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Havanna-Syndrom: Angriffe oder psychogenes Massenleiden?

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Was ist das für ein Geräusch, das hier (ab 0:15) zu hören ist?

Aufgenommen wurde dieses monotone schrille Pfeifen ab 2016 von Mitarbeitern der US-Botschaft in Havanna. Es soll sich dabei um Geräusche handeln, die dem mysteriösen Havanna-Syndrom vorausgingen.

Wenn einige Frauen und Männer des Botschaftspersonals dieses akustische Phänomen wahrnahmen, stellten sich kurz danach Symptome wie Schwindel, Kopfschmerzen, Tinnitus, Sehstörungen, Übelkeit oder Gedächtnisverlust ein.

Ein verdeckter Angriff eines gegnerischen Geheimdienstes mit Schallkanonen oder Mikrowellenwaffen?

Im September 2020 veröffentlichte die Webseite Buzzfeed einen Bericht des amerikanischen Außenministeriums, der bereits 2018 von der wissenschaftlichen Beratergruppe JASON angefertigt worden war, aber als „geheim“ eingestuft wurde – bis Buzzfeed die Freigabe nach dem Freedom of Information Act erreichte.

Darin heißt es, dass die seltsamen Geräusche „most likely“ von Grillen stammen, genauer gesagt von der Kurzschwanzgrille, die in Kuba häufig vorkommt:

Die Rufe dieser Tiere stimmen in nuancierter Detailtreue mit [. . .] Aufnahmen aus Kuba überein, wenn man das Echo in den Räumen miteinbezieht.

Verständlich, dass Betroffene diese Einschätzung nicht teilen.

Das Zeit-Magazin zeichnet die Biografie eines Diplomaten und eines CIA-Agenten nach, die sich durch das Havanna-Syndrom bis heute stark beeinträchtigt fühlen. Letzterer, ein Mann mit dem Pseudonym „Adam“, gilt als das erste offiziell bekannt gewordene Opfer, „patient zero“.

Er berichtet vom Abend des 29. Dezember 2016:

Adam ist in seinem Schlafzimmer in Havanna. Er darf nicht darüber sprechen, was er damals dort machte; andere Opfer bestätigen jedoch, dass er an der Botschaft undercover für die CIA arbeitete. Adam hört damals zuerst die Hunde bellen. In Kuba gibt es viele streunende Hunde, aber selten bellen so viele gleichzeitig.

Nach dem Bellen hört Adam ein lautes Geräusch, er fühlt einen unglaublichen Druck auf seinem Kopf und ein Stechen im Ohr. „Als hätte mir jemand einen Stift bis zum Trommelfell in den Gehörgang gesteckt“, sagt er. Der Druck wird so stark, dass er bewusstlos wird.

Als er wieder zu sich kommt, verlässt er, so schnell es geht, das Schlafzimmer. Er verbringt die Nacht bei seiner amerikanischen Freundin, die ebenfalls für die Botschaft arbeitet. Er erlebt diese Angriffe in den nächsten Wochen wiederholt. Nicht jeden Tag, aber immer im Schlafzimmer, immer am Abend.

Wenn er den Raum verlässt, verschwindet der Druck.

Der zweite Protagonist der Zeitmagazin-Story ist der Foreign Service Officer Robyn Garfield, der 2018 als Mitarbeiter des amerikanischen Konsulats in Shanghai das Gleiche erlebte wie „Adam“ auf Kuba:

Drei Jahre lang hat Garfield überlegt, ob er mit uns sprechen soll. Er hat das, was ihm in Shanghai geschehen ist, so genau dokumentiert wie kaum ein anderer der über 200 amerikanischen Spione und Diplomaten, denen Ähnliches passiert ist. Aber er arbeitet eben nach wie vor für das Handelsministerium.

Neben ihm steht an diesem Abend ein schwarzer Rucksack mit Krankenakten und Papieren, die Auskunft über die letzten vier Jahre seines Lebens geben. Es geht darin um Gehirnschädigungen, unter denen Garfield und die anderen leiden.

Zur Folge haben sie Gleichgewichtsstörungen, verminderte Leseleistung, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisverlust. Seinen Job in Brüssel zu machen koste ihn eine unglaubliche Anstrengung, sagt Garfield. Er könne die nötigen Informationen einfach nicht mehr in der erforderlichen Geschwindigkeit aufnehmen. Einige seiner Kollegen mussten ihren Beruf ganz aufgeben.

