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Nostradamus debunked: keine „extrem präzise Prophezeiung zu Mega-EM-Terror“

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In Frankreich rollt endlich der Ball – doch die angespannte Stimmung verdüstert diesmal sogar das fröhliche Orakeln um den Turniersieger.

Heute erreichte uns folgende E-Mail mit der Betreffzeile „Extrem präzise Nostradamus-Prophezeiung zu Mega EM-Terror“:

Mir ist bewußt, daß eine Nostradamus-Prophezeiung den meisten Menschen sehr unseriös erscheint. Bitte nehmen Sie sich trotzdem 3 min Zeit um die angehängten Dateien zu lesen. Ich weise Sie hiermit auf einen eventuell geplanten Mega-Terroranschlag auf ein EM-Spiel Italien-Spanien (Finale?) an. Eine Anzeige bei der Polizei gemäß § 138 StGB habe ich bereits erstattet.“

Wir haben uns die Zeit genommen und die angehängte Datei gelesen.

Es handelt sich um eine Seite aus dem Buch „Nostradamus Klartext“ von Ray Nolan aus dem Jahr 2002.

Darin wird Vers 29 der IV. Centurie so wiedergegeben und kommentiert:

Auf Anhieb fällt auf, dass das Versmaß nicht mit dem Original übereinstimmt – Nostradamus schrieb keine Sechszeiler, sondern Vierzeiler, die sogenannten Quatrains.

Es existieren zwar einige Sechszeiler, die Nostradamus zugeschrieben werden, aber die Urheberschaft dieser Nachlassfunde ist umstritten und sie gehören jedenfalls nicht zum Hauptwerk des Renaissance-Gelehrten.

Das weiß der Absender der oben zitierten E-Mail sogar und schreibt dazu:

Nostradamus hat im 16. Jahrhundert Vierzeiler geschrieben. Ray O. Nolan, der Autor der angehängten Dateien, hat 2002 mit einem Computerprogramm aus den wirren Vierzeilern relativ aussagekräftige Sechszeiler gemacht.“

Tatsächlich?

Schauen wir uns den Original-Vers mal an:

nostraa

Übersetzen kann man dieses typische Nostradamsche Rätselbild in etwa so:

Die Sonne ist versteckt während der Abwesenheit Merkurs. Sie wird von niemand anderem aufgerichtet als durch den zweiten Himmel. Hermes wird aber zur Beute des Feuers gemacht. Die Sonne wird rein, rot und golden gesehen werden.“

Was hat das auch nur im Allerentferntesten mit der kreativen Umdeutung zu einem „Terroranschlag“ zu tun?

Genau: nichts.

Noch erstaunlicher: Auf seiner Homepage nostradamus-prophezeiungen.de führt Nolan selbst eine ganz ähnliche Übersetzung von Vers IV/29 an:

nolio

Offenkundig entspringt der am Computer konstruierte Sechszeiler „Terroranschlag der Zukunft – Olympiade oder Fußball-WM in Frankreich?“ nicht der neuzeitlichen Gedankenwelt des Nostradamus, sondern der blühenden Phantasie seiner heutigen Deuter.

Wie ist dieser „neue“ Vers überhaupt entstanden?

„… durch das Umstellen von Zeilen“,

schreibt Nolan dazu auf seiner Homepage.

Konkret hat er den Vierzeilern 6, 11, 36, 45 und 73 der IV. Centurie einzelne Sätze entnommen und zu einem Sechszeiler gemixt, dem er die „neue laufende Nummer“ IV/29 gibt – angeblich nach einem von ihm entdeckten „geheimnisvollen Schlüssel zu den Nostradamus-Prophezeiungen“.

Bei Licht betrachtet heißt das nichts anderes als:

Die Vorlage wird nicht mehr nach ihrem Inhalt und der wahren Bedeutung, die ihr Autor gemeint hat, herangezogen, sondern als ein riesiges Zufallsmuster, in das „Sinn“ hineinprojiziert wird.“

Demonstrieren kann man das zum Beispiel an dem Original-Vierzeiler IV/29 aus den Centurien, der nämlich keineswegs so „wirr“ ist, wie unser besorgter E-Mail-Schreiber meint.

Kurioserweise können wir dabei nahtlos an eine vermeintliche „Sensation“ anknüpfen, die Nolan schon 1996 in „Das Nostradamus-Testament“ zutage gefördert haben will.

In diesem Buch misst er dem Vers IV/33 eine ganz besondere Bedeutung zu, denn darin seien „wichtige Hinweise“ für den vermeintlichen „Nostradamus-Schlüssel“ enthalten, die man „als aufmerksamer Codeknacker unbedingt beachten sollte“:

noliii

Nolan schreibt dazu:

Denkwürdig an diesem Vierzeiler ist der Planet Neptun, den Nostradamus ganz offensichtlich im Zusammenhang mit einer astrologischen Konstellation erwähnt. Der Name Neptun, den sich erst 1846 ein Mann für den gerade neu entdeckten Planeten ausdachte, ziert seit dem Jahr 1555 den Text des 33. Verses in der 4. Centurie. Hier steht also für jeden lesbar ein Wort, das in den astrologischen Tabellen aus der Epoche des Sehers noch gar nicht existierte […]

Der Einwand einiger Kritiker, mit Neptun habe Nostradamus vermutlich den römischen Meeresgott gemeint, lässt sich angesichts der anderen im gleichen Vers aufgeführten Planeten Jupiter, Venus, Mond und Mars nicht sonderlich ernst nehmen.“

Das mag schon sein, denn dass Nostradamus hier keine antiken Götter aufzählt, ist in der Tat offensichtlich.

