externalisierenden personalisierenden Kausalattributionsstil“ (Ursachenzuschreibung) sieht die Neuropsychologin als eine weitere hervorstechende Gemeinsamkeit die Neigung, voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen:
Wir wollten herausfinden, ob ein mit Psychosen verbundener Denkfehler, das sogenannte voreilige Schlussfolgern, auch bei jenen Personen vorhanden ist, die stärker an Verschwörungstheorien glauben.
Dabei stellten wir zudem fest, dass Menschen, die eine höhere Zustimmung zu Verschwörungstheorien aufwiesen, im Vergleich zu anderen Personen eher intuitiv und weniger analytisch denken. Sie entscheiden sehr schnell, ohne viele Informationen zu sammeln.“
Auf diesen „Jumping to conclusions“-Bias beziehungsweise kognitive Heuristiken haben indes bereits Raab/Carbon/Muth 2017 hingewiesen.
Als Fazit schlägt Prof. Mehl vor, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Verschwörungstheorien und psychischen Störungen weiter zu untersuchen:
Möglicherweise könnten moderne niedrigschwellige Interventionsmethoden der kognitiven Verhaltenstherapie von Psychosen in die Beratung oder Prävention von Verschwörungstheorien implementiert werden.
Zum Weiterlesen:
- Study: Conspiracy theorists are not necessarily paranoid, PsyPost am 10. Mai 2018
- How paranoid are conspiracy believers? onlinelibrary am 20. April 2018
- Voreilige Entscheidungen: Gemeinsamkeit bei Schizophrenie und dem Glauben an Verschwörungstheorien entdeckt, idw-online am 30. März 2021
- Voreilige Schlussfolgerung: das haben psychotische Störungen und Verschwörungstheorien gemeinsam, idw-online am 28. Juli 2023
- Verschwörungstheorien und paranoider Wahn: Lassen sich Aspekte kognitionspsychologischer Modelle zu Entstehung und Aufrechterhaltung von paranoiden Wahnüberzeugungen auf Verschwörungstheorien übertragen? Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie volume 16, pages 195–204 (2022)
- Verschwörungstheorien unter dem Blickwinkel der Forensischen Humanwissenschaften, Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2/2021
- Verschwörungsglaube und sozioökonomische Faktoren, GWUP-Blog am 27. Juli 2022
- Verschwörungsmentalität und politische Orientierung, GWUP-Blog am 27. Juli 2022
- Ist Religion ein Treiber für Verschwörungsaffinität? GWUP-Blog am 2. Juli 2023
- „Epistemische Laster“ machen anfällig für den Glauben an Verschwörungstheorien, GWUP-Blog am 18. Juli 2021
- Faktoren des Glaubens an Verschwörungstheorien, GWUP-Blog am 28. Juni 2023
5. August 2023 um 21:56
Danke für diese notwendigen Klarstellungen.
Die Psychiatrisierung von politischen Gewalttätern, Verschwörungstheorieanhängern usw.
– führt zu einer Stigmatisierung wirklich psychisch Kranker („ist genauso gefährlich / irre, wie der spinnerte Reichsbürger / Querdulli da drüben“),
– sorgt dafür, daß Extremisten, die Straftaten begehen, als „bedauerliche Einzelfälle“ gewertet werden, und die gesellschaftliche Dimension damit elegant unter den Tisch fallen gelassen wird.