gwup | die skeptiker

… denken kritisch seit 1987.

Homöopathie, Ganzheitlichkeit und die sprechende Medizin

| 9 Kommentare

Unser Artikel

  • „Homöopathie: Wenn Skeptiker Hoffnungen zerstören“

ist schon jetzt einer der meist gelesenen Blog-Beiträge überhaupt.

Via Facebook erreichte uns dazu folgende Anmerkung:

Der Text gefällt, aber ich finde, dass auch auf den Vorwurf der unzureichenden Behandlung durch EbM stärker eingegangen werden sollte. Zweifellos sind die Gründe dafür nicht in der Methode, sondern in ihrer Ausführung und insbesondere der Finanzierung zu suchen. Vielleicht könnte die GWUP auch hier öfter den Finger in die Wunde legen (ich weiß, dass das bereits getan wird).“

Eben darum geht es in einem Interview, das heute bei Spiegel-Online erschienen ist:

Alternative Medizin: Wir müssen den Menschen als Ganzes betrachten.“

Wem ob dieser Headline Übles schwant, kann ganz beruhigt sein.

Gesprächspartnerin ist Dr. Jutta Hübner, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Prävention und Integrative Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft, die zu „Alternativmedizin“ eine dezidiert skeptische Einstellung hat, wie man zum Beispiel hier nachlesen kann:

  • Mistel und Ginko in der Krebstherapie? GWUP-Blog am 13. Mai 2011
  • Komplementäre Methoden in der Onkologie, Berichte vom Deutschen Krebs-Kongress 2012
  • Die zwei Seiten der Mistel, Offenbach-Post am 16. März 2010

Bekanntermaßen ist „Ganzheitlichkeit“ eines der Pfunde, mit dem Homöopathen und Co. wuchern – obgleich dieser Begriff in der „Alternativmedizin“ nichts weiter als eine inhaltslose Marketing-Phrase ist.

Gemeint soll sein, dass die jeweilige Quackmethode den ganzen Menschen sieht und nicht nur die Erkrankung“,

schreibt Psiram.

Nichts könnte falscher sein, denn:

Die Alternativmedizin benutzt überholte und unsinnige Modelle von feinstofflichen Schwingungen und Energien, für die es keinen Nachweis und auch keine Entsprechungen im menschlichen Körper gibt.“

Genau so sehen das auch Dr. Christian Weymayr und Nicole Heißmann, die Autoren der „Homöopathie-Lüge“:

 Wir wissen inzwischen entschieden zu viel darüber, um uns mit nicht näher erklärten und damit leeren Begriffen wie etwa dem der „Ganzheitlichkeit“ abspeisen zu lassen.

Ganzheitlich in einem modernen Sinne wäre es, einen Kranken als Persönlichkeit zu begreifen und ernst zu nehmen, gerade bei chronischen Leiden nach körperlichen und psychischen Ursachen sowie nach einer Behandlung für beides zu suchen.

Wir meinen, Patienten wäre besser damit gedient, eine solch umfassende Betreuung von ihren Ärzten einzufordern, als sich in ein weltanschauliches System wie die Homöopathie zu flüchten, das den Begriff der Ganzheitlichkeit zwar viel strapaziert, aber kaum mit Leben füllt […]

Ganzheitlich wäre es, einem an Rückenschmerzen Leidenden nicht einfach ein Schmerzmittel zu spritzen, sondern auch zu fragen, wie schwer er an Sorgen oder Stress zu tragen hat und in welcher Situation seine Beschwerden sich besonders schlimm anfühlen.

Es wäre ganzheitlich, ihn mit einer Kombination aus Physio- und Psychotherapie und gegebenenfalls Medikamenten so umfassend wie möglich zu behandeln.

Einen solchen Kranken im Sinne traditioneller homöopathischer Anamnese nach Nachtschweiß und Ohrproblemen zu fragen und danach, ob er lieber auf der rechten oder auf der linken Seite schläft, um ihm danach ein paar Zuckerkügelchen zu empfehlen, ist in einem zeitgemäßen Sinne aus unserer Sicht ganz und gar nicht ganzheitlich.“

Keineswegs also ist Homöopathie oder „Alternativmedizin“ der vermeintliche Ausweg aus dem medizinischen System, um Ideale von einer menschlicheren Heilkunst zu verwirklichen.

Ganz im Gegenteil:

Wenn man sich mal anschaut, wie umfassend ein Arzt in Biologie, Physik, Chemie, Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie, Pharmakologie, Psychologie etc. ausgebildet wird, dann ist es nicht vermessen zu behaupten, dass die universitäre Medizinerausbildung einem wirklich ganzheitlichen Ansatz folgt.

