Für den neuen Skeptiker (1/2023) haben wir mit Marvel Stella gesprochen, die zusammen mit Nora die Seite Debunking SRA betreibt:
Die Webseite klärt kritisch über die Verschwörungstheorie vom satanistisch-rituellen Missbrauch und die damit einhergehende „Verzerrung der dissoziativen Identitätsstörung“ (DIS) auf. Den Anstoß für diese Internetpräsenz gab ein Vortragsvideo von der SkepKon 2018 in Köln mit Lydia Benecke und dem Kriminalbeamten Dirk Bosse, das die Betreiberin als arrogant und irreführend empfand. Doch im Zuge der intensiven Recherchearbeit zum Thema änderte sich sukzessive ihre Überzeugung.
Ein Auszug:
GWUP: Wann setzte Ihr Umdenkprozess ein und über welchen Zeitraum entwickelte er sich?
Ich mag es nicht, meine Betroffenheit im Internet auszuagieren, um meine Meinung durchzusetzen. Je größer die Bedrohung scheint, desto emotionsloser und kontrollierter werde ich. Um Kontrolle zu erlangen, braucht man Wissen. Wissen ist Macht, und diese hilft gegen die Ohnmacht. Also begann ich zu recherchieren – die ersten Monate einzig nur mit dem Ziel, die Glaubwürdigkeit der DIS-Betroffenen wiederherzustellen.
Doch in genau dem Moment, wo die Recherchen begannen, setzte auch mein Umdenkprozess ein, den ich noch einige Zeit lang zu verdrängen versuchte: Es galt, die Opfer zu schützen und aufkeimendes Misstrauen konnte kein Opferschutz sein, so meine und damals auch Noras Überzeugung. Nora ist eine Freundin und mittlerweile enge Kollegin, die sich damals dazugesellte, um mit mir zusammen alle verfügbaren Studien, Videos, Fachberichte, Artikel, Arztmeinungen, Opferdarstellungen und Schilderungen der traumatischen Erlebnisse durchzugehen.
Ich brauchte irgendwas in der Hand, um gegen die GWUP auftreten und deren Thesen widerlegen zu können. Mit Aufregung und Empörung kann man keine Lorbeeren ernten, wie man so schön sagt. Doch je intensiver wir forschten, desto mehr verstanden wir dann den Mechanismus der zugrunde liegenden Verschwörungstheorie.
Was passierte, als Sie schließlich Ihre Zweifel öffentlich machten?
Nach etlichen Monaten intensiver Recherche habe ich tatsächlich öffentliche Zweifel am Narrativ des satanisch-rituellen Kultmissbrauchs kundgetan. Was dann folgte, war ein Shitstorm, der mich schier überrannte.
Das Erste, womit ich konfrontiert wurde, war der Tätervorwurf und dass ich den Tätern helfen würde. All das kam von Personen, die genau wussten, dass auch ich eine DIS-Betroffene bin. Das hat mich durchaus tief getroffen, denn ich war zu dem Zeitpunkt noch nicht so abgeklärt wie heute. Mir fehlte die nötige Schutzbarriere, um diese – was man wörtlich nehmen kann – Hassattacken abwehren zu können.
Die Ereignisse waren sehr schwarz-weiß: Gerade noch war man die DIS-Betroffene, die genau wusste, wovon sie sprach, und plötzlich wurde man zur Täterin, „Pädo-Dirne“ und Abschaum. Einige spekulierten sogar, dass bei mir täterloyale Anteile aktiv seien, die nun versuchten, meine bisherigen Bemühungen zu vernichten. Das fand ich befremdlich, da ich mich mit dem Gerede über täterloyale – programmierte – Anteile nie identifizieren konnte.
Das Konstrukt mit den täterloyalen Anteilen hatte man einst zum Zwecke der Selbstimmunisierung geschaffen, und nun versuchte man es sogar mir überzustülpen. In DIS-Kreisen wurde mit Rundmails und öffentlichen Aktionen empfohlen, mich zu blocken, ich war also raus aus der sogenannten „Szene“.