Die Unterlagen im Rucksack geben Einblick in eine der bislang mysteriösesten Angriffsserien gegen amerikanische Diplomaten und Spione seit dem Kalten Krieg. Möglicherweise durchgeführt mit einer weitgehend unbekannten neuen Technik, von einem feindlichen Staat. Darauf deuten viele Indizien hin.

Die Unterlagen im Rucksack offenbaren jedoch noch etwas anderes. Sie zeigen die Hilflosigkeit, mit der die US-Regierung bislang auf dieses Phänomen reagiert hat.

Und das ist die Limitierung des mehrseitigen Zeit-Artikels. Es geht darin weniger darum, das Havanna-Syndrom in allen seinen Facetten darzustellen, als vielmehr um die hochemotionale persönliche Leidensgeschichte von „Adam“ und Robyn Garfield, die sich von ihrem Dienstherrn im Stich gelassen fühlen.

Das mag ja auch stimmen – aber was hat es nun mit dem rätselhaften Havanna-Syndrom auf sich?

Kurz gesagt: „Die konkrete Ursache des Havanna-Syndroms ist derzeit noch vollkommen unklar“, wie es bei Wikipedia heißt (der deutschsprachige Artikel ist allerdings sehr viel dürftiger als die englische Version). Die amerikanischen Behörden bezeichnen die Ereignisse als „unexplained health incidents“ (ungeklärte Gesundheitsvorfälle).

Schauen wir uns die vier größeren Untersuchungen der jüngeren Vergangenheit an:

  • Der JASON-Report von 2018 im Auftrag des US-Außenministeriums (erstellt von einer unabhängigen advisory group namens JASON, veröffentlicht von Buzzfeed Ende September 2021).

Neben dem Hinweis auf Insekten als Quelle der Geräuschwahrnehmung der Betroffenen verwirft das Gremium die Mikrowellen- und die Schallwellen-Hypothese als „sehr unwahrscheinlich“ und fokussiert stattdessen auf „psychogenic mass psychology effects“.

Diese Erklärung favorisieren auch Hoaxilla und Schlecht Beraten sowie das Skeptic-Magazin. Auch für den Skeptical Inquirer ist das „the only one [hypothesis] that makes any sense at all“.

Darin heißt es, dass viele der beobachteten Symptome „konsistent mit den Wirkungen“ seien, „die Angriffe mit Mikrowellenstrahlen“ haben können. Die NAS-Arbeit wird indes von Experten kritisiert, die unter anderem die schlechte Qualität der zugrunde gelegten Studien bemängeln.

  • Ein von der CIA zusammengestellter Bericht der US-Geheimdienste von Januar 2022.

Demzufolge sei es unwahrscheinlich ist, dass Russland oder ein anderer ausländischer Gegner hinter den „unexplained health incidents“ stecke. Die meisten der rund 1000 Fälle seien plausibel durch umweltbedingte Ursachen, nicht diagnostizierte Krankheiten oder Stress zu erklären. Allerdings blieben etwa zwei Dutzend Fälle ungeklärt.

  • Eine Ergänzung zu diesem CIA-Bericht von einem „panel of experts assembled by the Biden administration“, vorgestellt im Februar 2022.

Für die rund zwei Dutzend verbleibenden Fälle (vor allem die 21 Ereignisse in Havanna) wird in diesem Report eine Art elektromagnetischer Strahlung ins Spiel gebracht. Stress oder psychosomatische Faktoren könnten nicht allein für die Symptomatik des Havanna-Syndroms verantwortlich sein. „Pulsed microwaves or ultrasound beams“ seien zumindest keine unmögliche Erklärung und sollten weiter untersucht werden.

Laut Buzzfeed sind Experten sich uneins, ob solche Waffenkonstruktionen für einen unbemerkten gezielten Angriff auf einzelne Personen in Botschaftsgebäuden, Hotels und Privathäusern überhaupt technisch machbar sind – das neuartige mikrowellenbasierte Drohnenabwehrsystem „Thor“ ist jedenfalls kein Beweis dafür, wie Hoaxilla nachvollziehbar erklären.

Dennoch heißt es in dem CIA-Bericht, dass es Quellen gebe, die „verdeckbar sind und einen moderaten Energiebedarf haben“. Unter Verwendung von „Nicht-Standard-Antennen und -Techniken könnten die Signale mit geringem Verlust durch die Luft und Baumaterialien“ übertragen werden.