Die Medizin kann den Menschen in seiner Gesamtheit, vom biochemischen Geschehen in einer einzelnen Zelle, über neurologische und hormonelle Regelkreise bis zum Zusammenspiel des Stützapparates und der Muskeln ins Detail beschreiben und behandeln.“

Das erklärt auch der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Werner Hessel im Skeptiker-Interview:

Apropos ganzheitlich: Was ist denn schlecht daran, einen Patienten als Ganzes zu betrachten, wenn es um Heilung geht?

Hessel: Überhaupt nichts. Auch die EbM sieht den Menschen als Einheit aus psychisch- sozialem und biologischem Wesen und behandelt somit „ganzheitlich“ – allerdings ohne daraus ein besonderes Etikett zu machen und als etwas Exklusives vor sich herzutragen.

 Aber Rezeptblockmedizin gibt es doch wirklich in vielen Arztpraxen.

Natürlich, in unserem medizinischen Versorgungssystem wird viel zu wenig Wert auf eine ausführliche Anamnese mit ausführlichen Patientengesprächen gelegt – und die CAM stilisiert sich mit dem Etikett „Ganzheitlich“ bewusst als Alternative zu schlecht praktizierter Schulmedizin.

Die Frage bleibt aber: Ist es redlich, überwindbare Fehler der evidenzbasierten Medizin zu deren Wesen zu erklären und daraus die Überlegenheit der eigenen Methode abzuleiten?“

Und das ist exakt der Punkt, den auch Jutta Hübner im Spiegel-Interview anspricht:

Spiegel-Online: Die alternative Medizin boomt. Ist das Versagen der Schulmedizin der Grund?

Hübner: Ich glaube, dass die Ursache eine Sehnsucht – sowohl von Patienten als auch von Ärzten – nach einer menschlichen Medizin ist. Die findet man derzeit in der Schulmedizin kaum, weil wir sie rausgekürzt haben. Wer danach sucht, entdeckt sie plötzlich in der Komplementärmedizin.

Würde man menschliche Medizin in der Schulmedizin finden, bestünde gar kein Verlangen danach.“

Sind es auch ökonomische Überlegungen, die niedergelassene Ärzte dazu bewegen, Methoden wie etwa Homöopathie anzubieten?

Ich glaube, viele Kollegen haben subjektiv wirklich den Eindruck, dass die Globuli funktionieren. Zudem haben Ärzte eigentlich einen ganzheitlich altruistischen Ansatz: Wir wollen Menschen helfen. Doch die Schulmedizin ist so organisiert, dass man als Arzt kaum ganzheitlich handeln kann.

Im Gegensatz dazu steht die komplementäre oder auch alternative Medizin. Ich fange also als Arzt an, Globuli zu verordnen, obwohl ich eigentlich verstanden habe, dass das biochemisch gar nicht funktionieren kann.“

Wieso handelt die Schulmedizin nicht ganzheitlich?

Der finanzielle Anreiz fehlt. Nehmen Sie als Beispiel das Gespräch zwischen Patient und Arzt. Es ist für den Patienten absolut wichtig, weil er so vom Arzt verstanden werden und Empathie erleben kann. Von den Krankenkassen wird das Reden aber kaum bezahlt.

Der Arzt muss für seinen Umsatz schnell möglichst viele Patienten behandeln. Es gibt gesetzliche Krankenkassen, die Patientengespräche im Bereich der komplementären oder alternativen Medizin bezahlen, nicht aber im konventionellen Bereich. Das ist absurd.

Letztendlich holen wir so die Patienten aus einem gut funktionierenden medizinischen System in ein zweites. Viel sinnvoller wäre es, sich darüber klar zu werden, dass auch in der Schulmedizin das Reden die wesentliche ärztliche Tätigkeit ist.“

Würde mehr Zeit mit den Patienten nicht die Kosten weiter in die Höhe treiben?

Aus meiner Sicht würden wir sehr viel weniger Geld brauchen, weil wir uns viele Untersuchungen sparen könnten. Es wäre nicht nur die bessere, es wäre auch die preiswertere Medizin.

Wir sind in den letzten Jahrzehnten in unserer Gesellschaft den Irrweg gegangen, dass wir uns zu sehr auf Technik und Medikamente konzentriert haben. Dabei wissen wir aus der Wissenschaft, dass viele psychologische Faktoren für die Gesundheit wichtig sind.