Allerdings geht es ebensowenig um den „Planeten“ Neptun.

Stattdessen wird hier sehr deutlich, dass der „Schlüssel“ zu Nostradamus in dessen erlebter Gegenwart im 16. Jahrhundert liegt und absolut nichts mit einem mysteriösen Zukunfts-„Code“ zu tun hat.

Nostradamus beschreibt in Vers IV/33 ein alchemistisches Ritual mit den sogenannten Planetenmetallen, die …

… im Altertum den damals bekannten Planeten zugeordnet wurden. Diese Metalle sollten die charakteristischen Eigenschaften der jeweiligen Planetengottheit widerspiegeln; beispielsweise das Waffenmetall Eisen den Kriegsgott Ares beziehungsweise Mars oder das Spiegelmetall Kupfer die Liebes- und Schönheitsgöttin Venus.“

Neptun steht in diesem Zusammenhang für Wasser.

metal

 Die vorausgehenden Verse – IV/28 und unser inkriminierter Vierzeiler IV/29 – leiten die Szenerie ein:

cebtu

Anscheinend schildert Nostradamus die Herstellung einer Legierung.

Sonne, Merkur und Vulcan repräsentieren Gold, Quecksilber und Feuer. „Hermes“ und „le ciel second“ sind Synonyme für „Merkur“, mit denen der bibliophile Nostradamus seine Gelehrsamkeit demonstrierte.

Hermes entspricht im Griechischen dem römischen Merkur und der „zweite Himmel“ bezieht sich auf die philosophische Lehre von den „himmlischen Sphären“ beziehungsweise auf das Standardlehrbuch de sphaera (1220) von Johannes de Sacrobosco, der zuerst den Mond, an zweiter Stelle Merkur und im Weiteren Venus und dann erst die Sonne und die oberen Planeten nannte. Nahezu alle neuzeitlichen Darstellungen des sphärischen Weltbildes beruhen auf dieser Abfolge.

Aus gutem Grund hat die historisch-kritische Nostradamus-Forschung längst Abschied vom „Propheten“ genommen und sieht in dem Arzt und Astrologen lediglich noch einen „Literaten im Versuch, gegen das Elend seiner Zeit anzuschreiben“ – keinen Hellseher oder Propheten also, sondern einen humanistisch beseelten Dichter und Philosophen, der ähnlich wie in Platons Höhlengleichnis an den Wänden seiner Dachkammer in Salon de Provence die dunklen Schatten des Spätmittelalters irrlichtern sah und seinen Zeitgenossen in vierzeilige Gleichnisse übersetzte.

Zurück zum Ausgangspunkt: Die Angst vor Anschlägen bei der EM 2016 ist mehr als verständlich.

Ernstzunehmende Voraussagen von „Sehern“ und „Propheten“ dazu gibt es indes nicht.

Zum Weiterlesen:

  • Wie analysiert man Nostradamus-Verse? GWUP-Blog am 21. April 2010
  • Der Spoiler zur Fußball-EM: Nordirland holt den Titel, Wahrsagerchecks-Blog am 8. Juni 2016
  • Die irrsten tierischen EM-Orakel, Welt-Online am 10. Juni 2016
  • Diese tierischen Orakel tippen bei der Fußball-EM 2016, WAZ am 10. Juni 2016
  • Mühlhiasl, Irlmaier und Co.: Die Angstmacher sind wieder da, GWUP-Blog am 11. Juni 2016
  • Nostradamus entschlüsselt: Ein Berg ist kein Heißluftballon und ein Mausoleum kein Papst, GWUP-Blog am 15. Juni 2016

4 Kommentare

  1. „Nostradamus“….Schon beim buchtstabieren dieses Namens bekommt man eine Gänsehaut und hat das Gefühl dass neben einem gleich ein Asteroid einschlägt.

    Letztens erst habe ich ihn, Nostradamus, wohl im Fernsehen gesehen, hoch über den betenden Papst und neben Obama, Merkel und Putin…Er stand mehr Hintergrund und hat für diese Genannten SOUFFLEUR gespielt…Oder stand Er im Vordergrund, oder am Abgrund ? Oder standen Obama und Merkel am Abgrund und der Putin im Vordegrund ? Vielleicht standen sie alle schon im Abgrund und mein Schnaps im Vordergrund ?

    Ich sollte morgen wenn ich nüchtern bin mal bei Nostradamus nachlesen…

  2. Wie praktisch, nachdem in Frankreich weder WM noch Olympia läuft, sondern nur die EM, brauchen wir uns keine Sorgen machen.

  3. Wo war denn jetzt Gestern der Mega-Terroranschlag bei Spanien-Italien?

  4. @Nostramus:

    Man darf, wie üblich, auch hier mit einer „kreativen Umdeutung“ der Nostradamus-Fans rechnen, a la “ … auf die Seele der spanischen Fußball-Nation“ oder ähnlicher Nonsens.

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