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Silvester-Rituale, Aberglaube, Esoterik und Sternenstaub

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Die Professorin für Angewandte Sozialpsychologie Barbara Stoberock im Welt-Podcast „Zehn Minuten Alltagswissen“ über ihre Glücksbringer-Forschung:

Fazit des Beitrags:

Aberglaube in Maßen [im Sinne einer positiven Selbstwirksamkeitserwartung] scheint eher positive Effekte zu haben.

Der Aberglaube an Glücksbringer könne aber auch gefährlich und störend wirken, wenn er die Person einschränkt, etwa wenn ein Ritual vor einer Prüfung sehr lange dauere oder wenn man den Glücksbringer vergesse und dadurch unruhig werde.

Allerdings sei es schwierig, „Aberglauben“ überhaupt zu erforschen, weil kaum jemand sich selbst als abergläubisch bezeichne, erklärt Stoberock:

Auch aus moralischen Gründen ist Aberglauben-Forschung nicht so ganz einfach. Man kann ein Ritual im Experiment einüben und dann ausführen lassen, aber man kann Studierenden vor der Klausur nicht den Glücksbringer wegnehmen, oder auch Top-Sportlern wie zum Beispiel Ronaldo die Rituale verbieten, nur um zu schauen, wie danach die Leistung ist. Es würde auch niemand an solchen Studien teilnehmen. Es ist also gar nicht so leicht.

Die Effekte scheinen auch generell nicht riesig groß zu sein, es gab auch Studien, bei denen keine Effekte von Aberglauben auf das Verhalten gezeigt werden konnten. Aber einige Studien zeigen das doch: Aberglaube in Maßen kann durchaus hilfreich sein.

Das mag „im Falle von Silvestertraditionen“ so sein – allerdings weist Katharina Nocun bei nd darauf hin, dass Aberglaube „dann nicht mehr harmlos [ist], wenn Leute wichtige Lebensentscheidungen von so etwas abhängig machen“:

Der Übergang von harmlosem Aberglauben hin zu gefährlicher Esoterik ist fließend. Entscheidend dafür ist oft, in welcher Situation sich der Mensch befindet und welches Gewicht der Aberglaube darin bekommt.

Ob es lediglich irgendein Talisman von der Mutter oder Oma ist, mit dem man schöne Erinnerungen verbindet, oder ob sich jemand, der Krebs hat, einen Heilstein kauft und glaubt, dieser ließe ihn jetzt gesund werden. Dann wird es schnell lebensgefährlich.

Wie brutal selbsternannte „Coaches“, Esoteriker und Astrologen die Sinn- und Glückssehnsucht von Menschen ausnutzen, zeigt – ansatzweise – die 3sat-Doku

Rituale, Esoterik, Aberglaube: Sinnsuche zwischen Spiritualität und Wissenschaft

Erschreckend, wie (bei Minute 31) die Berliner Astrologin Uli Mai mit simplem Barnum-Gewäsch bei ihrer Klientin einen emotionalen Ausnahmezustand herbeiführen kann.

Ob sie irgendeine ernstzunehmende Ausbildung hat, um mit solchen Situationen umzugehen beziehungsweise tatsächlich „Krisenbegleitung“ (LinkedIn) gewährleisten zu können, geht aus ihren Web-Profilen nicht hervor – da ist nur einem Literaturstudium und einer pseudomedizinischen Methode die Rede.

Immerhin halten Prof. Peter Brugger vom GWUP-Wissenschaftsrat und der Astrophysiker David Gruber dagegen, aber die False Balance triumphiert mal wieder (noch viel schlimmer ist es allerdings bei Zeit-Online – da weiß man nicht mal, ob das vielleicht eine Astro-Parodie sein soll).

Dass es in Wahrheit keinerlei Unterschied zwischen „seriöser“ (individueller) und „unseriöser“ (Zeitungshoroskope) Astrologie gibt – geschenkt, die standhafte Behauptung des Gegenteils gehört natürlich zum Selbstmarketing einer jeden sich „seriös“ gebenden Astrologin.

