Wie ist das eigentlich möglich, in einer hoch entwickelten Industrienation des 21. Jahrhunderts längst überkommene Irrlehren wie Homöopathie nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern immer weiter zu etablieren, bis in Politik und Hochschulen hinein?
Dieser Frage ging Prof. Martin Lambeck bei der Skepkon 2013 in Köln nach.
Der Physiker machte dafür eine Gemengelage aus wirtschaftlichen Interessen, politischem Opportunismus, intensiver Lobbyarbeit und echten Überzeugungstätern verantwortlich, was sich unter anderem in Stiftungslehrstühlen und in der rechtlichen Sonderstellung der „Besonderen Therapierichtungen“ manifestiere.
Worauf sich die weltweit nahezu einzigartige Homöopathie-Affinität in Deutschland dagegen nicht stützt, ist eine nachgewiesene Wirksamkeit der Hahnemann-Erfindung.
Lambeck zitierte in diesem Zusammenhang unter anderem die gegenwärtige Inhaberin eines homöopathiefreundlichen Stiftungslehrstuhls der Carstens-Stiftung an der Berliner Charité, Claudia Witt, die den Forschungsstand zur Homöopathie so zusammenfasst:
Studien zeigen, dass Patienten, die sich homöopathisch behandeln lassen, meist chronisch krank und schulmedizinisch vorbehandelt sind. Ihre Beschwerden verbessern sich nachhaltig und die Effekte sind – soweit überhaupt erforscht ‐ mit denen schulmedizinischer Behandlung vergleichbar.
Inwieweit homöopathische Arzneimittel einem Placebo überlegen sind, ist unklar, für viele Indikationen gibt es keine Studien und vorhandene Studien finden widersprüchliche Ergebnisse. Bisher ist nicht eindeutig belegt, dass sich homöopathische Arzneimittel von Placebo unterscheiden.“
Das überrascht nicht wirklich, denn sollte sich alles, was zum Beispiel am Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften (IntraG) der Europa-Universität Viadrina behauptet und „erforscht“ wird, tatsächlich belegen lassen, dann wären 75 Nobelpreise fällig.
Das war jedenfalls der Stand vor drei Jahren.
In seinem aktuellen Skepkon-Vortrag erhöhte Lambeck diese Zahl auf „mindestens 81“ – denn zwischenzeitlich hat beispielsweise das anthroposophische Pharmaunternehmen Weleda ein Mittel namens Neurodoron auf den Markt gebracht, das „potenziertes“ (also stark verdünntes) Gold enthält.
Dieses „Neurodoron“ vereinigt gleich mehrere Parallelwissenschaften in sich, denn Gold hat in der Anthroposophischen Medizin eine herausgehobene Bedeutung inne:
Durch seinen Bezug zur Sonne, damit zum Licht und zum Herzen, spielt Gold in der Anthroposophischen Medizin eine besondere Rolle.
Das Edelmetall ist das dichteste der medizinisch verwendeten Metalle, es ist fast doppelt so schwer wie Blei. Gold ist gleichzeitig sehr dehnungsfähig, ein Gramm Gold lässt sich zu einem zwei Kilometer langen Faden ausziehen, ohne dass er reißt.
Also sind Dichte und Weite, Konzentration und Ausdehnung im Gold vereint – eine Polarität, die eine Ähnlichkeit zwischen dem Herzen als Organ und dem Gold als Metall erkennen lässt. Diese Verwandtschaft wird in der Anthroposophische Medizin gezielt genutzt – denn Gold kann die Eigenschaft des Herzens, sich zusammenzuziehen und auszudehnen unterstützen und so den natürlichen Rhythmus stabilisiert und reguliert.“
Aber nicht nur das.
Mineralien und Metalle seien zwar tote Substanzen – dennoch tragen sie laut Anbieter …
… eine Art Biografie ihrer Entstehungsgeschichte in sich […]
Mineralische und metallische Substanzen aus der Apotheke der unbelebten Natur sammelten ihre Heilkräfte während ihrer Entstehung im Laufe von Jahrmillionen in der Erdentwicklung.“
Na, da kann man nur hoffen, dass das Nobelpreiskomitee möglichst bald den Weleda-Katalog in die Hände bekommt.
