Na endlich:
Lehrer, Schüler und die Wirtschaft kritisieren Fächerkanon aus dem 19. Jahrhundert“,
meldet aktuell das Hamburger Abendblatt.
Infolgedessen hat der Schulsenat der Hansestadt sofort die geplante staatliche Waldorfschule in Hamburg-Wilhelmsburg gestoppt, wo auch Fächer wie Eurythmie, Spinnen und Buchbinden wohl Bestandteil des Unterrichts gewesen wären.
Prima!
Oder aber … Moment mal.
Erst mal weiterlesen, was da genau steht.
Ist es denn zu glauben? Es geht gar nicht um die Anthroposophen.
Stattdessen schafft Hamburg in allen Stadtteilschulen …
… das Pflichtfach Informatik ab“,
heißt es in der Meldung:
Bisher war Informatik Bestandteil des Fachs Naturwissenschaft und Technik. Dieses wurde nun aufgespalten, und Informatik soll künftig nur noch Wahlpflichtfach sein.
Schulbehördensprecher Peter Albrecht bestätigte am Mittwoch diese Entscheidung [von Schulsenator Ties Rabe, SPD], die gegen den Widerstand von Lehrer- und Schülerkammer gefällt wurde. Angesichts der Bedeutung der Informationstechnologien stößt die Degradierung des Fachs Informatik auch auf Kritik der Wirtschaft.“
Wieso wundert uns das jetzt nicht?
- In Nordrhein-Westfalen gibt’s keine Gelder mehr für archäologische Forschung – dafür fordert die Gesundheitsministerin „mehr Homöopathie“.
- Die IKK classic bringt einen Werbespot heraus, der die Botschaft vermittelt:
Chemie = Pharma = Böse und doof.
Mädchen = 6 in Chemie = Sowas von schlau, der pösen Pharma zu misstrauen und Homöoppathie toll zu finden, weil es ja ,Natur‘ ist.“
- Mehr als 30 „Hochschulen mit pseudowissenschaftlichen Lehr- und Forschungsinhalten“ in Deutschland listet das esoterikkritische Internetportal Psiram auf.
- Das öffentlich-rechtliche Bayerische Fernsehen verkommt anscheinend zur PR-Abteilung für Pseudomedizin.
- Parawissenschaften sind längst „gesellschaftlich akzeptierte Parallelwissenschaften“, beklagte Prof. Martin Lambeck bei der Skepkon 2013.
Nichtsdestotrotz empfehlen wir dem Hamburger SPD-Schulsenator als Wochenendlektüre den Cicero-Artikel
Deutschland fehlt eine Fortschrittspartei.“
Und allen Schülerinnen und Schülern, die sich vielleicht über das Informatik-Aus freuen, den Science-Blog-Beitrag:
Keine Ahnung von Mathematik zu haben, ist nicht cool“.
P.S.: Der Bund der Freien Waldorfschulen hat unlängst ein Büro für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg eröffnet.
Ist offenbar ein gutes Pflaster für die „Keimzelle der Esoterik in Deutschland“, wie Ursula Caberta die Anthroposophie genannt hat.
Zur Petition der GWUP gegen die geplante staatliche Waldorfschule in Hamburg-Wilhelmsburg geht es hier.
Zum Weiterlesen:
- Hamburger Schulpolitik: Diskussion bei GWUP-Facebook
- Oh je, NRW: Viel Homöopathie und keine Archäologie, GWUP-Blog am 29. März 2013
- Wissenschaftsfeindlichkeit: Droht uns eine Rückkehr ins Mittelalter? Welt-Online am 1. Dezember 2011
- Eine anmaßende Gesundheitsministerin und ihr Problem mit der Naturwissenschaft, Plazeboalarm am 27. Mai 2013
- Die (R)evolution des Lernens, ErklärFix am 30. Mai 2013
- Zuviel Text verwirrt (Bürgerkompetenz Rechnen), Mathlog am 30. Mai 2013
- ARD und ZDF: Zu viel Geld, zu wenig Leistung. Spiegel-Online am 31. Mai 2013
- Streit über Schul-Informatik, Spiegel-Online am 2. Juni 2013
- Hoaxilla-Podcast Nr. 107: Waldorf-Schule
1. Juni 2013 um 07:42
Inwiefern man sich in Hamburg mit Internet auskennt, beweist das dort ansässige Gericht mit seinen Urteilen ja allemal – oder?
