Ein MDR-Artikel vom Samstag beschäftigt sich mit dem boomenden Esoterikmarkt in Russland. Schon vor einigen Jahrzehnten war in Russland eine Neigung zur Esoterik während Krisenzeiten zu beobachten:
Besonders deutlich wurde dies in den späten 1980er Jahren, als das riesige Land vor tiefgreifenden Veränderungen stand. Damals erlangte der Hellseher Anatoli Kaschpirowski eine landesweite Popularität, indem er Menschen über den Fernsehbildschirm „heilte“. Abend für Abend saßen Millionen von Zuschauern vor ihren TV-Geräten, während der selbsternannte Heiler behauptete, das Wasser in ihren Wohnungen mit „heilenden Energien“ aufzuladen.
Die aktuelle Lage führe zu ähnlichen Tendenzen im russischen Volk:
Heute spiegelt sich die aktuelle gesellschaftliche und politische Krise Russlands in der Suche nach mystischen Antworten wider. Fehlende Möglichkeiten, die Situation im Lande zu beeinflussen und die wachsende Unsicherheit über die Zukunft, lassen die Menschen nach Antworten in Tarotkarten, Horoskopen und schamanischen Ritualen suchen, während große Teile der politischen Elite diesen Trend bereitwillig fördert.
An den Umsatzzahlen scheint sich diese Entwicklung ebenfalls abzuzeichnen:
Numerologen, Astrologen, Schamanen, Wahrsager, diverse Magier und Heiler: Der Markt für okkulte Dienstleistungen in Russland boomt und erzielt Milliardenumsätze. Laut Forbes stiegen die Verkäufe von Wahrsagekarten im Jahr 2024 auf umgerechnet fast 19 Millionen Euro – zehn Millionen mehr als 2022. Seit 2021 haben sich die Verkäufe von Tarotkarten sogar fast versiebenfacht. Insgesamt gaben Russen nach Angaben der Zeitung MK (Московский комсомолец) vergangenes Jahr fast 24 Milliarden Euro für verschiedene esoterische Dienstleistungen aus […].
Dies widerstrebt der orthodoxen Kirche. In einem Audiobeitrag des Deutschlandfunks wird darauf hingewiesen, dass die russische Politik nun Maßnahmen gegen den Esoterik-Boom ergreift:
Mittlerweile hat die russische Politik den ungewöhnlichen Boom auf dem Esoterikmarkt als Thema entdeckt. Sie will Reklame für solche Dienstleistungen verbieten.
[…]
Es geht aber nicht nur um Verbraucherschutz. Wie fast jedes Thema im heutigen Russland hat auch dieses eine politisch-patriotische Dimension. Der Abgeordnete Witali Milonow sprach bereits im Sommer […] von einer Bedrohung für die russische Nation durch Astrologen, Wahrsager und andere. „Irgendwer im Ausland kontrolliert diesen riesigen Markt. Es nützt ihnen, die Leute verrückt zu machen, damit sie nicht mehr an die richtigen Werte glauben.“
[…]
Die Wächterin der ‚richtigen‘ Werte – das ist die russische orthodoxe Kirche mit Patriarch Kirill I. an der Spitze. Bei einer Veranstaltung im Kreml lobte er die Pläne der Abgeordneten […]: „Die Verbreitung neuheidnischer Ideen ist sehr besorgniserregend. Besonders gefährlich ist es, wenn diese Ideen sich unter Soldaten ausbreiten. Unsere Kämpfer bekommen Briefe und Päckchen mit neuheidnischen Symbolen und Hinweise auf irgendwelche pseudotraditionellen Rituale und Talismane, die ihnen angeblich helfen sollen. Dass Tarotlogen, Numerologen und andere Betrüger aus dem Bereich Okkultismus, Magie und Pseudowissenschaft stärker werden, ist eine Art ideologische Sabotage.“
[…]
Die russische orthodoxe Kirche geht noch weiter. Sie ruft zum Kampf gegen Satanismus auf. Er soll in Russland für extremistisch erklärt und verboten werden. Was unter Satanismus zu verstehen ist, bleibt bisher offen. Trotzdem hat die Duma reagiert. Sie will sich noch im Februar mit einem entsprechenden Gesetzesentwurf befassen – sehr zum Gefallen des Patriarchen: „Denken wir mal darüber nach; an der Front sind unsere Kämpfer bereit, Leben für Werte zu opfern, die die Satanisten eindeutig verachten. Der Satanismus ist auch politisch gefährlich. Das ist nicht nur Magie oder Exotik, es ist eine Ideologie, die unser nationales Selbstbewusstsein zerstört und somit unser Volk schwächt.“
[…]
Satanismus ist in Russland zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Vladimir Putin hatte 2022 westliche Eliten als „satanistisch“ bezeichnet.
Doch hinter den Kulissen scheint die Situation anders zu sein, wie der MDR-Artikel zeigt:
Auch Präsident Wladimir Putin inszeniert sich als Verfechter des orthodoxen Glaubens, soll aber auch eine besondere Faszination für Mystik und Schamanismus haben. Nun ist Schamanismus ein fester Bestandteil der Kultur vieler Völker, die im Osten Russlands leben. Daher ist ein Interesse des Präsidenten für diese Glaubensgemeinschaften und ein Treffen mit deren Vertretern nicht ungewöhnlich.
Doch Putins Interesse geht Gerüchten zufolge viel weiter, als für einen Staatslenker und vermeintlich gläubigen Christen üblich ist: Der russische Journalist und Spiegel-Kolumnist Michail Zygar behauptet, Putin solle an schamanischen Ritualen teilnehmen, und lasse sich in Fragen des Krieges von verschiedenen Mystikern beraten. Zygar beruft sich dabei auf eine kremlnahe Quelle. Auch Putins offizieller Besuch in der Mongolei im September 2024 soll dem Treffen mit Schamanen gedient haben.
Auch das Militär selbst verlässt sich auf übernatürliche Dienstleistungen: So berichtete eine Zeitschrift des Verteidigungsministeriums (Армейский сборник), dass russische Soldaten in Kampftechniken der Parapsychologie geschult würden und diese bereits erfolgreich im Einsatz angewendet hätten, um den Feind „berührungslos“ zu besiegen.
Der ganze Artikel lässt sich auf der Seite des MDR nachlesen.
Zum Thema:
- Podcast: Russlands Kampf gegen Okkultismus, Esoterik und „Satanismus“, Deutschlandfunk vom 13.02.2025
- Artikel: Krieg mit Gottes Segen – wie die orthodoxe Kirche Putin untersützt, MDR vom 14.09.2023
- Artikel: Warum Putin Rechte und Esoteriker so sehr betört, Der Standard vom 18.03.2022
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