Zum Glück war ich niemals richtig drin, denn ich bin aufgrund einer autistischen Störung kein Gruppenmensch. Im Zuge meines öffentlichen Engagements vertrauten andere Betroffene mir an, sie würden vor allem deswegen schweigen, weil sie vor genau dieser Ausgrenzung Angst hätten.
Wie blicken Sie als DIS-Betroffene heute auf die Aktivitäten dieser Szene, etwa auf die Videos von selbsterklärten Betroffenen bei Youtube, Instagram und anderen Kanälen?
Sehr gemischt.
Ich stehe der engen Zusammenarbeit einiger DIS-Blogger und Protagonisten mit einer Handvoll Therapeuten kritisch gegenüber, da sich diese beiden Gruppen in der Öffentlichkeit unentwegt gegenseitig bestätigen. Es erinnert an ein argumentatives Ping-Pong-Spiel, um den gemeinsamen Standpunkten durch wiederholende Zustimmung Seriosität zu verleihen.
Ich bin nach all den Recherchen auf Instagram fassungslos. Vor allem, wenn Betroffene detailliert berichten, was sie vor dem dritten Lebensjahr in blutrünstigen satanistischen Kulten erlebt haben – also zu einer Zeit, an die man sich üblicherweise gar nicht erinnern kann, da die sogenannte infantile Amnesie greift.
Diese Schilderungen bestehen auch nicht bloß aus winzigen Erinnerungsfetzen, sondern beinhalten ausführliche Folterungsabläufe. Angefangen von abgehackten Köpfen, die sie als winzig kleine Kinder in den Händen hielten, bis hin zum Kannibalismus und Vergewaltigungen durch mehrere Männer. Mit Verlaub, aber das sind keine Trauma-Berichte, das sind Gewaltfantasien.
Auf YouTube gibt es Betroffene, die vor allem bemüht sind, die Unterschiedlichkeit der Persönlichkeitsanteile zu präsentieren, zum Beispiel wechseln sich dunkle, verzerrte und roboterartige Stimmen mit einem kindlichen oder naiven Stimmchen ab. Auch die Mimik wird dementsprechend angepasst. Diese Darstellungen sind allerdings viel zu affektiv und unglaubwürdig, vor allem, da bei der Darstellung alle Anteile gleichermaßen ein Skript ablesen.
Es gibt aber auch DIS-Blogger, die ich gerne lese, sehr intelligente Menschen mit einem überaus feinen Radar. In dem Fall bedaure ich es zutiefst, wie sehr sie in dem Verschwörungsdenken verankert sind.
Das vollständige Interview ist im Skeptiker 1/2023 erschienen. Zur gedruckten Ausgabe geht es hier. Als epaper kann man die Zeitschrift hier bestellen.
Zum Weiterlesen:
- Mein Interview im „Skeptiker“, dissoziationen am 20. März 2023
- „Das Thema macht Angst“, Skeptiker 1/2023
22. März 2023 um 10:09
Ich bitte darum auch die DIS Szene auf Tiktok näher zu betrachten. Mir laufen nur hin und wieder Videos und Lifes dieser Leute über meine „For you Page“ aber es ist erschreckend wie die jungen Leute reagieren diese Videos sehen. Ich habe das Gefühl je jünger der Zuschauer ist um ehr sind sie gewillt es zu glauben.
22. März 2023 um 12:01
@Gast:
Danke für den Hinweis.
Ja, wir haben diese TikTok-Szene im Blick, von den „Bonnies“ bis zu Frau Howard etc.
Und ja, das ist erschreckend, was dort abgeht.
23. März 2023 um 10:19
Ein sehr interessantes Interview mit Blick hinter die Kulissen. Vielen Dank!
23. März 2023 um 13:38
Ich möchte bezüglich der DIS selbst und hier des genannten Facharztes Dr. Birger Dulz anmerken.
