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„Gefährlicher Irrtum“: Covid-19 ist eben nicht nur eine Grippe

| 9 Kommentare

Die Süddeutsche Zeitung (und bei SZ+) erklärt heute noch einmal, warum Corona nicht mit der Grippe vergleichbar ist.

Die wichtigsten Punkte:

Sars-CoV-2 hat deutlich gezeigt, dass es gefährlicher ist als die saisonale Grippe, wenn man die beiden wichtigsten Indikatoren heranzieht: das Potenzial andere anzustecken und zu töten.

Das Coronavirus überträgt jeder Infizierte im Schnitt auf zwei bis drei andere. Bei der jährlichen Influenza liegt der Wert für gewöhnlich deutlich unter zwei. Covid-19 tötet etwa ein Prozent seiner Opfer; die Sterberate ist ungefähr 20 Mal so hoch wie die der Grippe. Das lässt sich längst an den Statistiken sehen.

Weltweit sterben pro Jahr ungefähr 650.000 Menschen an der Influenza. Dem Coronavirus sind schon heute mehr als doppelt so viele Menschen erlegen – ein Ende ist noch nicht abzusehen. Besonders deutlich offenbart Sars-Co V-2 sein schauriges Potenzial in den USA: Die Grippekostet dort etwa 30.000 bis 40.000 Leben pro Jahr. An Covid sind in den Staaten bis heute mehr als eine Viertel Million Menschen gestorben.

Und auch in Deutschland übertrifft die Zahl der Covid-Toten – aktuell mehr als 14000 – längst die der Influenza-Opfer aus Jahren mit milder Grippewelle.

Der entscheidende Unterschied aber ist: Sars-Co V-2 ist neu.

Noch immer haben die meisten Menschen keine Immunität. Spezifische Mittel gegen das Virus fehlen, weshalb eben nur die groben und Jahrhunderte alten Waffen aus dem Arsenal geholt werden konnten: Quarantäne, Isolation, Gesichtsbedeckungen, Hygiene.

Tatsache ist: Wäre Ende vergangenen Jahres ein neues Grippevirus aufgetaucht, hätte die Welt höchstwahrscheinlich genauso reagiert. In der Tat waren die Pandemiepläne, die Experten Anfang 2020 eilig aus ihren Schubläden holten, auf ein neues Influenza-Virus ausgerichtet.

Die Humangenetikerin und Philosophin Sigrid Graumann, die auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, sagt dazu in der taz:

Krebs oder Herzinfarkt zum Beispiel sind nicht ansteckend. Eine exponentielle Verbreitung der Erkrankungen ist unmöglich. Deshalb lösen diese Krankheiten trotz hoher Todeszahlen keine Angst vor Kontrollverlust aus. Und im Gegensatz zur Grippe haben Medizin und Politik bei Corona das Problem, dass weder die Verbreitung noch die Behandlung des Virus richtig verstanden sind. Wir kennen die Risikofaktoren zu wenig.

taz: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung und zahlreiche weitere Ärzteverbände haben die aktuellen Kontaktbeschränkungen kritisiert. Sie widersprächen teilweise dem fundamentalen ärztlichen Prinzip, an erster Stelle Schaden zu vermeiden. Die wirtschaftlichen und sozialen Schäden seien zu gravierend. Was halten Sie davon?

Graumann: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft und weitere Wissenschaftsorganisationen sagen das Gegenteil. Die Wissenschaft ist uneins.

Aber so funktioniert sie eben: Thesen werden aufgestellt, kritisiert, bestätigt, verworfen oder verändert. Und dabei nähern wir uns der Wahrheit über das Virus langsam an.

Das spricht gegen „alternative Fakten“ ebenso wie gegen eine naive Wissenschaftsgläubigkeit.