Dazu brauchen wir keine Esoterik.“

Stimmt.

Und deshalb können auch wir nur immer wieder die Forderung unterstützen,

… der sprechenden Medizin eine Stimme zu geben.“

Zum Weiterlesen:

  • Skeptiker als Pharma-Söldner? GWUP-Blog am 21. April 2013
  • Alternative Medizin: „Wir müssen den Menschen als Ganzes betrachten“, Spiegel-Online am 20. April 2013
  • Tödliche Erfahrungen, Der Nesselsetzer am 20. April 2013
  • Alternativmedizin, Lebensqualität mit Krebs und die Schaden-kann-es-nicht-Hypothese, Fischblog am 19. April 2013
  • Eckart von Hirschhausen: „Glückwunsch, Sie haben Genu valgum“, Spiegel-Online am 23. April 2013

9 Kommentare

  1. Es besteht das Bedürfnis über die medizinisches Behandlung hinaus, quasi Psychotherapie inklusive. Außerdem bestehen Fr. Ängste vor unerwünschten Nebenwirkungen, weil suggeriert wird, es gäbe ‚ sanftere‘ Möglichkeiten. Dies kann teilweise auch stimmen, es werden Medikamente unbedacht verschrieben, manche Operationen sind überflüssig, etc. Das sind Anwendungsfehler , aber die passieren bei ‚altrnativen‘ Methoden ebenso – abgesehen von der fehlenden Wirksamkeit.
    Es gibt in der EbM ohne Frage Verbesserungsbedarf, aber es ist auch „Haus gemacht“, es sind letztlich ideologische Gründe, Vorstellungen von der „guten“ Natur und der schädlichen „Chemie“, die das Interesse befördern. Dagegen sollte man vorgehen, eher die Vorteile der modernen Medizin herausstellen statt sich über die Nutzer zu mockieren……:-)

  2. Der leider längst verstorbene Mathias Beltz merkte einmal an, dass „ganzheitlich“ das deutsche Wort für „totalitär“ ist ;-)

  3. Was ich gerne hätte wäre eine Suche für „skeptische“ Ärzte und Apotheken, die nicht nebenbei noch am Geschäft der „ganzheitlichen“ „Medizin“ mitverdienen. Bei der KV kann man leider nur nach diesen Leuten suchen, nicht nach „Skeptikern“ – sehr schade….

  4. @DF: Also ich wüsste eine Apotheke in Friedberg/Bayern und einen Arzt in Augsburg, die auch zum Skeptiker-Stammtisch gehören – ist das zu weit für Sie?

  5. @ Bernd Harder
    Haben Sie die gleiche Information auch für Köln?

  6. @ trixi

    Kürzlich erzählte mir ein Bekannter (der privat krankenversichert ist), dass er kurz seinen Hausarzt anrief und er ihn etwas fragen musste. Obwohl das Telefongespräch nur wenige Minuten dauerte, kam einige Zeit später eine Rechnung von ca. 28 Euro.

    Als er mir das schilderte, konnte ich nichts dazu sagen. Denn ich war sprachlos…

  7. @Pierre Castell:

    Auch Privatärzte sind an eine Gebührenordnung gebunden (GOÄ), die zum Beispiel für ein „eingehendes therapeutisches Gespräch“ (GOÄ 806) im Höchstfall rund 33 Euro vorsieht (für Psychiater, Neurologen etc.) und das „in Ausnahmefällen“ auch telefonisch geführt werden darf.

    Ansonsten ist die berühmte „Beratung, auch telefonisch“ (GOÄ 1) mit 10,72 Euro abzurechnen und eine „eingehende Beratung, nur mit besonderer Begründung“ (GOÄ 3) im Höchstfall mit 20,10 Euro.

    Normalerweise müsste der Sachbearbeiter bei der Privatversicherung das gemerkt haben (auch Privatrechnungen werden heute streng geprüft), denn das klingt schlicht nach Abrechnungsbetrug.

    Bezahlen muss Ihr Bekannter allerdings trotzdem erst mal …

  8. @ Bernd Harder

    Danke für die ausführlichen Informationen, hoch interessant.
    Da sich der Vorfall erst kürzlich ereignete, ist die Rechnung wohl noch nicht beim Sachbearbeiter seiner Privatversicherung gelandet.

    Werde meinem Bekannten Ihre Zeilen kopieren und ihn darüber informieren. Jeder Arzt soll bei guter Leistung gerne reichlich verdienen – aber bitte nur unter Einhaltung der vorgegebenen Bestimmungen!

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.