Er ist ein psychoanalytisch und an Otto F. Kernberg orientierter tiefenpsychologischer Psychotherapeut. Unter seiner Leitung entstand 1989 in Deutschland die erste Borderline-Station. Wenn er etwas zur DIS geschrieben hat, dann meines Wissens nach bezogen auf seine Patientinnen, die auf seiner Station als Borderline-Betroffene waren.
So ist auch zu verstehen, was er im von ihm mit herausgegebenen „Handbuch der Borderline-Störungen“ geschrieben hatte, wo er sich kritisch zur Satanic Panic geäußert hat.
Das belegt nicht, dass alle DIS-Betroffenen eigentlich Borderline-Betroffene seien. Das würde zudem voraussetzen, dass praktisch alle DIS-Betroffenen mindestens fünf Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung erfüllen. Das lässt sich so nicht belegen. Allerdings ist anzumerken, dass Birger Dulz durchaus die DIS als eigenständige Störung sieht.
Die DIS ist eine komplexe dissozative Störung, die in der Tat nicht isoliert auftritt. Dazu gehört die stark ausgeprägte dissozative Symptomatik selbst, nicht ausschließlich die DIS selbst.
Zudem leiden Betroffene zusätzlich unter unterschiedlichen komorbiden Störungen wie auch einer insgesamt komplexen posttraumatischen Symptomatik. Zu den komorbiden Störungen gehören u.a. Persönlichkeitsstörungen wie bspw. der Borderline-Persönlichkeitsstörung, was aber damit eben auch nicht zutreffen muss.
Zu berücksichtigen ist zudem die starke Ausprägung der dissozativen Symptomatik, nicht allein, welche Symptome bei Betroffenen beider Störungen vorkommen. Gerade auch hinsichtlich einer komplexen posttraumatischen Symptomatik gibt es Gemeinsamkeiten, das allerdings bedeutet nicht, dass DIS-Betroffene damit eigentlich die selbe Störung haben.
Das ist für die Wahl der geeigneten Psychotherapie relevant und auch wenn gerade im Kontext der Verschwörungserzählung ein solcher Eindruck entstehen könnte, findet die Psychotherapie der DIS zuerst vor allem in der Gegenwart statt und beschränkt sich nicht auf Traumaexposition. Das möchte ich hier grundsätzlich bezogen auf die störungsspezifische Psychotherapie anmerken.
Meines Erachtens geht es DIS-Betroffenen darum, dass es sich bei der DIS um eine eigenständige Störung handelt. Dabei ist insbesondere hinsichtlich älterer Betroffener, die vor langen Jahren ihre DIS-Diagnose erstmals erhalten haben, zu berücksichtigen, zu welcher Zeit das war.
Frau Huber ist unabhängig von der Verschwörungserzählung anzurechnen, wie sehr sie sich in Deutschland für die Anerkennung der DIS eingesetzt hat. Zeitlich fiel das zusammen mit dem damals noch vorherrschenden durch den Psychoanalytiker Otto F. Kernberg geprägten Verständnis der Borderline-Persönlichkeitsstörung, bis in Deutschland auch die evidenzbasierte DBT Verbreitung fand mitsamt der Forschung zur Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Ebenfalls zu berücksichtigen ist die Forschung zur DIS selbst und auch zu somatoformer Dissoziation, die DIS-Betroffene in starker Ausprägung innerhalb ihrer insgesamt komplexen Symptomatik kennen.
Durch die wissenschaftliche Forschung ist ein besseres und präziseres Verstehen von Störungen möglich, die sich in ihren Symptomen ähneln oder zumindest teilweise überschneiden können, aber sich dennoch bei genauer Betrachtung unterscheiden. Hinzu kommt die bereits angesprochene Komorbidität, die bedeutet, dass Störungen gleichzeitig nebeneinander vorhanden sein können, was sie aber nicht müssen.