Bei Welt+ weist der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Christian Stöcker auf ein bislang wenig beachtetes Problem hin: dass wir uns unter einem „exponentiellen Wachstum“ nichts Konkretes vorstellen können:

Es ist sogar empirisch extrem gut nachgewiesen, dass wir Menschen sehr schlecht darin sind, mit Exponentialfunktionen umzugehen. Es gibt Experimente mit Zehntausenden von Leuten, die einfache Aufgaben bearbeiten mussten.

Nehmen wir diese: Ein Teich wächst in 48 Tagen mit Seerosen zu, und das in einer exponentiellen Weise. Nach wie vielen Tagen ist er halb zugewachsen? Ungefähr die Hälfte der Probanden antwortete: Nach 24 Tagen. Die richtige Antwort ist natürlich, dass der See am vorletzten Tag halb zugewachsen ist.

Das ist das Wesen der Exponentialfunktion: Am Anfang geht es langsam. Und dann wird es immer schneller und schneller und schneller und schneller. So sehen diese Kurven aus, die wir zuletzt auch wieder sahen im Zusammenhang mit dem Coronavirus oder der Intensivbettenbelegung.

Ich glaube, ein grundsätzliches Problem besteht darin, sich diese enorme Beschleunigung vorzustellen. Und das wiederum liegt daran, dass sie in unserem Alltag sehr selten vorkommt.

Und nicht zuletzt hat die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ein Spezial zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise publiziert.

Es enthält die Beiträge:

Weitere Artikel der bpb zum Thema Corona gibt es hier.

Zum Weiterlesen:

  • Corona-Pandemie: Gefährlicher Irrtum, SZ+ am 25. November 2020
  • Ethikrätin Graumann zu Maßnahmen: „Furcht vor dem Kontrollverlust“, taz am 15. November 2020
  • Was das Seerosen-Beispiel über den Verstand vieler Menschen aussagt, Welt+ am 24. November 2020
  • Grippe versus Covid-19: Was ist gefährlicher? rnd am 23. Oktober 2020
  • Nein, es ergibt keinen Sinn, aktuelle Todeszahlen von Covid-19 mit älteren Daten zur Grippe zu vergleichen, correctiv am 5. Oktober 2020
  • Abrechnung mit dem “Aber 25.000 Grippetote”-Argument der Corona-Verharmloser, volksverpetzer am 25. August 2020
  • Nein, das RKI hat nicht bestätigt, dass Covid-19 „gleich gefährlich“ wie die Grippe sei, correctiv am 9. November 2020
  • Vergleich von Todesfällen durch Covid-19 mit Krankenhauskeimen oder Behandlungsfehlern ist irreführend, correctiv am 25. November 2020
  • Video: „Covid-19 ist viel tödlicher als Grippe“ mit Martin Moder, GWUP-Blog am 10. November 2020

9 Kommentare

  1. Seit meiner Schulzeit kenne ich Exponentialfunktionen und sehe sie auch immer wieder in wichtigen mathematischen Funktionen…natürlich gäbe es für den Virus kein „unendliches“ Wachstum, sondern es würde in einer Logistischen Funktion enden.

    Aber wenn es der aktuelle Gesundheitsminister nicht weiß, dann ist das schon befremdlich, da er Bankkaufmann ist, und der sollte etwas von Zinseszins-Rechnung gehört haben sollte (nach seinem Alter – heutige Schulkinder wissen nicht einmal mehr, was Zins ist ;-))

    https://www.youtube.com/watch?v=oYiFsYFX8wE

  2. Das Beispiel mit dem nach einer exponentiellen Funktion zuwachsenden Seerosenteich ist oben unvollständig wiedergegeben. Zu den angegebenen Zahlen fehlt die Wachstumsate von einer täglichen Verdoppelung der bedeckten Fläche. Ohne dem gibt es doch einiges mehr an richtigen Lösungen…

  3. „Nehmen wir diese: Ein Teich wächst in 48 Tagen mit Seerosen zu, und das in einer exponentiellen Weise. Nach wie vielen Tagen ist er halb zugewachsen? Ungefähr die Hälfte der Probanden antwortete: Nach 24 Tagen. Die richtige Antwort ist natürlich, dass der See am vorletzten Tag halb zugewachsen ist.“

    Das kommt *natürlich* auf die Größe des Exponenten an. Diese Aussage ist nur korrekt, wenn die Verdoppelungszeit einen Tag beträgt.

