Auf den ersten Blick scheint es ganz einfach:
Verschwörungstheorien erfüllen für Individuen und Gemeinschaften Funktionen, die denen der Religion „doch relativ ähnlich sind“, erklärt Prof. Michael Butter, etwa Sinngebung, die Einteilung der Welt in Gut und Böse und die Bewältigung von existenziellen Krisen.
Ergo sollte es eigentlich einen messbaren Zusammenhang zwischen dem Glauben an Religion und der Affinität zu Verschwörungstheorien geben.
Doch ganz so trivial ist es nicht. Offenbar kommt es auf die Form des Glaubens beziehungsweise die religiöse Praxis an:
Eine nur privat gelebte Religiosität hat eine Nähe zur Vorstellung von verborgenen Mächten und damit zum Verschwörungsdenken. Dort, wo Religion auch eine soziale Praxis hat, ist sie davor gefeit.
Wird der eigene Glaube als die einzig akzeptable Religion gesehen und andere Religionen abgewertet, findet sich bei diesen Menschen ein ausgeprägter Glaube an verborgene Mächte, die das Weltgeschehen steuern.
Und schließlich findet sich auch dort eine Nähe zum Verschwörungsdenken, wo das Gottesbild von Angst, Strafe und Schuldzuweisungen geprägt ist,
schreibt Andreas Hahn in seinem Buch „Entschwörung“ unter Berufung auf den Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster.
Tatsächlich hatte die Münsteraner Politikwissenschaftlerin Carolin Hillenbrand 2020 eine umfangreiche Online-Studie durchgeführt, die zeigte, dass
… diejenigen, die sich dem freikirchlich-evangelikalen Spektrum zuordneten, als besonders empfänglich für verschwörungstheoretische Ideen erwiesen haben. Die Zugehörigkeit zur katholischen oder zur evangelischen Kirche scheint hingegen die Abwehr gegenüber Verschwörungstheorien zu stärken.
Das heißt:
Ein exklusiver religiöser Glaube, der von einer „wir“ versus „die anderen“ (Othering)-Mentalität geprägt sei, scheine demzufolge ebenso wie Aberglaube und eine esoterische Tendenz eher zu einer Offenheit gegenüber Verschwörungserzählungen zu führen, als ein pluralistischer, toleranter Glaube, der auch für nicht-Mitglieder offen ist.
Auch andere Arbeiten als die von Hillenbrand/Pollack erbrachten, dass fundamentalistische oder alternative Religiosität positiv mit Verschwörungsglauben korreliert, während die in der Forschung etablierte Skala für Religiosität nicht oder sogar negativ damit in Zusammenhang steht (daneben existieren aber auch Studien mit dem Befund, dass Religiosität durchaus positiv mit Verschwörungsdenken korreliert, zum Beispiel hier oder hier – es gibt also unterschiedliche Erkenntnisse dazu).
Dass Menschen, die schlechter mit Unsicherheiten umgehen können, sich einerseits von eher fundamentalistisch-dogmatischen Glaubensrichtungen angezogen fühlen, aber auch gleichzeitig von Verschwörungsmentalitäten, sieht man zum Beispiel an der OCG und ihrem verschwörungsreligiösen „Sasekismus“.
Forscher am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Zürich fanden 2022 heraus, dass Religiosität per se kein signifikanter Treiber für Verschwörungsaffinität sei:
Es ist davon auszugehen, dass eine stärkere institutionell geprägte Religiosität die Verschwörungsaffinität nicht signifikant erhöht, da diese gesellschaftlichen und institutionell etablierten Strukturen bereits Halt in Krisenphasen geben.
Was allerdings die Affinität gegenüber Verschwörungsmythen massiv befördere, sei Spiritualität (definiert als Weltanschauung, die geprägt ist von der Annahme eines ganzheitlichen und lebendigen Kosmos und dem Gefühl eines spirituellen Selbst, das losgelöst von bestimmten religiösen Traditionen existiert).
Die Autoren schließen daraus, dass
… in säkularisierten Gesellschaften Spiritualität ohne die Einbindung in traditionelle religiöse Gemeinschaften mit einer verstärkten Offenheit für Verschwörungsmythen als Ersatzreligion einhergeht.
Mit „Conspirituality“ gibt es sogar bereits einen Neologismus für dieses neue Glaubenssystem.
Auch der Mainzer Sozialpsychologe Dr. Marius Frenken betont in einem Gespräch mit unserem Blog den starken Einfluss von Spiritualität auf den Glauben an Verschwörungstheorien. Was dagegen die Verbindung zwischen Religion und Verschwörungstheorien angeht, weist Frenken neben einem fundamentalistischen beziehungsweise alternativen Glauben auf einen weiteren bedeutsamen Faktor hin: die politische Überzeugung.
In seiner Studie „On the Relation Between Religiosity and the Endorsement of Conspiracy Theories: The Role of Political Orientation“ arbeitet der Sozialpsychologe heraus, dass eine Weltsicht, die zugleich religiös als auch politisch-ideologisch geprägt ist, die Affinität für Verschwörungstheorien erhöht.
Das bestätigt eine aktuelle Analyse aus den USA:
Je stärker die religiös-politische Identität eines Menschen ausgeprägt ist, desto hervorstechender ist auch der Glaube an Verschwörungen im eigenen Land – allerdings abhängig von nationalen Kontexten. Das betrifft zum Beispiel die christlichen Nationalisten in den USA.