Darüber hinaus plappert Mai irgendwas von einer „Korrelation zwischen dem, was am Himmel passiert und was hier passiert“ daher, die „alle Kulturen seit den Steinzeitkulturen“ beobachten hätten.

Da hat der Zuschauer vermutlich längst wieder vergessen, dass Brugger kurz davor magisches Denken eben mit der Verwechslung von Korrelation und Kausalität erklärt hat.

Und wenn Mai sich wirklich für das astrologische Wissen alter Kulturen interessieren würde, könnte sie sich zum Beispiel beim „Zodiac“-Projekt an der Freien Universität Berlin darüber informieren. Dort wird auch ihre Überzeugung, Astrologie sei keine Glaubenssache und kein Religionsersatz, widerlegt.

Projektleiter Mathieu Ossendrijver erklärt dazu in einem Welt+-Interview:

Menschen möchten das Gefühl haben, ihr Leben kontrollieren zu können. Zu diesem Wunsch nach Sicherheit gehört auch, sich auf das vorbereiten zu können, was die Zukunft bringt – und dieses Schicksal vielleicht noch ein bisschen umlenken zu können. Die Astrologie bedient dieses Bedürfnis perfekt; auch deshalb, weil sie nicht falsifizierbar ist.

Wenn eintritt, was im Horoskop stand, fühlen sich die Menschen bestätigt. Wenn nicht, finden sie genügend Gründe dafür, warum es nicht stimmte – zum Beispiel, weil die Berechnungen falsch waren. Ein Horoskop liefert Informationen, die wir alle gern hätten und die keine andere Technik beschaffen kann.

Welt am Sonntag: Und was nun ist die religiöse Dimension daran?

Ossendrijver: Die Astrologie verknüpft das menschliche Leben mit Ereignissen im Kosmos und verleiht ihm dadurch einen viel tieferen Sinn. So haben in der Antike schon die Anhänger der stoischen Philosophie argumentiert.

Ich glaube, das finden die Menschen bis heute an Horoskopen attraktiv: die Vorstellung, dass die eigenen Geschicke aufs Engste mit dem großen Ganzen verknüpft sind. Man ist nicht nur ein kleines, unbedeutendes Staubkorn, sondern hat seinen festen Platz im Universum.

Fragt sich nur, was an der Tatsache, dass wir Sternenstaub sind, unbedeutend sein soll?

Zum Weiterlesen:

  • Wir alle sind aus Sternenstaub – und das sollte uns Trost spenden, rnd am 14. Oktober 2022
  • Wir sind Sternenstaub, SZ am 27. Juli 2017
  • „Menschen möchten das Gefühl haben, ihr Leben kontrollieren zu können“, Welt+ am 31. Dezember 2022
  • Aberglaube und Esoterik: „Die absurdeste Vorstellung kann gefährlich werden“, nd am 30. Dezember 2022
  • Daumen drücken und Glücksbringer – Warum sind wir abergläubisch? welt.de am 30. Dezember 2022
  • Hoaxilla #310: „Rauhnächte“ am 31. Dezember 2022
  • Der Zauber der Rauhnächte Feuerwerk, Bleigießen, Bibelstechen und Fischschuppen, mdr am 31. Dezember 2022
  • Zu Silvester werden wir doch alle ein wenig abergläubisch, FAZ am 29. Dezember 2022
  • Nur noch mit bunten Socken, SZ am 26. Dezember 2022
  • Führt Aberglaube wirklich zum Erfolg? wissen.de am
  • Wie Aberglaube hilft, SZ am 21. Juni 2010
  • Don’t stop believing: Rituals improve performance by decreasing anxiety, Organizational Behavior and Human Decision Processes, November 2016
  • #ferngespräch „Coaching“ jetzt auch als Hoaxilla-Podcast, GWUP-Blog am 28. Mai 2021
  • Bullshit Coaching, hpd am 24. September 2021
  • „Göttliche“ Berater: Gute Güte, brand eins am 11. März 2022
  • Grams‘ Sprechstunde: Placebo-Effekt – Die innere Apotheke, detektor.fm am 9. Juni 2022
  • Peter Brugger: „Ich bin ein konvertierter Gläubiger“, spektrum am 22. November 2012
  • Gläubige Schafe und denkende Ziegen, tagesanzeiger am 7. März 2008
  • GWUP-Thema: Aberglaube
  • Dieter Frey: Psychologie der Rituale und Bräuche. Springer 2018, 380 Seiten, 37,99 €
  • Stuart A. Vyse: Die Psychologie des Aberglaubens. Birkhäuser 1999

