Heute in der Süddeutschen Zeitung (und bei SZ+):
In dem feuilletonistischen Seite Drei-Artikel legt Peter Richter dar, dass der Beginn von Industrialisierung und Moderne „bei vielen Leuten ein Gefühl von Kälte erzeugt“ habe. Der Erste Weltkrieg gab dann nochmals einen Kälteschub.
Die Antwort darauf konnte, unter anderem, aus den Wärmeöfen des Obskurantismus bestehen, aus dem Glauben an uralte, geheime Weisheiten und Wahrheiten, die nur verschüttet worden seien, von dem, was man die westliche Zivilisation nennt.
Über Rudolf Steiner, Franz Kafka („vertraute neben Ärzten auch einem dubiosen Naturheiler, war Impfgegner“) und Helena Blavatsky („Gewährsfrau intuitiver Einfühlung gegenüber den kalten Schulwissenschaften der weißen, alten Rauschebartmänner“) arbeitet sich der Autor in die Gegenwart vor, wo sogar …
… an den Universitäten subjektive „Erfahrung“ oft wieder gegen empirische Erkenntnis in Stellung gebracht wird.
Richter führt solche „Fluchten ins Pathos der Innerlichkeit“ auf die zunehmende Komplexität und Unsicherheit der Welt zurück und versieht den Pickspieß für seine verstreuten Momentaufnahmen schließlich mit dem Schlagwort „religioid“:
Religionsähnlich. Säkularisierung des Westens? Schön wär’s. Wenn die Kopftücher und Islamistenbärte auf den Straßen mehr werden, hat das offenbar eine Entsprechung; nur zeigt die sich halt nicht in volleren Kirchen.
Sondern in den Disziplinen „Erwachen“, „Innerlichkeit“ und „Heilen“. Kurzum in allem, was geeignet erscheint,
… den bösen Eurozentrismus von Aufklärung und Rationalität infrage zu stellen.
Das ist alles nicht falsch, andererseits hat man weitgehend identische Beschreibungen und Analysen mit den gleichen Protagonisten (Räucherstäbchen, Kürbissuppe, ZEGG und „Backwahn“) auch schon in den 1970ern, 80ern und 90ern gelesen, und so beschleicht einen am Ende eher ein starkes Déjà-vu-Gefühl als zeitgemäße Erleuchtung.
Bisschen mehr Aktualitätsbezug und weniger „Wärme“ und „Heimeligkeit“ hätte dem Ganzen gutgetan. Der eher unmotivierte Schlussschlenker zu AfD und Hessenwahl reißt das dann auch nicht mehr raus.
Zum Weiterlesen:
- Heil, Süddeutsche am 27. Oktober 2018
- Addendum-Projekt Esoterik: Von „Heilern“ bis Granderwasser, GWUP-Blog am 16. September 2018
- „Esoterik und Pseudomedizin: ein Plädoyer gegen Humbug, Lügen, Luftschlösser, Anmaßungen und falsche Versprechungen“, GWUP-Blog am 6. September 2018
29. Oktober 2018 um 22:31
Die subjektive Wahrnehmung ist immer einem Lern- bzw Denkprozess unterworfen…richtig ist es immer wieder sein subjektives Denken mit der objektiven „Wahrheit“ zu synchronisieren.
Was nützt es eine eigene Welt zu erschaffen, die vielleicht unsere narzisstischen Persönlichkeitsstrukturen befriedigt, aber nur wenig mit der objektiven Welt übereinstimmt.
Immer hört man von „Truther“, daß man seine „Schulweisheit“ hinterfragen soll und nicht alles glauben soll, aber sie glauben jeden Scheiß, den sie im Internet lesen, nur weil es vielleicht in ihr subjektives Weltbild passt.
31. Oktober 2018 um 09:59
Dieser Boom scheint mir vorwiegend in den alten Bundesländern stattzufinden.
Als Ossi sehe ich im Osten wenig esoterische Aktivitäten.Ich kenne vielmehr ehemalige Stasi Angehörige die hier keinen anständigen Job mehr bekommen haben und die in den Westen gegangen sind, um dort in das EsoterikGeschäft einzusteigen, da die Leute dort empfänglicher für solchen Humbug sind.
Für mich spielt in diesem Fall die Sozialisierung eine entscheidende Rolle: Wer diese esoterische Gehirnwäsche von klein an als „Alternative Methode“ suggeriert bekommt und sieht dass viele so „ticken“, wird auch als Erwachsener auch so denken.Wiegesagt ,viele aus dem Osten sind rüber,um in der Eso-Szene ihr Geld zu machen.Und die Wessis zahlen in den Falle ja ausgesprochen gut,was sich inzwischen ja auch in Rußland herumgesprochen hat.