Mutiger Artikel in der NZZ, den sich vor allem eine Zeit-Kollegin mal aufmerksam durchlesen sollte:
Die renommierte Schweizer Journalistin Birgit Schmid hatte über mehrere Monate eine Frau begleitet, die sich im Alter von etwa 50 Jahren unvermittelt an sexuellen Missbrauch durch einen Pädophilenring in den siebziger Jahren erinnerte:
Nach dem ersten Treffen entschloss ich mich, mich auf die Geschichte einzulassen. Ein Jahr lang haben wir uns immer wieder getroffen und telefoniert. Die Geschichte tönte in vielem unfassbar, wenn nicht unglaublich.
Schmid stellte das offenkundige Leiden der Frau zu keinem Zeitpunkt infrage noch warf sie ihr vor, Geschichten zu erfinden oder gar wissentlich zu lügen.
Aber sie stellte – was auch ihre Aufgabe ist – Fragen. Etwa nach der Verlässlichkeit von Erinnerungen. Oder nach dem „Mythos der Verdrängung“ (Elizabeth Loftus).
Folge: Die Betroffene und ihr Anwalt untersagten der NZZ, den Artikel zu veröffentlichen.
Sattdessen brachte sie selbst ein Buch zu ihren Erlebnissen heraus, das von Medien wie Blick oder Glückspost kritiklos rezensiert wurde.
Schmid vertritt die Überzeugung, dass die Kolleginnen und Kollegen damit ihrer Verantwortung nicht gerecht werden:
Verbreiten sie unhinterfragt Geschichten über organisierte sexuelle Gewalt an Kindern, wozu auch Berichte über satanistische rituelle Gewalt gehören, kursieren diese bald in Verschwörungstheoretiker-Kreisen. Dort ist man längst überzeugt, dass eine pädophile Elite die Welt beherrscht.
Kinder würden so manipuliert, dass sie eine sogenannte dissoziative Amnesie entwickelten und die Traumata verdrängten. Erst in der Therapie würde das Verschüttete dann befreit.
Es ist eine schwierige Gratwanderung, welche die NZZ-Autorin überzeugend darlegt:
Niemand will das reale Leiden einer Person verleugnen. Dennoch müssen Medien auch Erinnerungen an schlimmste Verbrechen, für die es keine Belege gibt, mit einem Vorbehalt versehen. Journalisten und Journalistinnen sind keine Co-Therapeuten.
Übrigens hat sich jetzt die Ombudsstelle der SRG Deutschschweiz zu den zahlreichen Vorwürfen gegen die kritische Doku
Der Teufel mitten unter uns – „Satanic Panic“ in der Schweiz?
geäußert, in der es darum ging, dass die These der „satanistischen rituellen Gewalt“ nicht auf nachweisbaren Fakten basiert, sondern als Verschwörungserzählung gilt.
Die Dynamik von Verschwörungserzählungen werde treffend analysiert. Es sei sinnvoll, vor „false memory“ zu warnen. Allerdings sind die Ombudsleute der Meinung, das Reportageformat rec. eigne sich nur sehr bedingt für dieses Thema.
Um gewisse Probleme der Traumatherapie zu erklären, wäre in ihren Augen sehr viel mehr Aufwand – wohl in einem umfangreicheren Format – nötig gewesen.
Letzteres ist völlig richtig. Genau darauf warten wir noch.
Zum Weiterlesen:
- Sexueller Missbrauch: Dürfen Journalisten Opferberichte infrage stellen? NZZ am 7. Februar 2022
- „Der Teufel mitten unter uns“ von rec. war mehrheitlich korrekt, srg am 25. Januar 2022
- Video: Die „Satanic Panic“ hat jetzt die Schweiz erreicht, GWUP-Blog am 15. Dezember 2021
- Extreme und überraschende Reaktionen auf SRF-Beitrag „Der Teufel mitten unter uns“, DMZ am 17. Dezember 2021
- No Retreat, No Surrender: SRF zeigt, wie man mit den heftigen Anwürfen der „Satanic Panic“-Szene souverän umgeht, GWUP-Blog am 23. Dezember 2021
- Videovortrag mit Lydia Benecke: Ritueller Missbrauch, Satanic Panic, falsche Erinnerungen, GWUP-Blog am 1. November 2020
- Rituelle Gewalt aus psychologischer Sicht, EZW-Materialdienst 8/2019
11. Februar 2022 um 11:43
Dann hoffen wir mal, dass Frau Schmid von einem in solchen Fällen fast schon obligaten Shitstorm verschont bleibt, zumal sie als Frau es wagt, die Erinnerung von anderen Frauen an mutmaßlichen sexuellen Mißbrauch anzuzweifeln. Das ist schon ziemlich mutig.
11. Februar 2022 um 11:51
@nota.bene.
Ja, da haben Sie recht.
Wobei ich das so lese, dass Frau Schmid nicht anzweifelt, dass die Betroffe tatsächlich sexuellen Missbrauch erlebt hat – das ist ja der Punkt, auf den auch wir immer und immer wieder hinweisen, wenn es um die „Satanic Panic“ geht, z.B. ganz konkret bei „Nicki“, von der der besagte Zeit-Artikel handelt.
Sie fragt aber, „ob es sich genauso und in diesem Ausmass zugetragen“ hat, insbesondere wenn die Geschichte „in vielem unglaublich“ klingt und es keinerlei Beweise dafür gibt.
11. Februar 2022 um 23:52
Ach ja, wie ich diesen Mythos von der Verdrängung liebe … Nicht.
Der wird auch gerne benutzt, um asexuellen Menschen wie mir abzusprechen, dass sie asexuell sein können, und um uns einzureden, wir wären doch eigentlich hetero-/homo-/bi-/pansexuell (bevorzugt „selbstverständlich“ heterosexuell) und bräuchten dringend psychologische Hilfe, um ihr vermeintliches Trauma zu verarbeiten, dessen Existenz dann gerne behauptet wird, aber, wenig überraschend, nicht bewiesen werden kann.
13. Februar 2022 um 11:35
@Carmen Keßler/DasTenna:
Jaja, das Angebot schafft die Nachfrage. Wer nach einer traumatischen Erfahrung keine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt, ist krank und muss behandelt werden. Und wer eine entwickelt, auch.