1. Juni 2013 um 14:09
Es ist traurig, dass ein so wichtiges Fach wie Informatik für nicht all zu wichtig erachtet wird, ich selbst ärgere mich über meine mangelhaften Kenntnisse. Jedoch frage ich mich, was an handwerklichen Fächern (nicht als Ersatz zu Informatik oder anderen Fächern) falsch sein sollte?
Es gibt viel an der Anthroposophie zu kritisieren, nur die Kritik an den handwerklichen Fächern leuchtet mir nicht so ganz ein.
1. Juni 2013 um 14:14
@Moin:
Nun ja, ich würde „Spinnen“ und „Buchbinden“ im 21. Jahrhundert durchaus als nettes Hobby ansehen, weniger aber als gebräuchliches „Handwerk“, dessen praktische Anwendung es unbedingt zu erlernen gilt.
1. Juni 2013 um 15:03
@ Moin
du schreibst: „Es gibt viel an der Anthroposophie zu kritisieren, nur die Kritik an den handwerklichen Fächern leuchtet mir nicht so ganz ein.“
Auch der Inhalt der „handwerklichen Fächer“ in der Waldorfschule geht auf Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, zurück. Mit bizarren Folgen:
–
„Die Waldorfschulen informieren
(…)
Glossar
(…)
„Holzkochlöffel“: Alles in der Waldorfschule wird von Rudolf Steiner vorgegeben, so auch die Aufgabe „Holzkochlöffel“ für den Werkunterricht der 6ten Klasse. Ausgehend von einem rohen Holzklotz wird der Kochlöffel geschnitzt. Daran soll insbesondere das Scheitern gelernt werden: Diese Aufgabenstellung verzeiht keine Fehler.
Ich möchte hier nicht auf den „menschenkundlichen“ Hintergrund eingehen (Glück gehabt, Liebe Leser!), sondern mich an der Praxis orientieren. Frage: Welcher Sechstklässler kann trotz eines Verbotes der modernen Medien in der Waldorfschule noch nicht bei google „Holzkochlöffel“ eingeben? Richtig, die meisten werden es wohl können. Und was finden sie da? „Holzkochlöffel, 34 Cent“. Könnte es sein, dass sich da der ein oder andere fragt, was er 4 Wochen lang getan hat?
„Aber das ist doch ein Unikat, das ist doch ganz was anderes!“
Siehe den Friedhof der Kuscheltiere, Pardon, Friedhof der Schaukelpferde, in der Rudolf Steiner Schule Berlin Dahlem: Der Werklehrer, Herr B., zeigte mir seinen Keller: Dutzende von den Schülern aufgegebene Schaukelpferde … alles Unikate, mühsam von den Schülern gebaut.
(…)“
zum vollständigen Artikel: http://www.ruhrbarone.de/die-waldorfschulen-informieren/
1. Juni 2013 um 15:18
@Bernd Harder: Dass Buchbinden und Spinnen Handwerke sind, die heutzutage meist von Maschinen erledigt werden stimmt, jedoch werden heute noch Textilien und Bücher (und andere Produkte aus Papier) benötigt (ganz zu schweigen von Holz- und Metallbearbeitung und Landbau). Somit könnten diese Fächer durchaus auch gut als Grundlage der modernen Produktion gesehen werden.
1. Juni 2013 um 23:08
…frei nach Obelix ;-)
2. Juni 2013 um 12:21
@ Moin: Schon mal in einer modernen Schreinerei oder Schlosserei gewesen? Da drechselt keiner mehr, da wird der böse, böse Computer mit den Daten gefüttert und den Rest macht der PC zusammen mit der Maschine. Das ist Realität, kein Geschmuse mit Methoden des 19. Jahrhunderts.