    Weiter kommt dieses Prinzip sehr häufig in unserem Alltag vor. Jeder der sich schonmal gewundert hat, dass die seltsam riechende Wurst gestern doch noch völlig in Ordnung war, kennt exponentielles Wachstum.

  4. „Vorsätzliche Panikmache!“
    (RTL WEST Chef und Journalist Jörg Zajonc zum Thema UMGANG mit Corona, vorgestern bei RTL);

    https://www.youtube.com/watch?v=Kq79aHCajJw
    __________________________________________

    „Ich bin kein Corona-Leugner!“
    https://www.youtube.com/watch?v=WQWMZGjMbq0
    (sämtliche Kommentare von ihm zu diesem Thema)

  5. @Lisa-Marie

    „Vorsätzliche Panikmache!“

    Sorry, aber der Herr Zajonc hat sie wohl nicht mehr alle. Seine Kritik an den neuen Coronaregeln und das Hin-und-Her der Politik (bis ca. 0:28 sec) kann man diskutieren. Aber danach hakt er völlig aus.

    „Kritische Stimmen gibt immer mehr. Sie werden nicht gehört“ – Ja? Wen meint er denn? Bitte Namen nennen und nicht nur bloßes Geraune. Denn Bhakdi, Wodarg und Konorten sind eben KEINE kritischen Stmmen.

    „immer mehr Tote“ – Hat Herr Zajonc etwa vergessen, dass wir momentan eine dreistellige an Coronatoten pro Tag haben? Und was ist mit den Toten in unseren Nachbarländern oder den USA? Auch alles Panikmache?

    „weniger Tote im Oktober“ – Das statistische Bundesamt sagt für ganz Deutschland das Gegenteil aus.

    https://www.tagesschau.de/inland/bundesamt-deutschland-sterbefaelle-101.html

    Wie nenmt man so etwas? Cherrypicking!

    „leere Intensivbetten“ – Die sich jetzt immer mehr mit Coronapatienten füllen, so dass an einigen Krankenhäusern schon Aufnahmestopp herrscht.

    https://www.berliner-zeitung.de/news/corona-aufnahmestopp-an-vier-berliner-kliniken-li.122205

    Zudem vergisst Herr Zajonc (mit Absicht?), dass es zahlreiche ehemalige Coronapatienten gibt, die nur mäßige Symptome hatten, aber jetzt immer noch unter Nachwirkungen leiden.

  6. @ RPGNo1

    Wollte nur auf seine Kommentare hinweisen.

    Durch meine bisherigen Kommentare wissen Sie vermutlich, wie ich darüber denke.

  7. @Lisa-Marie

    Kein Sorge, das war mir klar. :)

    Ich musste mir nur Luft verschaffen, dass ein Journalist in leitender Funktion die Coronapandemie so verharmlost und ihn RTL gewähren lässt. Eine kurze Google-Suche hat übrigens ergeben, dass Herr Zajonc für seinen Kommentar insbesondere aus dem rechtspopulistischem und Fake News-Milieu Zustimmung und Applaus erhält.

  8. Willer Nicolodi und seine neue Schutzmaske:

    https://www.youtube.com/watch?v=5y7PfqlJ-bQ

    (10 Sekunden)

    Wie bitte, Sie kennen Willer Nicolodi nicht?

    Hier sehen Sie ihn mit Edmund Stoiber und Christian Ude:

    https://www.youtube.com/watch?v=M3npxBizjKk&t=34s

    (ca. 5 Minuten)

    Und hier in der Satire-Sendung „Giacobbo/Müller“:

    https://www.youtube.com/watch?v=FvfTY4bqxEA&t=155s

    (6 Minuten)

  9. Pingback: Corona und Influenza: Nachruf auf ein „Argument“ – Gesundheits-Check

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