Auch das Zeit-Magazin zitiert einen anonymen „amerikanischen Ingenieur und Plasmaphysiker“, der es für möglich hält, ein „kleines, möglicherweise batteriebetriebenes“ Mikrowellengerät zu konstruieren, „so groß wie ein Laserdrucker“, das „eine Distanz von vielleicht zehn Metern, beispielsweise durch die Wand in ein Nebenzimmer“ überbrücken könne.

Der These von den gepulsten Mikrowellen widersprechen jedoch andere Forscher massiv, so etwa der Bioingenieur Kenneth Foster:

It is just a totally incredible explanation for what happened to these diplomats. It’s just not possible.

Der Neurologe und Autor Robert Baloh sagt:

Ich glaube, dass sie [die Ersteller des Berichts] zu dem Schluss kamen, dass es keine Waffe gibt, aber sie verbiegen sich, um die Opfer nicht zu beleidigen.

Aber warum? Muss man erst mysteriöse Superwaffen und „Angriffe“ erfinden, um den Betroffenen einer „Mass Psychogenic Illness“ (Baloh/Bartholomev) angemessene Hilfen zuteilwerden zu lassen?

Im September 2021 votierten die Abgeordneten des amerikanischen Repräsentantenhauses für ein Gesetz, das den Opfern des Havanna-Syndroms finanzielle Unterstützung garantieren soll. Vier Wochen später unterzeichnete Joe Biden den Havana Act, dem zufolge allen Betroffenen, auch denen in Moskau, China, Berlin oder Wien, der nötige Beistand gewährt werden muss.

Wie die Hilfe und die Bedingungen dafür aber genau aussehen, darüber wird noch verhandelt,

schreibt das Zeit-Magazin.

Für Robyn Garfield bleibe das Gefühl, „dass da eine Institution gegen sich selbst und ihre Mitarbeiter arbeitet“. Und möglicherweise haben die widersprüchlichen Berichte und Verlautbarungen auch politische Hintergründe, je nachdem, welche Beziehungen die US-Regierung zu Ländern wie Kuba, Russland oder China gerade unterhält.

Eines ist jedenfalls unstrittig – sogar für den CIA-Direktor William Burns:

Our officers have reported very real experiences and suffered very real symptoms — and it is profoundly wrong, and profoundly harmful, to suggest otherwise.

Update vom 29. November 2022

„Havanna-Syndrom: Angriff aus dem Nichts“ im Kriminalpodcast Zeit Verbrechen

Zum Weiterlesen:

  • Havanna-Syndrom: Gefährliche Botschaften, Zeit-Magazin Nr. 27/2022
  • Schlecht Beraten Folge 24: „Das Havanna-Syndrom“ am 4. Juli 2022
  • Hoaxilla #281: „Das Havanna-Syndrom“ am 31. Juli 2021
  • US-Geheimdienste vermuten Energiequelle hinter Fällen von Havanna-Syndrom, spiegel.de am 3. Februar 2022
  • CIA findet natürliche Ursachen für „Havanna-Syndrom“ – aber nicht in allen Fällen, stern.de am 20. Januar 2022
  • CIA hält Havanna-Syndrom nicht für Folge ausländischen Angriffs, Zeit-Online am 20. Januar 2022
  • Geheimnis gelüftet: Was hinter dem „Havanna Syndrom“ wirklich steckt, kurier am 3. Februar 2022
  • Havanna-Syndrom: Die rätselhafte Krankheit hat vermutlich eine psychische Ursache, NZZ am 9. Oktober 2021
  • Review Finds No Answers to Mystery of Havana Syndrome, New York Times am 2. Dezember 2021
  • CIA assesses it’s unlikely Havana syndrome is due to „sustained worldwide campaign“ by a foreign country in interim report, cnn am 20. Januar 2022
  • A Declassified State Department Report Says Microwaves Didn’t Cause “Havana Syndrome”, buzzfeed am 30. September 2021
  • Microwaves Or Ultrasound Might Explain Open „Havana Syndrome“ Cases, US Intelligence Report Says, buzzfeed am 3. Februar 2022
  • Skeptic: Havana Syndrome Skepticism
  • Havana Syndrome: PhACT or Fiction? Skeptical Inquirer am 18. April 2022

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