Mitunter werden wir gefragt, warum wir das Treiben von Wahrsagern, Hellsehern oder spirituellen Coaches nicht unter dem Aspekt „Lebensberatung“ tolerieren können – auch wenn es „übersinnliche“ Fähigkeiten nicht gibt.
Einfache Antwort: Weil es sich dabei um Seelenpfuscher handelt, die etwaige Psychokrisen bei ihren Klienten weder erkennen noch fachgerecht auffangen können.
Beispielhaft wird das in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung (Buch Zwei, Seite 11-14, 3./4. Februar) geschildert:
Das Versprechen
Die Geschichte wird an dem jungen Ehepaar Jürgen und Sonja Müller entlangerzählt, die ein mehrtägiges „Phönix-Seminar“ bei Veit Lindau besuchten, der sich auf seiner Homepage als „moderner Mystiker“ vorstellt und bei Wikipedia den Titel „Heilpraktiker für Psychotherapie“ angibt.
Am vierten Tag des Seminars, so schildert es Jürgen Müller gegenüber der SZ, geriet er „in einen kritischen Zustand“:
Im Essensraum, während einer Pause, sei Müller schließlich „zusammengebrochen“:
Ein Blackout, körperlich und seelisch.
Veit Lindau widerspricht dieser Darstellung.
Doch auch ganz unabhängig von diesem konkreten Fall benennt die Süddeutsche das Problem:
Die neuen Coaches sind nicht zwingend darauf vorbereitet, mit psychisch Erkrankten verantwortungsvoll umzugehen. Ein Psychotherapeut, dessen Leistungen von den Krankenkassen übernommen werden sollen, muss ein Studium abschließen – Psychologie oder Medizin etwa – und anschließend noch eine jahrelange Weiterbildung.
Coach hingegen kann sich jeder und jede nennen, auch ohne jegliche Ausbildung und Erfahrungen.
Das bestätigt in dem Artikel die Autorin Charlotte Raven:
In einem Online-Seminar habe sie innerlich in die eigene Kindheit tauchen sollen. Es habe vorab keine Hinweise gegeben, „wie tief mit der menschlichen Psyche“ gearbeitet werde. Der Kurs habe sie retraumatisiert. Menschen mit traumatischen Erlebnissen würden gezielt mit „manipulativem Marketing angegangen“.
Darüber hinaus wird auf die Sendung
Psychotricks – Die bizarre Show der Life-Coaches
in der Reihe Reschkes Fernsehen (ARD) verwiesen:
Die Süddeutsche hat nach eigenen Angaben mit etwa 20 ehemaligen Teilnehmern von Lindaus Seminaren gesprochen:
In der zweiten Seminarhälfte […] trete Lindau wie ein „Heilsbringer“ auf, erzählen mehrere, wie ein „Guru“. Von den zehn Personen, die solche Kritik äußern, bringen vier eine von ihnen erlittene psychische Erkrankung mit dem Seminar in Verbindung, darunter Jürgen und Sonja Müller. Die anderen beiden erlebten depressive Episoden, die in zeitlichem Zusammenhang mit dem Seminar stehen.
Lindau sagt dazu, er weise vor dem Seminar ausdrücklich „auf die Wichtigkeit einer mentalen Stabilität“ hin. Jeder Teilnehmer des „Phönix“ beantworte zuvor einen ausführlichen Selbstauskunftsbogen. Ernsthafte körperliche und psychische Erkrankungen müssten der Seminarleitung vor der Buchung mitgeteilt werden. Auch ein „Nachsorge-Seminar“ werde angeboten.
Auf SZ-Anfrage halten psychologische Experten diese Maßnahmen nicht für angemessen und kritisieren solche „Großgruppensettings“.
Das Fazit des Ehepaares ist ebenfalls eindeutig. Jürgen Müller
… rutschte nach seiner Psychose in eine mehrmonatige Depression. Heute gehe es ihm wieder gut, sagt er. Bei einem Coach sei er seitdem nicht mehr gewesen.
Bei seiner Frau Sonja habe sich „das Leben eher verschlechtert“.
Zum Weiterlesen:
- Das Versprechen, Süddeutsche am 2. Februar 2024
- Psychotherapie bei Heilpraktikern: „Eine Anmaßung von Kompetenzen“, GWUP-Blog am 21. September 2022
- Video: Der Coaching-Boom – das Geschäft mit der Hoffnung, GWUP-Blog am 1. Januar 2024
- Studien zum Coaching mit Pferden, Skeptiker 4/2023
- SkepKon-Video: „Coaching auf Abwegen“ mit Uwe Kanning, GWUP-Blog am 5. Juli 2023
- Zynisch und gefährlich: der billige Positivity-Glitzer der spirituellen Coaching-Szene, GWUP-Blog am 1. Januar 2024
- Eso-Coaching treibt Betroffene „eher in Richtung Suizid als auf den Weg der Heilung“, GWUP-Blog am 6. August 2023
- Wenn Coaching gefährlich wird: Aussteigerin berichtet über die dunklen Seiten der Szene, watson am 13. April 2023
- „Erleuchtet oder abgezockt?“ – ZDF-Doku zum Thema Coaching, GWUP-Blog am 27. April 2023
- Geburtsdatenalgorithmen und Lichtsprache: Coaching-Methoden unter der Lupe, GWUP-Blog am 15. März 2023
- Charlotte Raven: Nicht noch ein Coaching-Buch. Komplett-Media 2023, 208 Seiten, 22 €
- Uwe Peter Kanning: Wider alle Vernunft – Coaching und HR-Management auf Abwegen. Pabst 2023, 348 Seiten, 30 €
3. Februar 2024 um 20:58
Es wird höchste Zeit für ein „Lebenshilfegesetz“, das übrigens seit sehr langer Zeit in den Schubladen von Berliner Ministerien herumliegt.
Man hielt es seinerzeit nicht für nötig. Es ist ähnlich wie bei der Pseudomedizin, früher stand ein „Hilfts nicht, so schadets nicht“ im Raum und – wie beim „Geistheilerurteil“ des Bundesverfassungsgerichts – die himmelsblauäugige Annahme, die Leute wüssen schon, in wessen Hände sie sich begeben.
All das war ein epic fail, q.e.d. . Der de facto rechts- und haftungsfreie Raum für Experimente am Menschen muss endlich beschränkt werden.
8. Februar 2024 um 12:25
Morgen bei Radio Eins vom RBB:
Die Weber: Zwischen Coaching und Therapie – wem vertrauen wir unsere Psyche an?
https://www.radioeins.de/programm/sendungen/sendungen/433/2402/240209_die_weber_23435.html
Etwas schwieriges Format mit Anrufer:innen-Einzellevidenz, jedoch auch meist Fachleuten.
Die Moderatorin, Sophia Wetzke, ist für diesen Podcast ausgezeichnet worden:
https://www.radioeins.de/archiv/podcast/greenhouse.html
Ich bin gespannt!