Denn solche Sätze beschreiben genau das Gegenteil dessen, was die moderne Physik über die Nicht-Geschichtlichkeit der Atome lehrt.
Außerdem, so Lambeck weiter:
Hier wird das sogenannte Senkrechte Weltbild verwendet und die Signaturenlehre: Das Herz ist dehnbar, Gold ist dehnbar, also ist Gold ein Heilmittel für das Herz.
Sofern es auf die Dehnbarkeit ankommt, hätte man auch Silber oder Kupfer nehmen können. Außerdem soll das Herz sich nicht nur ausdehnen, sondern auch wieder zusammenziehen, also wäre die richtige Signatur Federstahl […]
Diese Aussagen der Anthroposophen markieren den Graben zwischen ihnen und der Physik. Dieser Graben ist unüberbrückbar. Nur eine der beiden Lehren kann richtig sein […] Wenn diese Aussagen richtig sind, müssen Physik, Chemie und Medizin radikal geändert werden.
Jetzt verstehen Sie, warum Neurodoron mein Lieblingsmedikament ist.“
Doch von solcherlei Petitessen lassen Politiker sich keineswegs abschrecken.
Gleichwohl anthroposophische und homöopathische Mittel überwiegend von den fünf „Parallelwissenschaften“ Alchemie, Romantische Naturphilosophie, Signaturenlehre, Esoterik und Falschphysik geprägt seien, erfreuen sich die „Besonderen Therapierichtungen“ des besonderen Wohlwollens der Politik.
Exemplarisch verwies Lambeck auf die Besuche der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und der derzeitigen baden-württembergischen Ministerin für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren, Katrin Altpeter, bei der Firma Heel in Baden-Baden.
Man kann eigentlich nur Cornelius Courts vom Science-Blog BlooDNAcid zustimmen, der das Skepkon-Referat „Parawissenschaften als gesellschaftlich akzeptierte Parallelwissenschaften“ so kommentiert:
Wenn Lambeck vorträgt, wird einem immer wieder klar oder noch klarer, wie absurd aber zugleich weitreichend die Annahmen sind, auf die sich gesamte Bereiche der Esoterik stützen, und wie unglaublich es tatsächlich wäre, wenn diese Annahmen stimmen würden. Unsere Welt wäre eine gänzlich andere.
Im gleichen Maße entsetzt es einen aber auch, wie hoch die Akzeptanz dieser Verfahren selbst bei Politikern und Fachleuten ist, und wie wenig die Wahrheit und die Bemühung, sie zu finden, noch zu gelten scheint.
Lambecks Vortrag war gut, aber so ernüchternd, dass ich geneigt war, mich einem Kommentator aus dem Publikum anzuschließen, der Lambeck nach einem guten Mittel gegen Depressionen fragte.“
Zum Weiterlesen:
- Martin Lambeck: Die Unterstützung der Homöopathie und ähnlicher Therapierichtungen durch die Krankenkassen, Skeptiker 3/2001
- Martin Lambeck: Irrt die Physik?
- Martin Lambeck: Was tun 20 000 deutsche Ärzte? Die Hufelandgesellschaft, das holistische Weltbild und ein Gegenentwurf. In: Skeptiker 1/2009
- Martin Lambeck: Harter Test für sanfte Heiler, ZeitWissen 2/2006
- Youtube-Video: Prof. Martin Lambeck kritisiert die Homöopathie
- Martin Lambeck im Skeptoskop
- Neues von der Ministerin für Homöopathie, Psiram am 6. Mai 2013
- Mit Alchemie gegen Heuschnupfen, skeptiker.ch am 11. Mai 2013
- Wie hat es die Politik mit der Wissenschaft? skeptiker.ch am 7. Mai 2013
- Anti-Aging-Kauderwelsch, skeptiker.ch am 1. Mai 2013
- Wir Mediziner – weshalb viele von uns lieber nichts von Skeptikern wissen wollen, skeptiker.ch am 3. April 2013
- Skepkon: Nazis über uns? Der Mythos Neuschwabenland, GWUP-Blog am 19. Mai 2013