Obgleich es auch in Deutschland rechte Christen gibt, sieht die Studie von Frenken hierzulande nur sehr geringe Wechselbeziehungen zwischen Religiosität, Verschwörungsmentalität und politischer Orientierung.
Zum Weiterlesen:
- Verschwörung als Ersatzreligion? Religiosität, Spiritualität und Verschwörungsaffinität in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik am 29. November 2022
- On the Relation Between Religiosity and the Endorsement of Conspiracy Theories: The Role of Political Orientation, Political Psychology am 11. April 2022
- Christ, Country, and Conspiracies? Christian Nationalism, Biblical Literalism, and Belief in Conspiracy Theories, Journal for the Scientific Study of Religion am 8. Mai 2023
- Andreas Hahn: Entschwörung. SCM Hänssler 2022, 208 Seiten, 17 €
- Studie untersucht Verschwörungsmythen und Haltung zu Religion, kirche-und-leben am 12. Januar 2021
- Verschwörungsdenken: Die gerechte Strafe Gottes, faz am 7. Januar 2021
- Wie Religion und Verschwörungsglaube zusammenhängen, hpd am 17. Mai 2022
- Verschwörungstheorien und Religion, tagesschau.de am 9. August 2018
- Mit erhobenem Kruzifix: Sind christliche „Querdenker“ eine neue Gefahr für unsere Demokratie? web.de am 3. Dezember 2020
- Die deutschen „Bible Belts“: Wie radikale Christen die „Querdenken“-Bewegung befeuern, focus am 24. November 2020
- Faktoren des Glaubens an Verschwörungstheorien, GWUP-Blog am 28. Juni 2023
- Verschwörungsmentalität und politische Orientierung, GWUP-Blog am 27. Juli 2022
- Verschwörungsglaube und sozioökonomische Faktoren, GWUP-Blog am 27. Juli 2022
- Dunkle Mächte, verdorbene Eliten – was ist dran an den Verschwörungstheorien? prima-magazin am 1. Juli 2023
2. Juli 2023 um 08:37
Es ist eine interessante Frage, ob Religiosität/Spiritualität und Verschwörungsglauben statistisch zusammenhängen, Kausalität ist noch einmal eine ganz andere Frage. Man könnte auf die Idee kommen, dass es anders ist. Verschwörungsglauben und Religiosität/Spiritualität erfüllen dieselben sozialen und psychischen Funktionen, also sind religiöse oder spirituelle Personen weniger anfällig für Verschwörungsglaube. Einige der hier vorgestellten Studien können diese Frage jedoch nicht beantworten.
Die Studien von Hillenbrand/Pollack und die „Fundamentalismus“-Studie von Lowicki et al. sind nicht repräsentative Online-Studien. Eine einfache Kritik an dieser Form der Erhebung findet sich in der Vorlesung Philipp Huebls Bullshit-Resistenz.
Kurz: Man befragt nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, welche die soziale Wirklichkeit der Gesellschaft nicht wiederspiegelt.
Die „alternative“ Studie fand nur ein Merkmal (Reinkarnation), das mit dem Glauben an einer Verschwörungstheorie (Big Pharma) korrelierte. Hat man gesucht und nichts gefunden? Der Fragebogen des World Value Surveys, wie so viele andere Surveys auch, strotz nicht gerade von Fragen zur „alternativen“ Religiosität.
Das Hubers Zentralitätsskala der Religiosität zu anderen Ergebnissen kommt als eine Fundamentalismus-Skala liegt daran, dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Dinge handelt, s. Huber, Stefan (2020). Hochreligiös gleich fundamentalistisch? Eine Einordnung. In: Faix, Tobias; Jung, Stefan; Künkler, Tobias (Hg.): Evangelisch Hochreligiöse im Diskurs, Kohlhammer, S. 53-66
Und ob es in Deutschland einen Zusammenhang zwischen politischer Identität und Verschwörungsglaube gibt, müssen quantitative Studien erst noch zeigen.
Liane Bednarz‘ Buch behauptet nur, dass es in den Kirchen rechte Netzwerke gibt, was weder überraschen noch besonders neu sein dürfte. Nur weil die Kirchen sich nach außen um ein liberales „Gesicht“ bemühen, bedeutet das ja gerade nicht, dass ihre „Schäfchen“ nicht andere Überzeugungen haben oder besser formuliert, es in den Kirchen kleine, meinetwegen auch einflussreiche Gruppen gibt, die politisch andere Überzeugungen haben.
2. Juli 2023 um 11:40
@Carsten Ramsel:
Und ob es in Deutschland einen Zusammenhang zwischen politischer Identität und Verschwörungsglaube gibt, müssen quantitative Studien erst noch zeigen.
Danke für die Hinweise. Sie haben Recht, das muss man differenzierter ausdrücken. Ich korrigiere diese Passage.
2. Juli 2023 um 22:30
Chesterton lässt seinen Pater Brown an einer Stelle sehr treffend folgendes bemerken:
Wenn die Menschen aufhören, an Gott zu glauben, glauben sie nicht an nichts, sondern sie glauben alles.
So gesehen, kann es schon sein, dass ein großer Irrtum vor vielen anderen schützt.