Einfach mal Realität lernen……
2. Juni 2013 um 13:41
@Statistiker: an welcher Stelle behaupte ich das Computer böse sind (ich suggeriere sogar das Gegenteil, siehe mein ersten Kommentar).
Und ja, ich war schon in einer modernen Schreinerei und ja, ich habe auch mit modernen Schlossern zusammen gearbeitet. Auch war ich bei einer Berufsschule für Schreinerausbildung zu Gast. Aber was genau ist deine Kritik daran, deinem Kommentar zufolge, dass man zunächst Handwerksfächer kennen lernt? Dein Kommentar, welcher versucht mich lächerlich dastehen zu lassen, ist einfach nur traurig.
Meiner Meinung nach gibt es viel and der Anthroposophie (und demnach auch an der Waldorf“pädagogik“) zu kritisieren. Das, was Herr Lichte weiter oben andeutet, geht viel eher an echte Kritik heran.
2. Juni 2013 um 15:44
@ Moin
Du schreibst: „Das, was Herr Lichte weiter oben andeutet, geht viel eher an echte Kritik heran.“
„Weiter oben“ ist tatsächlich nur eine Andeutung, und viel mehr soll es hier und jetzt auch nicht werden …:
Ich habe eine Tischler-Lehre angefangen, bevor ich Industrie-Design studierte. Dabei lernte man auch Techniken, die heute von keinem „normalen“ Tischler im Berufsalltag mehr ausgeführt werden, z.B. „Hobeln“ – ganze Bretter aushobeln – mit der Raubank.
Hat mir Spass gemacht, und ich halte es auch für sinnvoll, nur ist es nicht so einfach: Die Zeit, die im Werk-Unterricht (der Waldorfschule) zur Verfügung steht, reicht nicht aus, um die Technik wirklich zu erlernen, geschweige denn, den FLow zu spüren …
In der Rudolf Steiner Schule Berlin Dahlem wurden tatsächlich Bretter gehobelt, für die Schaukelpferde, die dann von Schülern zurückgelassen wurden, und im Keller verstaubten: Die Schüler konnten sich nicht mit ihren Werkstücken – ihrer Arbeit –identifizieren.
Noch schlimmer fand ich aber, dass jede Arbeit ideologisch begründet wurde, selbst das Schnitzen von Holzschalen: Ein anderer Werklehrer forderte in meinem Beisein doch tatsächlich von einem Schüler mehr „Geist“ – natürlich „Geist“ à la Steiner …
ALLES in der Waldorfschule ist Anthroposophie – auch der Werk- und Kunstunterricht – es gibt keine „Waldorfschule light“, siehe auch die Aussage einer ehemaligen Waldorfschülerin zum Kunst-Unterricht in diesem Artikel:
‘Waldorfpädagogik ist gefährliche Esoterik’ – André Sebastiani im Interview mit der taz über die geplante ‘staatliche Waldorfschule’
2. Juni 2013 um 20:08
Selbst am ruhigen sonnigen Sonntag ist trixi aktiv und findet interessante Links;-)
2. Juni 2013 um 21:13
@ trixi
Oh, dann hatten wir in Köln heute mal Glück – hier war Sonnenschein.
Wenn es bei Ihnen regnete, hoffe ich, dass Sie nicht zu den Hochwasser-Geschädigten gehören…
30. Juni 2013 um 19:27
Waldorfschule ist so ein Thema für sich. Manche finden sie gut und andere wiederum nicht. Ich kenne ein Kind, welches von dieser Schule in eine „normale“ gewechselt ist. Der Junge kam bei dem Unterrichtsstoff überhaupt nicht mit. Ich weiß nicht, ob die Kinder kochen, putzen, spinnen, häkeln etc. lernen müssen. Sie sollten doch eher auf den Arbeitsalltag vorbereitet werden.
30. Juni 2013 um 23:52
@maideasy
Ja, putzen tue ich nicht und auch nicht häkeln – kochen notgedrungen – aber spinnen tue ich schon … :-)