4 Kommentare

  1. Aberglaube ist dann ein Problem, wenn sich Menschen so weit darauf einlassen, dass sie zumindest teilweise aus einem rationalen Bezugsrahmen der „realen Welt“ heraustreten und irgendwelchem Hokuspokus zwischen Astrologie und Homöopathie Einfluss auf ihr Leben einräumen.

    Die Grenze ist schnell erreicht, das zeigt das Beispiel einer schnell überhandnehmenden Konditionierung auf irgendwelche Glücksbringer, die dann in ganz konkreten Situationen auf einmal „unverzichtbar“ sind und ihre Abwesenheit negative Gefühle auslöst.

    Ich schrieb in der Rezension von „Gefährlicher Glaube“ (Lamberty / Nocun) im letzten „Skeptiker“:

    „Die Autorinnen zeigen auf, dass es schon auf dieser Ebene des Konsums esoterischer Trivia um Lebenshilfe im weitesten Sinne geht, um Bewältigungsstrategien bei gefühlten oder realen Verunsicherungen und Bedrohungen, bei Autonomieverlusten, letztlich um Ängste. Und sind das nicht die gleichen Einstellungen und Befindlichkeiten, die auch Verschwörungstheorien, Wissenschaftsskepsis und Autoritätsglauben befördern?“

    Zweifellos gibt es eine „Harmlosigkeitsschwelle“, der Mensch ist kein rationales Wesen, auch Skeptiker nicht, und wir lassen uns ja auch den Vorwurf eines „reduktionistischen Materialismus“ nicht gefallen. Aber wenn Leute wie Mai diese Schwelle auch noch im Interesse ihrer Profession „wegreden“ wollen, dann wirds eng.

    Wie sagte meine Ruhrgebiets-Großmutter immer augenzwinkernd: Man soll nicht abergläubisch sein, das bringt Unglück!

  2. @Udo Endruscheit

    „Aberglaube“ ist das, was Andere glauben. „Magie“, was Andere tun.

    Bestimmte Formen des „Aberglaubens“ und der „Magie“ sind in unserer Gesellschaft häufiger und akzeptierter (z. B. RKK). Der institutionalisierte „Aberglaube“ ist es auch, der den Begriff erfunden hat, um den „richtigen“ Glauben vom „falschen Aberglauben“ zu trennen.

    Ich möchte also dafür werben, dass Skeptiker etwas begriffssensibler argumentieren. Und nein, ich bin kein semantischer Realist.

    Ansonsten erfüllen „Aberglaube“ und „Magie“ dieselben psychischen und sozialen Funktionen wie Religion und Spiritualität mit denselben (negativen) Konsequenzen.

  3. @Carsten Ramsel:

    Volle Zustimmung. Vor allem, dass der Glaube der anderen immer der Aberglaube ist. Deshalb ist ja die Sicht des Rationalisten durchaus nicht eine auf „Aberglauben“ (um doch wieder auf die Semantik zurückzukommen), denn diese ist ja eine Innensicht zwischen „Gläubigen“.

    Das ist ja auch der Hintergrund des oft gehörten Vorwurfs, Wissenschaft und Rationalität seien „auch nur ein Glaube“ – was die Möglichkeit impiziert, diese als Aberglauben hinzustellen.

    Ich habe ja die u.U. durchaus positiv zu wertenden sozialen und psychologischen Effekte eines gewissen, sagen wir mal, Mystizismus in meinem Kommentar keineswegs negiert oder gar geleugnet.

    Deshalb habe ich ja das Schadenspotenzial von Aberglauben (wie man es auch benennen mag) an das Überschreiten einer Grenze gebunden.

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