- Skepkon: Globuli und Pharmazie – eine Liebesgeschichte? GWUP-Blog am 19. Mai 2013
- Die Homöopathie-Lüge oder Wie wirksam ist ein Buch? GWUP-Blog am 18. Mai 2013
- GWUP-Konferenz-Rückblick: Vorsicht Seelenpfuscher! GWUP-Blog am 18. Mai 2013
- GWUP-Konferenz-Rückblick: Pseudomedizin bei Autismus, GWUP-Blog am 18. Mai 2013
- GWUP-Konferenz-Rückblick: Der Publikumstag 2013, GWUP-Blog am 13. Mai 2013
- Von der 22. GWUP-Konferenz in Köln, BlooDNAcid am 12. Mai 2013
23. Mai 2013 um 21:45
Ist zwar etwas OT, aber bei Florian drüben gibt es einen amikalen und engagierten Austausch über die (oft schwierige) Kommunikation zwischen Skeptikern und Esoterik-Affinen:
http://scienceblogs.de/astrodicticum-simplex/2013/05/22/haretiker-abenteuer-mit-den-feinden-der-wissenschaft-und-ein-kritischer-blick-auf-die-skeptiker/
12. Oktober 2013 um 11:12
Das Thema ist explosiv – und berechtigt nach einem guten Mittel gegen Depressionen fragte. :-)))
12. Oktober 2013 um 17:57
Ja, man könnte explodieren ob des explosiven Themas – man reiche mir Baldrian in homöopathischen Dosen … ;-))
Die „Komplementärmedizin“ ist nicht nur bis in den universitären Lehrbereich vorgedrungen, sondern auch schon bis zum gemeinen Volk via APOTHEKENUMSCHAU (aktuelle Ausgabe, 15.10.13 B) in der Apotheke um die Ecke:
„Anders heilen
Chancen und Grenzen der alternativen Medizin“
Es wird dort ALLES jenseits der „Akutmedizin“ in einen großen Topf geworfen, gut durchgerührt und heraus kommt eine völlige Verwirrung der Begriffe … –
von Akupunktur/Homöopathie über Naturheilverfahren/Balneologie/Entspannungtechniken bis hin zum Schröpfen und zur „Ordnungstherapie“.
Alles gesund, heilsam und alternativ … und „komplementär“!
Waren also schon der gute alte Vater Kneipp und J. H. Schultz (Autogenes Training) „komplementär“ –
und wussten es bloß noch nicht … ;-)
Siehe dazu auch meinen Kommentar im Blog „Hat Recht, wer heilt?“
12. Oktober 2013 um 18:08
@Beobachter
Ja, Sie beobachten das richtig ;-)…die „Apotheken Umschau“ ist ein Werbemagazin und da man mit „alternativer“ bzw „komplementärer“ Medizin, Kasse machen kann, wird natürlich richtig die Werbetrommel dafür gerührt…
12. Oktober 2013 um 20:59
Apotheken möchten natürlich auch an gesunden Menschen verdienen. Husten, Schnupfen, Heiserkeit, Stress, Unwohlsein etc. Bei solchen Beschwerden versagt doch die Schulmedizin und Kliniker verweigern einem die computer-tomographie obwohl die Nase läuft und reden wollen sie auch nicht mit einem.
Klobuli, glaubuli ich, helfen solchen Menschen.denen die Vernunft nicht helfen kann.
12. Oktober 2013 um 21:49
@ Michel
Tja, so isses … ;-)
Selbst bewährte Hausmittel wie Kamillen- oder Salbeitee bei Befindlichkeitsstörungen („Naturheilverfahren“) gehören nun zur „Komplementärmedizin“ –
blöd wird`s nur dann, wenn behauptet wird, dass z. B. ein „Memon-Transformer“ (für 600 € !) im häuslichen Strom-Sicherungskasten gegen weitere Schlaganfälle schützt und wichtiger ist als eine Marcumar-Medikation.
Und skandalös ist es, das auch noch alten, gutgläubigen Leuten einzureden und sie Ratenzahlungsverträge für solchen „alternativen“ Eso-Mist unterschreiben zu lassen – und das mit Wissen von kassenärztlich zugelassenen Medizinern !
http://www.psiram.com/ge/index.php/Memon_Transformer
12. Oktober 2013 um 21:51
@ Michael
„Klobuli, glaubuli ich, helfen solchen Menschen, denen die Vernunft nicht helfen kann.“
Das meinen Sie doch hoffentlich ironisch, oder?