Es ist auch so, dass sich DIS-Betroffene vorrangig eher nicht aufgrund der DIS um Psychotherapie bemühen, sondern erst aufgrund komorbider Störungen. Sie haben gerade aufgrund ihrer Symptomatik nur begrenzt Zugang zu dieser und das, was sie im Kontakt mit anderen Menschen kennen und indirekt erfahren, ist scham- und angstbesetzt.
Um so hinderlicher zum Verstehen ihres Erleben sind meines Erachtens Videos von Menschen, die sich als Betroffene präsentieren, das wahrscheinlich aber nicht sind. Für Laien ist das so dann nicht erkennbar, wer wirklich betroffen ist und wer nicht.
Seit Jahren bin ich selbst der Ansicht, die Aufklärung zur Satanic Panic sollte eine realistische Darstellung der DIS beinhalten aufgrund der im Kontext der Verschwörungserzählung teilweise verzerrten Darstellung. Das verzerrte Bild der DIS ist begleitet von einer für mich befremdlichen Faszination.
Nur haben Betroffene bspw. nicht hunderte vollständige Persönlichkeitszustände, wechseln nicht die Augenfarbe und haben nicht auf einzelne Persönlichkeitszustände beschränkte somatische Erkrankungen.
23. März 2023 um 13:55
@Monika Kreusel:
Ich möchte bezüglich der DIS selbst und hier des genannten Facharztes Dr. Birger Dulz anmerken.
Danke für die ausführlichen Anmerkungen.
Allerdings ist „hier“ nicht von Herrn Dulz und auch nicht von Borderline-Störungen die Rede – sondern nur in dem vollständigen Interview, das im aktuellen Skeptiker erschienen ist.
Insofern dürften diese Ausführungen hier nur für Skeptiker-Leser nachvollziehbar sein.
23. März 2023 um 14:44
@Bernd Harder
Ja, da hast du recht, hier im Blog ist das Interview nicht vollständig zu lesen und mein Kommentar daher erst nachvollziehbar, wenn man es im Skeptiker gelesen hat.
26. März 2023 um 09:47
„Stellungnahme zur pauschalen Infragestellung von Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs in organisierten und rituellen Strukturen
Berlin, 20.03.2023
– Die aktuelle Diskussion über sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Strukturen wirkt wie ein Déjà-vu: Es ist noch keine drei Jahrzehnte her, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt im familiären Kontext mit der massiven Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit zu kämpfen hatten. Ihre Berichte wurden damals ebenfalls mit der Verallgemeinerung abgewehrt, es handle sich um die Beeinflussung durch Beratung und Therapie.“
Aus der HP der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauch kopiert.
Bei dieser Stellungnahme wird weiterhin nicht zwischem organisierten oder rituellen Missbrauch (allgemein) und ritueller Gewalt spezifisch a la Satanic Panic (Internationale, oft elitäre, mächtige satanische Zirkel & Mind Control Programmierung/Project Monarch) unterschieden, jedoch den Kritikern eine Pauschalisierung vorgeworfen.
Der Vergleich auf Missbrauch im familiäre Kontext ist auch hinkend, da die Existenz von Familien eine Tatsache ist – im Gegensatz zu weltumspannenden, extrem einflussreichen satanische Kulten, wo die harten Beweise für eine Existenz dieser gerade bisher nicht erbracht werden (konnten).
Auf sachliche und inhaltliche Kritikpunkte am Satanic Panic Narrativ wird ebenso wenig eingegangen (Fehlende Beweise & Gerichtsurteile, Plausibilität & fehlende Realitätsbezug, Fragen bzgl. der Machbarkeit von Mind Control a la Project Monarch,…).
Pingback: Gedanken über Bedrohungen - Marvel Stella
21. April 2023 um 17:08
Auch hier noch mein Lob für das Interview. Habe mir nun den Skeptiker abonniert und es nicht bereut.
Wen das Thema interessiert wird nicht bereuen, sich zumindest diese Ausgabe zu kaufen.